das wunder der menschlichen sprache

wer hat sich nicht schon gewundert über das instrument, das sich die menschen mit der sprache geschaffen haben!

einmal traf ich eine runde junger leute, die um einen tisch saßen und mich als ihren ehemaligen lehrer begrüßten. drei jahre lang waren sie tag für tag mein gegenüber gewesen, aber unterdessen waren zehn weitere jahre vergangen, und ich kannte sie nicht mehr. so sehr hatten sie sich verändert, oder so sehr hatte sich meine erinnerung verflüchtigt, oder beides. aber in dem moment, als eines nach dem andern seinen namen sagte, fügte sich sein gesicht zu meinem früheren bild von ihm, und ich erkannte sie wieder. so wie die emmaus-jünger, beim brechen des abendbrotes, ihren jesus wiedererkannten.
das wort, der name, schaffte für mich wirklichkeit
, «öffnete» mir die augen. noch nie und nie mehr seither ist mir die kraft der sprache so deutlich in erscheinung getreten.

es wird ja behauptet, das menschliche denken sei ohne die sprache gar nicht möglich. ich teile diese meinung zwar nicht. aber auch ich habe schon oft erlebt, wie mir ein sachverhalt klar wurde, wenn ich ihn zu formulieren begann; wie sich ein gedanke zu bilden begann, wenn ich vor einem weißen papier saß.

mit dem wort ergreife, begreife ich die sache, halte sie fest, wie mit reißnägeln auf dem brett.

dass es daneben eine andere art des denkens gibt - wenn wir es auch denken nennen wollen - darauf will ich vorläufig nur hinweisen.

ich bin versucht zu behaupten: für den menschen ist sprache und leben eins ohne das andere nicht denkbar. selbst der eremit, der sich von dem geschwätz der menschen hinweg begibt und die einsamkeit aufsucht, auch er, nehme ich an, spricht, vielleicht nicht laute worte, aber stille gedanken, sei's mit sich selber oder sei's mit seinem göttlichen dialogpartner.

in der sprache unterscheiden wir uns vom tier. die tiere kennen zwar laute, einige sogar signale: den warnruf der amsel, das bittende miauen der hauskatze. laute und signale, wie wir menschen sie auch brauchen: unsere ausrufe, unsere warnrufe, unser drohendes knurren und schmeichlerisches gurren. aber die eigentliche sprache der wörter, die die welt erfasst mit bestimmten lautgebilden, das ist uns im tierreich nicht begegnet.

(was die sprache der delphine anbetrifft, so könnten uns allerdings kommende erkenntnisse noch eines besseren belehren.)

die frage stellt sich: wer hat dieses instrument erfunden oder entwickelt?

gibt es dazu hinweise? in der mythischen welt der bibel ist auch von der sprache die rede. schon im schöpfungsbericht reden die menschen, kaum sind sie präsent: adam mit eva, die schlange mit den beiden menschen, gott mit adam. leben ist ihnen eingehaucht worden, und schon reden sie auch.

am anfang des johannes-evangeliums stehen die dunklen verse

im anfang war das wort, und das wort war bei gott, und gott war das wort. dieses war im anfang bei gott. alle dinge sind durch dasselbe geworden, und ohne das wort ist auch nicht eines geworden, das geworden ist.

leben und wort sind eins. leben wird durch das wort geschaffen.

die geschichte vom turmbau zu babel, die für die sprache eine große bedeutung hat, sagt auch nichts über ihre entstehung, nur über ihre vielfältigkeit. vermessenheit habe dazu geführt, dass sich die menschen untereinander nicht mehr verstanden, und durch die sprachverwirrung seien sie in alle winde zerstreut worden.

***

wir wollen hier der these von frederik husler1 folgen. demnach hat sich die menschheit die sprache im laufe ihrer entwicklung geschaffen. sie wurde ihr nicht von anbeginn in den mund gelegt. lange zeit existierte der mensch ohne sprache (d.h. ohne sprache im heutigen sinn), und zwar eine viel längere zeit als er seither mit sprache lebt. die menschen jener zeit waren nicht stumm. es war die zeit, da war weinen, lachen und gesang. wir brauchen nicht lange zu suchen. jedes kind verweilt eine zeitlang in diesem zustand. weinen, lachen und gesang. es weint, kaum kommt es an die luft. es lacht, kaum nimmt es sein geliebtes gegenüber wahr. und es singt, sobald seine elementarsten bedürfnisse befriedigt sind und es sich dem wohligen gebrauch seiner stimme hinzugeben beginnt.

wenn wir heutigen erwachsenen menschen kommunizieren, so ist uns vor allem die begriffliche komponente bewusst. erst in letzter zeit sind wir wieder vermehrt aufmerksam geworden auf die nonverbalen formen der kommunikation. denken wir nur an die unbewussten und bewussten elemente der körpersprache.

auch in der sprachlichen kommunikation schwingt viel mehr nonverbales mit, als wir gewöhnlich merken. ich möchte es als die «lautliche» komponente bezeichnen: das was «zwischen den zeilen» übermittelt und wahr genommen wird, bewusst oder - häufiger - unbewusst.

schon als bub wunderte ich mich, wie vielfältig die bedeutung des «wörtleins» mhm sein kann, und ich fragte mich, woran es wohl liege, dass ich verstand, ob meine mutter mhm (ja) oder mhm (nein) meinte.

mhm kann noch viel anderes als ja oder nein heißen. nur einige wenige beispiele:

willst du noch brot? mhm. (ja)
  mhm. (nein)
  mm? (ich weiß nicht recht, ob ich noch nehmen soll.)
komm jetzt endlich! mm! (muss das sein? du regst mich auf.)
hast du honig gern? mm (ja, ja, ziemlich.)
  mm (o ja, sehr.)
     
  hm? (was hast du gesagt?)
  mh! (lass das liegen!)

 

diese varianten mit dem laut mhm sind ein stück nonverbaler kommunikation, ein lautlicher ausdruck ohne worte, und ich möchte es als eine weiterentwicklung des ursprünglichen weinens ansehen.

eine mutter hat aus dem weinen ihres kindes gelernt herauszuhören, ob es in nassen windeln liegt oder ob es hunger hat. sein weinen hat differenzierten laut, und ist trotzdem noch keine sprache. unser ungarischer freund, der schon lange mit seiner familie in der schweiz lebt und geläufig, wenn auch nicht akzentfrei deutsch spricht, hat mir erzählt, wie er mit seiner familie in zürich spaziert sei und wie plötzlich seine halbwüchsige tochter von einem jugendlichen unflätig angesprochen oder gar angefasst worden sei. ganz instinktiv habe er ihn ungarisch - und nicht deutsch - angefahren und zurechtgewiesen, und das mit erfolg. sein deutsch hätte kaum die rechte wirkung gehabt. ein schönes beispiel nonverbaler kommunikation. zwar werden wörter ausgesprochen, mit grammatisch korrekter struktur, aber sie bleiben unverständlich für den zuhörer. sie sind nichts als tonträger jener wesentlichen botschaft, die außerhalb der wortebene liegt.

vermutlich ein großteil unserer alltäglichen kommunikation passiert auf diese weise. wir sagen wörter und sätze - das eigentliche übermittelt der ton. c'est le ton qui fait la musique.

ich habe als bub viel mit pferdegespannen zu tun gehabt und habe diese art kommunikation gepflegt und erlebt, und sie war mir auch bewusst.

es kümmert die zwei tiere da vorn kein bisschen, ob ich sage «tami-namal-jetz-wänder-ächt!» oder ob ich formuliere «eure bisherige leistung entspricht keineswegs meinen erwartungen», aber sie spitzen die ohren und reagieren sehr direkt - nicht auf meine formulierungen, aber auf die dahinter stehenden emotionen.

ich bin versucht, einen kurzen hinweis auf die militärische kommandosprache zu machen. auch dort soll der vorgesetzte die gruppe nicht zu überzeugen versuchen, er soll nicht argumentieren - dazu würde die sprache dienen - sondern wie mit peitschenschlägen soll er ein bestimmtes handeln, ein maschinengleiches reagieren erzwingen. wobei auch hier, wie bei der hundedressur, die wirkung noch größer ist, wenn es ihm gelingt, die untergebenen zu einem freudigen reagieren zu bewegen, zu einer spielerischen hingabe an die suggestion.

die deutschschweizerin rita ist im welschland verheiratet, spricht unterdessen fließend französisch und hat bereits anlaufschwierigkeiten, wenn besuch aus der suisse allemande kommt. aber als sie ihr erstes kindchen in den armen hält, kann sie nur deutsch zu ihm sprechen. das sprechen der mutter mit ihrem säugling ist nicht sprache, es ist gesang.

zwar braucht sie wörter, aber die sind nur tonträger. mit ihren wörtern und sätzen hüllt sie ihr kind in ihr klangbad. (und dieses tönt eben für rita deutsch.)

wie verschieden reagieren wir, wenn wir einem redner zuhören. der eine langweilt, der andere begeistert uns. aber es muss nicht am gesagten liegen. ich kenne einen langweiligen prediger, der packende texte zu schreiben versteht. an der wahl der worte kann es nicht liegen. vielleicht am fehlenden wohlklang der stimme. vielleicht auch nur am tempo seiner rede, die nicht dem denktempo seiner hörerschaft angepasst ist.

es gibt redner, die aufwühlen und anstacheln. ich denke, das habe viel mehr mit der kommunikation des fuhrmanns mit seinen pferden und weniger mit der wortwahl zu tun. hitlers reden gelesen von gerd westphal hätten wohl eine sehr viel andere wirkung erzielt.

reden sind auch ein klangbad und gehören zum bereich gesang. wer gut reden kann, verströmt wohlklang. (wenn er oder sie daneben noch klare gedanken vermittelt, so erhöht das den reiz. dass hitler mit seiner unverwechselbaren diktion auch noch menschenverachtende parolen äußerte, erhöhte das potential der zerstörung.)

die griechen nannten den redner «sänger». rede war nicht prosa, sie war klanglich geordnet in hexametern, einem rhythmischen ablauf von spannung und entspannung.

gleich wie das kind, das allein im sandhaufen sitzt und spielt, seine stimme klingen lässt, mit sich selber selig, so sind auch die mit dem säugling plaudernde mutter und der vor der lauschenden zuhörerschaft seine gedanken tönen lassende redner allesamt nachfahren der menschen jener zeit, als da war weinen, lachen und gesang.

vom weinen und vom singen war die rede. und nun das lachen?

wir lachen über witze. es ist eine pointe, d.h. eine unerwartete wendung, die das lachen auslöst: eine art leichtes erschrecken über die figur, die aus dem hinterhalt auftaucht.

aber nun sei hier von einer andern art des lachens die rede. wenn jugendliche beisammen stehen, und besonders wenn mädchen dabei sind, so befinden sie sich manchmal in einem taumel des gelächters. was auch in die runde geworfen wird, nährt diesen zustand des glücksgefühls, das sich im lachen äußert.

das lachen der jassrunde. das lachen einer ausgelassenen schulklasse. das lachen des liebespaars. kommunikation ohne sprache, und wenn sprache dabei ist, so ist sie nichts weiter als vehikel, tonträger für die übermittlung von emotion.

***

unsere begriffliche sprache, die sprache der wörter mit ihren abgegrenzten bedeutungen (ihren «definitionen»), schwimmt wie ein großes schiff auf dem breiten fluss der nonverbalen lautlichen äußerung. das schiff ist im laufe der jahrtausende immer größer und raffinierter und determinierter geworden, es schwankt immer weniger und macht uns glauben, wir hätten festen boden unter den füßen, und wenn auch unser blick kaum mehr über die reling hinaus reicht: es kann nicht schwimmen ohne den fluss, der da ist «weinen, lachen, singen».


1) frederick husler. das vollkommene instrument. erweckung des neuen bewusstseins. forum 777. belser verlag stuttgart 1970


© alfred vogel, marthalen, quelle: www.alfredvogel.ch