Von Marthalen nach Messina a piedi

1 Ostern

Ich bin noch zu früh. Aber es wird Zeit, dass ich gehe. Täglich fragt mich einer: Bist du noch da? Allzu vielen habe ich von meinem Vorhaben erzählt.

Ich ziehe also los. Verena begleitet mich am ersten Tag. Es ist Ostern. Frühmorgens so um die fünf schließen wir die Haustür ab und gehen durchs verschlafene Dorf. Wir brauchen keine Karte. Wir kennen da die Wege, auch in der weiteren Umgebung.

Im Rucksack trage ich das Nötigste. Mit der feinen Waage habe ich jedes Stück abgewogen. Alles zusammen ist dann trotzdem zu schwer geworden. Acht Kilo. Gut, wenn ich einmal über den Alpen bin, werde ich dies und jenes nicht mehr brauchen, werde es zurücklassen oder heimschicken.

Ein feines Nieseln. Wir gehen unter den Schirmen. Beim Altersheim vorbei, dann über den Bahnübergang, übers offene Feld nach Oerlingen. Alles bestens bekannt. Unter der Autobahn durch, am Weiher mit dem Schilf vorbei, hinüber zum Hausemer See. Ossingen lassen wir links liegen, gehen hinunter an die Thur und dann das steile Weglein hinauf auf die Eisenbahnbrücke. Wie oft sind wir doch früher mit den Schulkindern von Gütighausen über die Ossinger Brücke gewandert, sicher jedes Jahr einmal.

Das Türmchen auf dem Schulhaus, auf dem ehemaligen, ist auszumachen. Schöne, angenehme Pfade und Wege, wir kennen sie. Es geht dem Eisenbahndamm nach. Wir folgen der Bahnlinie, überqueren sie auf der Straße, kommen am Weiher vorbei, an den Siedlungen, aus denen einige unserer einstigen Schüler gekommen sind. Alte Heimat, jedes Haus hat seine Geschichte.

Der Regen hat aufgehört, die Schirme haben wir versorgt. Weites, hügelig gewelltes Land, die Thurebene. Blick hinüber in den Thurgau. Hinter den Bäumen der Fahrhof. Auch dort haben wir einst ein Haus, das zum Verkauf feil stand, besichtigt. Wie anders wäre dann unser Leben verlaufen. Damals konnten wir uns noch vorstellen, so ganz auf dem Land, im kleinen Nest, unser eigenes Nest aufzuschlagen.

Nun kommen wir bereits in die weitere Umgebung, wo wir nicht mehr jeden Bahnübergang kennen, wo wir uns überraschen lassen durch den Lauf der Wege. Der Bahnhof von Sulz ist unser Ziel. Dort werden wir voneinander Abschied nehmen, für manche Woche. Verena tut sich schwer damit. Ich bin sicher, sie wird die schönen Seiten des Alleinseins entdecken und zu schätzen wissen.

Sulz ist in der allgemeinen Richtung bekannt, wir können die Wege nehmen, wie sie sich uns ergeben. Es ist ein angenehmes Wandern, dennoch merken wir nach den paar Stunden doch die müden Beine.

Da gibt’s doch diesen Gasthof, wo wir einmal mit der Schulpflege das Examenessen hatten, gleich neben der Kirche Dinhard. Darauf steuern wir zu. Auf dem Feldweg kommt uns Ursula entgegen. Unser Gespräch dreht sich sogleich um eine aktuelle Geschichte. Eine persönliche Erklärung von Irene Gysel zum Gibson-Film ‚Passion’ hat die Kirchensynode und hat das christliche Volk aufgeschreckt. Ursula bedauert, dass der Kirchenrat als Gesamtbehörde sich nicht mutiger hinter die Aussage seines Mitglieds stellen könne und wieder einmal mehr eine beschwichtigende Sowohl-als-auch-Haltung einnehme, um es allen recht zu machen.

Jesu Tod als Opfertod. Überhaupt das Opfer. Der sündige Mensch verlangt nach einem Sündenbock: nach einer Projektionsfläche für seine dunklen Seiten, für jene Seiten in sich selbst, die er nicht bejahen kann. Der sündige Mensch… Was sind denn eigentlich unsere Sünden? Wie kann die Kirche, die doch von einem Schöpfergott spricht, der „sah, dass alles gut war“, ein solches Wesen machen von unseren Sünden?

Der moderne Mensch, im Gegensatz zum mittelalterlichen, ist nicht so sehr von seinen Sünden geplagt, als vom fehlenden Sinn seines Daseins. Die Angst des Menschen, er könnte unerlöst von seinen Sünden in der Hölle schmoren müssen, ist seinem Gefühl gewichen, er könnte das Leben beenden müssen, ohne zu spüren, wozu er es gelebt habe.

Irene Gysel hat gesagt, Gott brauche kein Opfer. Die Theologie habe sich schon seit mehreren hundert Jahren vom Opferlamm verabschiedet. Und hat damit jenen Christen, die hinten auf dem Auto ihr Fischli kleben haben, einen gehörigen Schrecken eingejagt.

Wir, Verena und ich, wollen uns aber nicht allzu lange hier aufhalten lassen. Denn unterdessen hat sich der Bauch gemeldet, und da wollen wir uns einem Gemüse und einem Stück Lamm oder Fisch widmen, das für uns geopfert worden ist.

Sie haben offen. Dorfwirtschaft am Sonntag vor Mittag. Zwei, drei Gäste am Stammtisch. Bla bla. Zeitvertreib. Wir nehmen uns einen Platz am Fenster, verlangen die Karte und bestellen zunächst einen Aperitif. Das ist ein Signal: Wir haben nicht im Sinn, einen wohlfeilen Tagesteller zu erledigen, sondern wir wollen uns einem ausgewählten Essen hingeben. Und das Signal wird sogleich verstanden. Die Wirtin lässt sich ein in die Beratung über die Möglichkeiten ihrer Küche und in eine differenzierte Bestellung.

Bald werden noch andere Tische besetzt. Sonntagsessen mit Kindern und Großeltern. Die Wirtsstube belebt sich. Es gibt zu sehen und zu hören, es gibt Geschichten. Die Stammgäste sind inzwischen gegangen: ihr Braten wartet zu Hause.

Wir genießen die Zeit vor dem Essen, das Zusammensein im Wissen, dass es lange gehen wird, bis wir das nächste Mal gemeinsam am Tisch sitzen.

Zwei Stunden später sind wir wieder auf den Beinen. Hinten herum, an der Mörsburg vorbei, kommen wir nach Sulz und stehen kurz nach zwei vor dem Bahnhof und vor der Tafel mit den Abfahrtszeiten der Züge und der Busse.

Dann ist es so weit. Wir nehmen Abschied, ich winke dem wegfahrenden Postauto nach, und dann bin ich allein.

Ich hasse lange Abschiede. Die peinlichste Variante: Sie sitzt schon im Zug, das Fenster lässt sich nicht öffnen, ich steh auf dem Perron und mach ein Gesicht, das eine Abfahrtsverspätung von unbekannter Dauer zu überstehen hat.

Kurze Abschiede, schnelle Abschiede.

Nun also allein weiter. Unerlaubterweise im verwaisten Bahnhof über das Geleise und das steile Bord hinauf, über die Straße und hinauf zum Waldrand. Kieswege, hinüber nach Wiesendangen. Bald wieder Häuser, Trottoirs, die katholische Kirche, ein Bau aus den Siebzigerjahren, Parkplätze, am reformierten Pfarrhaus vorbei (d.h. am Haus, in dem der reformierte Pfarrer mit seiner Familie wohnt, wohnen darf, wohnen muss). Hat nicht Wiesendangen so einen Pfarrerstreit hinter sich?

Pfarrers Kind und Müllers Vieh,
die gedeihen selten oder nie.

Die schwierige Situation von Pfarrer- und Lehrerkindern im Dorf. Von ihnen wird vorbildhaftes Verhalten erwartet und von ihren Eltern gekonntes Erziehen. Erdrückende Ansprüche. Das Schwierigste für diese Kinder aber ist die gespaltene Loyalität: der Lehrer muss ja immer in einer gewissen Weise zur Klasse in Opposition stehen – denn er hat Forderungen zu stellen und Regeln durchzusetzen – , sein Kind als Teil der Klasse solidarisiert sich einerseits mit den Klassenkameraden und stellt sich mit ihnen in Gegensatz zu ihm, und andererseits ist er der Vater, also sein Verbündeter, seine Schutzmacht, sein Alter Ego. In diesem Spannungsverhältnis kommt sich das Kind immer etwas falsch vor. Jedenfalls ist die Spannung bedrückend.

Ein paar Schritte weiter. Ich trete in die Kirche ein, sie ist offen, und betrachte wieder einmal die mittelalterlichen Fresken im Chor. Ich blicke hinauf zur Empore, zur Orgel, auf der ich vor Jahrzehnten geübt habe.

Weiter geht’s, über den Berg ins Eulachtal, dann über Räterschen, Riketwil, Kollbrunn an die Töß. Ich habe also das Stadtgebiet von Winterthur, damit auch die Quartierstraßen und Trottoirs gemieden, dafür einige Auf-und-ab auf mich genommen. „Winterthur lässt dennoch grüßen.“

Als ich mich, auf einer Beige von Baumstämmen sitzend, etwas ausruhe, kommen drei Joggerinnen angelaufen. Hoi Alfred! ruft die eine. Ich schaue genauer hin: es ist Rahel, eine frühere Schülerin von mir, die kürzlich die Matur gemacht hat. Die drei Mädchen bleiben stehen und nehmen sich trotz Sport etwas Zeit für ein Gespräch.

Etwas später, als ich aus dem Wald trete, will ich zwei Spaziergängerinnen nach dem Wegverlauf fragen: in der einen erkenne ich Johanna, eine ehemalige Schulpflegerin aus Seen und Mutter eines früheren Schülers. Sie begleitet mich ein Stück weit, bis nach Eidberg hinunter. Weggefährten, von denen ich viele hatte in Winterthur-Seen, wenn ich's recht bedenke.

Etwas später an der Töß, auf dem Uferweg. Da könnte ich stundenlang weitergehen, aber es ist Abend geworden und die Frage, wo ich übernachte, stellt sich.

Ostersonntag Abend. Niemand im Freien, den ich fragen könnte. Doch, ein Hündeler. Wissen Sie mir eine Unterkunft hier in der Nähe? Es tut ihm leid, er weiß nichts. Ich halte einen Mountainbiker auf. Er rät zum ‚Bären’ in Turbenthal. Gut, ich will anfragen und hole mein Handy hervor. Es kommt nur ein Sprechband: Der ‚Bären’ hat über die Osterfesttage geschlossen.

Weiter vorne wartet der Hündeler von vorhin auf mich. Fragen Sie doch beim Siloah, die haben auch Zimmer. Richtig, er meint das christliche Heim an der Straße zwischen Rikon und Turbenthal, jene Häuser mit den biblischen Namen.

Ich mache mich auf den Weg und stehe bald davor. Aber wo ist jetzt am Sonntag Abend ein Büro besetzt, eine Réception? Drei Kinder sind am Spielen, sie führen mich zum Papi, und der kann einem einsamen Pilger tatsächlich ein freies Zimmer zuweisen. Er ist Prediger hier und kennt sogar den Chrischona-Prediger von Marthalen. Ich zahle sogleich die fünfzig Franken, damit ich am Morgen früh weiterziehen kann. Müde bin ich. Eine Wohltat ist die Dusche. Dann unter die Decke. Zum Einschlafen braucht's kein Fernsehprogramm.

2 Zürcher Oberland

Der Wecker im Handy geht um sechs. Ich packe den Rucksack und verlasse leise das Haus. Hinaus in einen kalt-grauen Morgen. Ostermontag. Aber die Vögel pfeifen und die Spechte hämmern, wie wenn Werktag wäre.

Noch kurze Zeit geht’s der Töß entlang, dann zweige ich ab: hinauf und über die Hügel des Zürcher Oberlands, auf und ab, schöne Wege mit gelben Rhomben, „und rücke keinen Finger breit von Gottes Wegen ab“.

Eigentlich hoffe ich bei jedem Dorf auf eine Wirtschaft, wo ich frühstücken könnte, und die Magensäfte fangen an zu wirken, jedes Mal wenn ein Kirchturm sichtbar wird. Es müssten nicht gerade frische Gipfeli sein, an einem Ostermontag, ich hätte gewiss Verständnis. Aber dass an diesem Morgen alle Häuser ‚wo de Herrgott der Arm use hebet’ geschlossen sein müssen, das ist schon irgendwie hart.

Dafür zeigt sich der Vormittag von der helleren Seite, als es frühmorgens den Anschein gemacht hätte. Angenehmes Wanderwetter.

In Pfäffikon sollte doch ein Frühstück zu bekommen sein. Da gibt’s Wirtschaften eine nach der andern, das weiß ich. Aber auch da: eine nach der andern noch geschlossen. Endlich dann doch, vorn beim See, neben der Kirche, im ‚Hecht’: da bekomme ich einen Kaffee. Es ist kurz vor elf. Frühstück, nein, haben wir nicht. Etwas zu essen? Nein, tut uns leid. Aber wenn Sie warten wollen: es gibt Nussgipfel. Und es lohnt sich zu warten. Die besten Nussgipfel, die ich je gegessen habe, noch ofenwarm.

Im ‚Hecht’ ist sogar der General Guisan abgestiegen. Das wird auf Fotos bezeugt, die an der Wand hängen. Beim Verlassen der Wirtschaft bleibe ich davor stehen. Ja, der General Guisan, das war noch eine Figur! Ich erinnere mich, wie sein Bild in jeder Stube hing, fast wie in katholischen Gegenden der Papst. Er hat den Schweizern und Schweizerinnen während des Zweiten Weltkriegs das ersehnte Vertrauen gegeben. Er hat es verstanden, wenig zu sagen und auf diese Weise nichts Falsches zu sagen, und hat mit einigen zeichenhaften Handlungen den Erwartungen der Menschen entsprochen. Wo immer man ihn sieht – auf Fotos – mit gestraffter Brust steht er da und sagt nichts. Kaum jemand weiß, was er beim Rütlirapport geredet hat; aber dass er damals, in den Tagen der größten Gefährdung, die hohen Offiziere an jenen mythosgeladenen Ort beordert hat, das war eine starke und wirkungsvolle Aussage. Vor einigen Jahren kamen seine mehr oder weniger geheimen Vorlieben für eine Staatsform im Sinne von Mussolinis faschistischer Ständerepublik kurz einmal zur Sprache: auch jetzt, nach so vielen Jahren, wurde es nicht zum Thema. Der General: unantastbar, auch heute noch.

Der Weg geht dem See nach, an der restaurierten Ruine des römischen Kastells Irgenhausen vorbei, er durchquert Wetzikon und führt dann durch die schöne, wasserreiche Gegend bei Dürnten, wo die modellierende Gestaltung durch die Gletscher noch offensichtlich ist.

Auf einem Bänklein am Waldrand lasse ich die Füße nun doch etwas ausruhen. Zwei Spaziergänger kommen vorbei, Mann und Frau. Grüezi Herr Vogel. Ich stutze und erkenne dann einen Kollegen aus der Kirchensynode. Kurzes Gespräch. Ich spreche auch ihn auf die Erklärung von Irene Gysel an. Ja, hier im Oberland habe sie eine große Entrüstung ausgelöst. Bei den vielen freikirchlichen Kreisen vor allem habe sie an sicherem Gedankengut gerüttelt. Er verstehe den Kirchenrat, dass er mit einer gemäßigten Erklärung der klaren Stellungnahme ausgewichen sei.

Von jetzt an habe ich die Geographie nicht mehr so gut im Kopf. Die Kantonsgrenze ist überschritten. Die Wanderwegweiser helfen wenig, weil mir die Namen darauf nichts sagen. Ich brauche den Kompass: Ich habe – mit Hilfe der Karte, die am Bahnhof Wetzikon ausgehängt ist – mein Ziel von heute eingegeben: Schmerikon, und ich lasse mich von nun an von der Kompassnadel leiten. Ich habe dort per Telefon ein Hotelzimmer bestellt. Der Weg zieht sich in die Länge. Ich spüre die Beine, das Dorf will nicht kommen. Endlich aber führt der Weg hinab an den See und dann der Autostraße nach noch ein Stück ins Dorf hinein.

Gerade beim Bahnhof befindet sich das Hotel Schiff.

3 Walensee

Schmerikon liegt am obersten Ende des Obersees. Früh am Morgen, beim Verlassen des Wohngebietes, sind kaum noch Leute auf dem Spazierweg. Man folgt einem Fluss, man überquert die Ebene, zwischen Wiesen und Obstbäumen: auf einmal erblicke ich ein großes, weißes Schiff, das durch die Krautäcker gefahren kommt, still durch das grüne Gras dem Zürichsee entgegen gleitet. Ein seltsames Bild. Ich weiß natürlich: da vorn muss der Linthkanal sein. Und dann bin ich auch dort.

Ein gepflegter Kiesweg, und den habe ich jetzt für Stunden, abseits vom Autoverkehr, der nur gelegentlich von weitem zu hören ist. Schnurgerade ziehe ich südostwärts. Die Sonne steigt höher. Die Beine schreiten aus.

Vor mir die weite Ebene. Ein Jahrhundertbauwerk muss das gewesen sein, dieser Kanalbau, mit dem das Wasser aus dem Glarnerland in den Walensee umgeleitet und dann, gezähmt und gereinigt, dem Obersee zugeführt wurde. Für uns, die wir in einer hochzivilisierten Welt leben und uns zurück zur Natur sehnen, nach Artenvielfalt und Schilfgürtel, braucht es aktive Phantasie, um den Triumph jener Zeit nachzuempfinden, wenn es wieder gelungen war, der wilden Natur ein Stück Kulturland zu entreißen. Die ganze Ebene, über die ich schreite: einst, in einer Zeit der Hungersnöte, ein einziger, riesiger Sumpf ohne Ertrag.

Von Weesen aus wären zwei Wege möglich, nämlich zu beiden Seiten des Sees. (Für den dritten, nämlich die Fahrt auf dem See, bin ich noch zu früh im Jahr.) Ich entscheide mich ohne langes Zögern für die Variante den Churfirsten entlang, also für den von mir aus gesehen linken. Denn auf der andern Seite laufen neben dem Wanderweg auch Autostraße, Autobahn und Eisenbahn. Ich freue mich auf den Uferweg, am Fuß der Felsen.

Es kommt aber anders: eine asphaltierte Straße, wenn auch ohne Autos, aber braucht es das? Beim Dorf Betlis geht’s dann auf Kies weiter, aber hoch hinauf und wieder hinab nach Quinten. Dort habe ich ein Bier verdient. Von da aus gibt’s einen Schiffsbetrieb quer über den See. Es gäbe auch eine Unterkunft: in einem schönen Chalet, ein Doppelbett ausdrücklich für Hochzeitsnächte. Ja, da kann einem die Braut nicht abhanden kommen, denn nachts fährt kein Schiff mehr weg, und andere Verkehrswege fehlen.

Es ist ein gewöhnlicher Dienstag, das Zimmer dürfte wohl noch zu haben sein, auch wenn ich ohne Braut daherkomme. Aber der Abend ist noch zu früh, ich will weiter. Ich denke an den Walenstadterberg, einen Kurort, wo es kaum an Unterkünften mangeln sollte.

Der Weg wird schmal und gebirgig, und ich muss wieder 400 Höhenmeter hinauf. Dort oben findet sich dann ein Gasthaus, aber ein allereinziges. Ich bekomme ein einfaches Zimmer, ein üppiges Essen und fürs Auge – und die Geschichten im Kopf – den einzigen Gast des Abends in der Gaststube, außer mir: einen Engländer, der im Kurhaus als Koch arbeitet, aber zur Zeit krank geschrieben ist und wie es scheint noch schnell vorbeigekommen ist, um etwas anderes zu sehen als die vier Wände in seinem Logis.

Ich hätte ihm gern gesagt, auf welcher schottischen Insel wir vor vier Jahren in den Ferien waren, aber der Name will mir nicht einfallen und meine Beschreibungen lassen ihn nicht auf den richtigen Namen kommen. Es ist eine der Alterserscheinungen, dass man solche Gedächtnislücken als Alterserscheinung einordnet. (Unterdessen weiß ich’s wieder: die Insel heißt Arran.) Unser Gespräch findet abwechslungsweise in seinem gebrochenen Deutsch und meinem gebrochenen Englisch statt, und es gelingt mit nicht, herauszufinden, welches der beiden bröckliger ist.

Beladen mit seinem Einkauf an Bierflaschen verlässt er nach einer Stunde die Wirtschaft, und nun hat der Wirt nur noch mich. Er ist ein Zürcher, und er scheint da oben zu leben mit seiner Freundin, die ihm die Küche macht und mir die Rösti. Im Sommer organisiert er Vollmondwanderungen mit anschließender Übernachtung – ich entnehme das einem angeschlagenen Zettel an der Wand –, und er hat in seiner Gaststube die Tische zu einer einzigen langen Tafel zusammengerückt und erklärt mir, er wolle ein Lokal führen, in dem die Menschen wieder miteinander ins Gespräch kämen. Alles sympathische Dinge. Das einzige, was mich stört, ja was mich gründlich verstimmt: dass er mich stets mit ‚Ihr’ anspricht. Immer mehr beobachte ich diese Mode, vorwiegend in Handwerkerkreisen – was im Bernbiet nicht eine Mode, sondern eine alte Tradition ist: in der Ostschweiz hat sie nichts zu suchen. Entweder sagst du mir ‚du’, und ich dir auch, oder dann bitte schön ‚Sie’. Mein Freund Gerold teilt meinen diesbezüglichen Ärger und illustriert es mit jenem Bahnhofvorstand, der seinen Vorgesetzten und seine Kunden mit ‚Sie’ anspricht, seinen Mitarbeiter mit ‚du’, aber den orange gekleideten Rangierarbeiter bloß mit ‚Ihr’.

Es ist noch nicht spät, aber ich will dem Wirt frei geben, und begebe mich zur Ruhe. Neun Stunden bin ich auf den Beinen gewesen.

Ein Zimmer wie vor fünfzig Jahren. Getäferte Wände, Nachttischlämpli, Leintücher und Duvet, Kasten, Etagendusche. Ich bin zufrieden, der Preis ist angemessen-bescheiden.

4 Bad Ragaz

Am Morgen nun wieder 400 Meter hinab. Waldstraßen, bequem, ich brauche nicht zu suchen, die Gedanken können ihre eigenen Wege gehen.

Walenstadt, Kaserne. Hier war ich einmal drei Wochen im Dienst, Schieß-WK. Mit drei verirrten Granaten ist es mir damals ohne besondere Absicht gelungen, meinen Vorgesetzten bei der Vorführung vor versammeltem Rösslispiel Unehre zu machen, und wäre es mir gelungen – falls dazu ein Fünklein Hoffnung bestanden hätte – meine Karriere zum Gefreiten jäh abzubrechen. Ich hatte auf der Höhenskala der Kanone 38 statt 48 eingestellt, und die Staubfontänen, die von allen vier Geschützen vorn im Gelände in schöner Bündelung hätten aufknallen sollen, gefielen sich in überraschender Zerstreuung. Die Demonstration wurde überstürzt abgebrochen, und man schritt eifrig zur Untersuchung der Evasion. Dabei gab es überhaupt nichts zu untersuchen: 38 ist nicht 48.

Links vor mir der Alvier. Aber der Weg, auf dem ich gehe, vom Walenstadter Bahnhof bis Mels, ein markierter Wanderweg, er ist eine Zumutung. Das Militär mit seinem Waffenplatz drängt Camions und Wanderer gleichermaßen so nahe an die Bahnlinie heran, dass ich in die Wiese hinaustreten muss, jedes Mal wenn sich von hinten wieder ein Ungetüm rumpelnd nähert. Von Mels bis Wangs werde ich dann mit der Wegführung wieder versöhnt und von Wangs bis Bad Ragaz sogar richtig beglückt. Der Alvier, drüben bei Sargans, liegt unterdessen bereits hinter mir.

Bad Ragaz. Die reiche Welt der Gründerzeit. Schöne Bauten, auch heute noch – oder wieder – vornehm gepflegt. Ich denke ans Haus Sesemann, an das Heidi aus dem Entwicklungsland Schweiz.

Es ist Mittagszeit, etwas darüber. Ich leiste mir ein gutes Essen, genieße das weiße Tischtuch und nehme mir Zeit.

Dann geht’s an den Aufstieg. Denn ich habe mich entschlossen, mich vom allgemeinen Reisestrom abzusetzen und den Weg über den Kunkelspass zu nehmen. Auf der Karte sieht es nach Abkürzung aus, aber es bedeutet einen zusätzlichen Auf- und Abstieg. Mir ist es recht, von der Blechlawine wegzukommen.

In Valens, in der Wirtschaft, frage ich nach einem Zimmer und werde zu Hobi’s geschickt. Ja, sie nehmen mich auf. Ich bin noch früh dran und stelle fest: es gibt ein Thermalbad. Das wird mir sicher gut tun, denke ich. Und so ist es. Ich habe das ganze große Becken für mich allein.

Herr und Frau Hobi wohnen in ihrem Häuschen mitten im Dorf. Sie helfen dem Sohn, der den Bauernhof betreibt, und vermieten eines ihrer Zimmer, wenn jemand kommt. Ich kann die Abendnachrichten in ihrer Stube schauen, ich treibe etwas Konversation, und ich frage mich dabei: Warum kommt es nicht zu einem richtigen Gespräch? Hat es mit jener Höflichkeit zu tun, dass man den Fremden nicht ausfragt, nicht in ihn dringt, nicht die Nase in Dinge steckt, die einen nichts angehen; man weiß ja auch: um die Lebenssituation zu verstehen, müsste man viel, viel länger miteinander sprechen; und man traut dem andern gar nicht zu, dass er sich überhaupt ernsthaft für mein Leben interessiert. Dennoch ist es schon vorgekommen, dass ich mit völlig fremden Menschen innert fünf Minuten in einem lebhaften Austausch war. Liegt’s nun an meiner wechselnden Stimmung und Verfassung, oder eben doch am jeweiligen Gegenüber?

Eigentlich schade, dass ich die beiden alten Leute nicht direkt ausgefragt habe: meinetwegen zu ihrer Einstellung zu Blocher (einem Reizthema), zu den Ausländern (einem Reizthema), zu den Linken und Intellektuellen. Die höfliche Zurückhaltung des Gastes…

5 Kunkelspass

Der neue Morgen beginnt hell und blau. Zwei Wege bieten sich an: die asphaltierte Straße stetig aufwärts, in weiten Kurven; und der schmalere Fahrweg, ein Kiessträßchen, das zuerst ins Tobel hinunter und weiter hinten im Tal umso steiler wieder in die Höhe führt. Dies ist sicher der strengere, der längere Weg, aber auch der kurzweiligere, also der passende für mich.

Nach einer Stunde komme ich zum hintersten Dorf, Vättis. Da hinauf gibt’s ein Postauto, und ich bin von da aus einmal mit Dorothea drei Stunden seitwärts aufgestiegen und habe das Drachenloch gesucht und gefunden: eine Höhle, in der sie steinzeitliche Spuren gefunden haben, meines Wissens die ältesten in der Schweiz. Kaum vorstellbar war es uns, wie da oben dauerndes Leben möglich gewesen war.

Eine weitere Stunde später komme ich auf die Passhöhe. Da oben liegt noch Schnee an den schattigen Plätzen. Ich sehe die Wirtschaft von weitem und denke an ein währschaftes Mittagessen. Beim Näherkommen wird immer deutlicher: Niemand ist da. An der Tür hängt ein Schild, meldet ‚Winterschlaf’ und ‚dankt fürs Verständnis’. Klar, ich kann nicht die Menschenströme meiden und gleichzeitig erwarten, dass die Wirte auf mich einsamen Wanderer gewartet haben. Ich bin noch zu früh im Jahr.

So bleibt der Aufenthalt da oben kurz. Der Blick hinab ins Bündnerland ist dunstig, die Bise eher kühl, das Gespräch mit einer Bikerin karg. Abstieg.

Tamins am frühen Nachmittag. Zeit, etwas zu essen. Eine Gaststätte wäre offen. Nein, ich will jetzt keine Verlegenheitslösung, ich ziehe weiter. Unten am Rhein komme ich bald nach Reichenau, und gleich bei der Brücke steht das Schlossrestaurant. Vornehm. Ich leiste mir etwas Gutes. Feine Küche. Ein Zweier Riesling. Es hat sich gelohnt, zuzuwarten. Dann suche ich mir draußen ein ruhiges Plätzchen im Gras unter einem Baum und schlafe ein halbes Stündchen.

Der Nachmittag ist schon weit fortgeschritten. Vor mir liegt weit und offen das Domleschg. Es gibt Feldwege zwischen den Wiesen, diese führen aber wieder auf die Autostraße zurück, bei Rhäzüns wage ich einen Abstecher zum Rheinufer hinab, das Weglein wird schmal und schmaler und verliert sich zuletzt im steilen Abhang. Da gibt es tatsächlich noch eine Abfallhalde; wenn ich wieder zu Hause bin, will ich denen einen Brief schreiben.

Unten aber finde ich Wege dem Rhein nach. Einmal eine Brücke auf die andere Seite. Stundenlang auf schönen Kieswegen.

Unterdessen habe ich mir eine Schweizerkarte besorgt. Bei einer Tankstelle kontte ich noch eine leichte Karte von Shell bekommen, veraltet und daher gratis. Was ich zu meiner Orientierung brauche, veraltet nicht so schnell.

Mit dem Handy mache ich ein Gasthaus ausfindig, im Dorf Sils im Domleschg. Ja, sie haben ein Zimmer. Es ist noch aus der Zwischenkriegszeit, was den Standard anbelangt, und das ist mir recht. Es macht mir nichts aus, zum Duschen über den Gang zu gehen, wenn’s nur warmes Wasser und Seife gibt. Und wenn ich dann bald einmal zwischen Leintuch und Decke liege, merke ich vom ganzen übrigen Komfort nicht mehr viel. Eigentlich schade, dass diese einfachen Unterkünfte immer seltener werden.

6 Der Alte Schyn

Schweizerisches Frühstück. Schon um halb sieben, kein Problem. Brot, Butter, Konfitüre, ein Stück Käse. Währschaft. Und Filterkaffee. Wenn ich im Bahnhof Winterthur stehe und ‚Mailand’ lese, dann löst das bei mir Lust aus auf einen italienschen Espresso, wie er bei uns nicht zu haben ist.

Es gibt einen schönen alten Weg, der von Sils aus auf die Lenzerheide hinauf führt, ganz abseits vom heutigen Verkehr: der Alte Schyn. Steil geht’s, nachdem der Fluss Albula überquert ist, hinauf in die Höhe, dort den senkrechten Felsen entlang, manchmal durch Tunnels, dann komme ich nach einiger Zeit in die Bergdörfer, Muldein, Lain, Zorten und wie sie alle heißen, und gehe dann aber nicht Richtung Lenzerheide weiter, sondern steige wieder hinab nach Tiefencastel, das ich weit unten im Tal liegen sehe.

Vorher aber kehre ich in der einzigen Wirtschaft da oben ein, das ist das Junkerhaus: ein alter, ehrwürdiger Bau an schönster Lage; dicke Mauern, kleine Fenster. Und was ich zu essen bestelle und bekomme, ist ein wahrer Genuss, nämlich Capuns.

Ich habe mir angewöhnt, keinen Proviant mitzutragen. So gerate ich nicht in Versuchung, ständig auf dem Weg etwas Kleines nachzuschoppen, und spare mir damit den Appetit auf für die Werke der Köche am Weg. Gewiss, manchmal ist eben niemand am Weg, der auf meine Bestellung gewartet hat, und dann muss halt der Hunger ausgehalten werden.

Die Köche und die Wirtinnen schätzen mich. Das mag zum Teil gewiss am Inhalt meiner Gesäßtasche liegen, aber, wie ich meine, auch am freudigen Zupacken und Genießen. Ja, es ist eine Vielfalt an kulinarischen Überraschungen, die es bereits zwischen Marthalen und Tiefencastel zu erleben gibt.

Von der Wirtin will ich wissen, was ‚der alte Schyn’ heiße. Sie weiß es auch nicht, aber sie freut sich an meinem Interesse und bringt mir ein Buch, das mich dann längere Zeit beschäftigt: das Wörterbuch der Vazschen Umgangssprache auf dem Stand von 1900. Darin finde ich die Erklärung: ‚Schyn’ ist der Name der Schlucht zwischen Thusis und Tiefencastel.

Das Gras ist noch nicht hoch, ich kann weite Strecken querfeldein absteigen. Unten gelange ich auf eine autoreiche Straße, verlasse sie aber kurz darauf wieder und folge einem Wegweiser zur Kirche ‚Mistail’. Eine dieser Überraschungen, die man nur erlebt, wenn man unvorbereitet auf die Reise geht. Auf die Gefahr hin allerdings, dass man Dreisternobjekte um zwei Schritte verpasst. Davor hat mich nun aber ein unübersehbarer Wegweiser bewahrt.

Hinten in einer Nische am Fluss, neben einem einzigen Haus, liegt diese Kirche aus dem 8. Jahrhundert: St. Peter in Mistail, allein und abseits, und Hühner und ein Gockel spazieren um die Mauern.

Ein hoher quadratischer, einfacher Raum mit drei Absiden: ein hoher steinerner Turm mit Spitzhelm. Wie ich später erfahre, gehört die Kirche zu den bedeutendsten romanischen Bauten der Schweiz. Noch nie davon gehört.

Dem Flüsschen folgend komme ich nach Tiefencastel, halte mich nicht auf und steige auf nach Mon. Vorn auf einem Sporn steht wiederum eine alte Kirche – sie ist leider zu. Mitten im Dorf eine weitere Kirche, etwas weniger alt, schön herausgeputzt, leider auch zu.

Eine Unterkunft gebe es hier nicht. Einzig ein Privatzimmer wäre zu haben, wenn dort nicht für morgen Abend bereits Gäste angemeldet wären… Es gibt nichts, ich muss weiter. Und aufwärts geht’s. Nochmals eine Stunde oder zwei.

Im nächsten Ort namens Salouf oder Salux – wir sind im romanisch-sprachigen Gebiet, nichts ist fest, sogar Ortsnamen haben verschiedenen Sprachlaut – da steht ein Hotel: bonziger Neubau, luxuriöse Eingangshalle, großer Parkplatz. Ich frage – und es sind noch Zimmer frei, allerdings zu einem Preis, wie ich ihn sonst nicht zu zahlen pflege. Aber was soll’s, das nächste Hotel unten im Dorf, ich weiß ja nicht, ob sie dort offen haben, ob sie für mich Platz hätten… ich sage zu. Zudem sind im Preis auch die Sauna und das Schwimmbad inbegriffen. Wenn ich also vom Preis die zwanzig Franken abrechne, so habe ich nicht zu viel bezahlt.

Die Sauna genieße ich, auch das Hallenbad, das ich ganz allein für mich habe. Im Restaurant bin ich nachher ebenfalls allein, vor meinem Glas Maienfelder. Ich bin auch der einzige Frühstücksgast für den andern Morgen, und damit nicht für mich allein eine Angestellte herbestellt werden muss, komme ich der Wirtin gerne entgegen und lasse mich in die Geheimnisse der Kaffeemaschine und des Kühlschranks einweihen, so dass sie das Frühstück vertrauensvoll mir selber überlassen kann.

Nach dem Schlummertrunk begebe ich mich aufs Zimmer – es ist noch früh am Abend – und will mich im Fernsehen umschauen. Aber die Tagesaktualitäten haben schon an Interesse verloren, es langweilt mich, und so gibt es nichts Schöneres: ich lasse mich in den Schlaf sinken.

7 Oberhalbstein

Ich befinde mich hoch oben, unten liegt das Tal der Julia, liegt Savognin. Nach meinem selbsttätigen Frühstück verlasse ich das Haus kurz nach acht und wandere südwärts, möglichst auf gleicher Höhe bleibend. Es sind Asphaltsträßchen, die von Dorf zu Dorf führen, oft in vielen Kurven.

Eine weitere sehenswerte Kirche – und diesmal ist sie nicht zugesperrt – ist San Niclò in Parsonz. Dann geht’s über die Wiesen hinab nach Savognin. Ein unschöner Anblick von da oben. Alpenlandschaft, dem Tourismus zuliebe mit Hotelkästen und riesigen Appartementhäusern verschandelt, demnächst für den Tourismus nicht mehr brauchbar. Der Schnee ist geschmolzen, die Anpassungen des Terrains für die Bedürfnisse der Skifahrer unübersichtbar.

Der Julia entlang geht’s auf bequemen Wegen, dem Wasserlauf entgegen, bis nach Rona – ein Stück davon soll sogar der alte Römerweg sein – dann aber ist ein Fortsetzung auf Wanderwegen nicht mehr möglich; sie sind noch verschneit, denn sie führen über die Höhe. So bleibt mir auf dem letzten Stück nur die Straße, und das ist ein rechtes Martyrium. Es ist Samstag, der Verkehr ist ‚belebt’, und „Wirtschaftsaufschwung!“ brummen die Lastwagen.

Um vier komme ich endlich in Bivio an, früh genug, um mir Zeit zu nehmen, das beste Hotel auszusuchen. Denn ich erwarte Verena: das Wochenende wollen wir gemeinsam verbringen, morgen ist unser Hochzeitstag.

Die Wahl ist bald getroffen. Etwas abseits von der Hauptstraße, das Dorf überblickend, steht das Hotel Solaria, und ich habe Glück: sie haben uns auch noch ein Zimmer. Ein schönes Zimmer, mit zwei Räumen und einem Balkon. Um halb sechs wird sie mit dem Postauto ankommen.

*

Verena steigt wirklich aus dem Postauto. Am Zimmer hat sie auch Freude. Von unserem Hochzeitstag soll hier nicht die Rede sein.

Am Abend ist im Dorf die letzte Vorstellung eines Theaters, das die Leute im Dorf geben, in der Turnhalle von Bivio. Auch im Hotel ist die Rede davon. Der Wirt spielt mit, seine Tochter ebenfalls, und sie besorgt mir die zwei Karten für uns.

Sechsmal haben sie es bereits gespielt, und auch zur heutigen Dernière sind die Plätze alle besetzt. Man geht hin. Wir stellen uns hinten an, als wir die Karten abholen. Alles kennt sich. Gruß- und Scherzworte hin und her. Im Saal Geramschel und Stühlerücken. Wenn wir nur unsere zwei Plätze haben.

Volkstheater von der besten Sorte. Das Stück bewegt sich in den gewohnten Bahnen. Das Publikum sieht alles und weiß alles, mehr als die Personen auf der Bühne, die durch die diversen Türen kommen und gehen und wieder kommen. Viel Witz.

8 Bivio

Wie gesagt, nichts hier über unseren Hochzeitstag. Der Blick hinauf an die Hänge bestätigt, was wir bereits wissen: der Weg über den Septimerpass ist kein Thema. Zu hoch liegt da oben noch Schnee. Ich bin zu früh im Jahr auf meiner Reise. Mitte April. Als wir damals unser Hochzeitsfest ansetzten, hieß es, in dieser Jahreszeit sei es unmöglich, auf dem offenen Pferdewagen über Land fahren zu wollen. Es war dann aber damals so warm, und der Himmel so strahlend blau, dass der Brautführer mit einem Sonnenstich vom Fest gehen musste und die Brautjungfer mit dem Pfarrer zu tanzen hatte. Was ihr auch recht war.

Dolce far niente. Spaziergang durchs Dorf. Bivio, ein ‚Zweiweg’. Am Nachmittag, zurück im Hotel, große Bestürzung. Was ist passiert? Alle bewegen sich stumm; das Personal tut seine Arbeit wortlos. Langsam vernehmen wir es: der Sohn des Hauses ist mit seinem Snowboard verunglückt. Draußen landet ein Helikopter. Später fragen wir nach. „Das Schlimmste ist passiert. Es war ihm nicht mehr zu helfen.“

So haben wir in diesen zwei Tagen hier beides miterlebt, ausgelassene Fröhlichkeit und Freude über den Abschluss des gelungenen Theaterprojekts, und Trauer über den plötzlich hereingebrochenen Tod.

9 Julierpass

Nach dem Abschied auf dem Postplatz mache ich mich auf den Weg. Es geht also über den Julier, und es ist zu erwarten, dass ich auf der stark befahrenen Julierstraße gehen muss. Beidseits der Straße liegt Schnee.

Es gibt nichts anderes. Einmal versuche ich, eine lange Kurve abzukürzen. Stellenweise trägt die Schneedecke, dann wieder sinke ich tief ein. Unmöglich. Ich muss mich drein schicken. Was sind schon die paar Stunden am Straßenrand im Vergleich mit der ganzen Reise, denke ich. Und es wird nicht das letzte Mal sein.

Der Himmel ist verhangen und verdüstert sich zusehends. Und nun beginnt es auch noch zu schneien. Nasses, schweres Geflocke. Ich hoffe, ich komme über den Pass, bevor ich auch auf der Straße noch Schnee zu stampfen habe. Stetig und zügig marschiere ich am linken Straßenrand.

Und dann plötzlich ein Stich in der linken Wade. Ohne irgendwelchen Anlass. Was ist das? Ich habe auch früher schon einmal Schmerzen im Fuß gehabt, eine Sehnenscheidenentzündung an der Achillessehne; dies aber ist eine andere Art von Schmerz, und vor allem den plötzlichen Überfall kann ich nicht verstehen.

Vielleicht vergeht es wieder. Jedenfalls muss ich weiter. Auf der Seitenbank, wo eine dünne Schneeschicht den Tritt abfedert, lässt es sich etwas besser gehen. Und dann merke ich: Wenn ich in der Art der alten Männer joggend laufe, schmerzt es weniger. Die Muskeln werden auf eine andere Art beansprucht. Nur ist es überaus mühsam, mit dem Rucksack am Rücken bergauf Laufschritt zu machen, und ich kann damit nicht lange durchhalten.

Der nasse Schnee fällt stärker, und ein bissiger Wind fängt an zu blasen. Zum Glück von Norden, also in meinem Rücken.

Ich gebe kein freudiges Bild ab, wie ich da auf der Julierstraße hinauf humple. Und es zieht sich sehr in die Länge. Neben mir Autokolonnen in beiden Richtungen. Immer wieder auch ein Gefährt, dessen Reifen den Verhältnissen nicht gewachsen sind und stecken bleibt, an den Rand gestoßen werden muss… Ich lasse mich nicht aufhalten, erreiche endlich die Passhöhe und eile weiter. Abwärts geht es ein bisschen leichter. Der Schmerz in der Wade beginnt sich zu normalisieren.

Kurz vor Silvaplana findet sich dann ein Wanderweg, der die Haarnadelkurven abschneidet, ein schmaler Fußpfad, der zwar auch verschneit, aber gut mit gelben Rhomben bezeichnet ist. Um zwei am frühen Nachmittag komme ich ins Dorf hinunter, völlig durchnässt vom Schnee, und mache es mir in der ersten Wirtschaft so gut es geht behaglich. Australien ist das Motto des Lokals.

Nach dem Essen – ich habe um die Känguruhschnitzel herum einen Bogen gemacht – geht’s wieder hinaus in die immer noch graue Welt des Engadins. Der Regen hat aufgehört.

Welchen Weg soll ich nehmen: Über den Malojapass ins Bergell, oder über die Bernina ins Puschlav hinunter? Zunächst überquere ich erst mal das Tal und will dort drüben, in Surlej, eine Unterkunft suchen. Gar nicht so einfach. Die Wintersaison ist vorbei, die Sommersaison hat noch nicht begonnen, zudem hat’s hier vorwiegend Ferienwohnungen und gar nicht, wie ich mir vorgestellt hatte, ein Hotel am andern. Und so muss ich mich – nach längerem Herumirren in den menschenleeren Quartierstraßen – nicht lange besinnen, als ich endlich vor einem Hotel stehe, und frage nach einem Zimmer.

Das Haus ist über meinen gewohnten Verhältnissen, preislich, aber was soll’s. Ich genieße die Sauna, ich genieße das vornehme Nachtessen und das weiche Bett. Und ich weiß immer noch nicht, ob ich am andern Tag links oder rechts gehen soll. Vor allem bin ich gespannt, wie’s mit meinem Bein dann geht.

10 Malojapass

Die Hotelgäste sitzen zum Essen in der Glasveranda mit Blick gegen Westen. Am Morgen ist der Himmel strahlend blau und das Land frisch eingeschneit. Ich habe länger geschlafen als sonst, mein Bein ist etwas besser, aber noch lange nicht gut. Wie soll’s weiter gehen? Muss ich jetzt schon umkehren, aufgeben?

Nach dem Frühstück versuch ich’s. Der Entscheid ist unterdessen gefallen. Über die Bernina gibt’s eine Bahn, ob aber die Straße offen ist, weiß ich nicht. Zudem ist die Fortsetzung nach dem Veltlin ungewiss. Die Wege über die Gebirgshöhen sind mir noch versperrt, und die Wege in den Tälern verlaufen sämtliche Ost-West. Auf der andern Seite ist die Malojastraße sicher offen. Weiter im Süden kann ich dann der Adda folgen. Und entscheidend ist, dass ich auf dem Comersee ein weites Stück mit dem Schiff fahren darf. Denn Schiffe sind für Pilger zugelassen, jedenfalls für die begüterten unter ihnen, und gehöre ich etwa da nicht dazu?

Gibt es auf dem Comersee so früh im Jahr überhaupt schon Schiffskurse? So sicher ist das gar nicht. Das Telefon hilft: Klaus und Conny haben sich für mich im Hinternett erkundigt und sogar die Abfahrtszeiten herausgefragt. Gut, dann also westwärts, das Oberengadin hinauf Richtung Maloja.

Der Weg am linken Seeufer (von mir aus gesehen) ist nicht gepfadet, aber begangen. Trittspuren im Schnee zeigen mir den Verlauf. Schönste, verzauberte Winterlandschaft, in der Gegend, wo Nietzsche seine Wege gegangen ist.

Mein Bein scheint die Schritte auf dem weichen Schnee zu mögen. Es tut anständig. Es lässt mich zwar stets merken, dass es da ist, aber es lässt mich laufen.

Es geht dem Ufer nach. Links neben mir steigt der Wald steil an. Einmal, in einem Sommer vor über vierzig Jahren, bin ich diesen Weg gegangen: hinter mir her schritt ein Wesen, dessen Liebe ich gerne gewonnen hätte, und sie sprach baseldeutsch. Welch zauberhafte Sprache… ein Dialekt, den ich zuvor nicht hatte ausstehen können.

Irgendwo scheint es eine Gemeindegrenze zu geben, denn von da an ist der Weg von einem Ratraque hergerichtet. Das schlechte Gewissen beschleicht mich Fußgänger, weil ich den Langläufern die jungfräuliche Spur verderbe.

Bei einem Bauernhaus stehen mehrere Esel herum und eine Frau arbeitet mit Besen und Mistgabel. Esel. Immer noch habe ich die Fantasie im Kopf, einen Esel zu kaufen, auf Zeit, der mich begleitet und mein Gepäck trägt. Aber was mache ich mit ihm in Kalabrien? Wie finde ich wieder einen interessierten Abnehmer? Wie viel kostet ein Esel überhaupt? Und könnte ich mich vom Tier dann einfach wieder trennen, nach vier Monaten?

Die Frau findet meine Idee nicht so abwegig. Esel seien recht anspruchslose Tiere. Sie hat Erfahrung mit langen Wanderungen mit ihren Eseln. Man sei, sagt sie, jedenfalls eine Attraktion, wenn man mit dem Esel komme. Futter sei immer irgendwie aufzutreiben. Andererseits sei man schon eingeschränkt und müsse sich oft nach den Tieren richten.

Lassen wir zuerst mal Italien auf uns zukommen, denke ich. Ob’s dort überhaupt noch Esel gibt? Ich stapfe weiter im hellen Sonnenschein.

Mittags oder kurz darnach bin ich in Maloja. Ich kenne den Ort von früher. Ein Restaurant am andern. An den ersten beiden gehe ich vorbei, am liebsten würde ich dort essen, wo ich einmal drei Tage zum Skifahren logiert habe. Aber wie ich dort bin: Betriebsferien. Und von nun an weiter nichts mehr anderes als ‚geschlossen von bis’.

Auf einem Bänklein mache ich Rast, trinke mein Wasserfläschchen leer. Da gibt’s doch hinten im Wald eine Burg, hart an der Kante, und von dort aus einen Wanderweg hinab nach Casaccia. Vergiss es, in diesem Schnee. Der Weg ist nicht begehbar. Ich muss mich schon mit der Straße begnügen. Weite Kehren geht’s hinunter. Manchmal siehst du die Fahrbahn fünf- und sechsmal unter dir. Langsam schleichen Lastwagen mit großem Gebrumm, beladen mit Kies, die steile Wand hinauf. Und andere, mit mächtigen Felsbrocken beladen, fahren talwärts.

Da muss schon was dran sein an diesen Steinen, dass sie dort diese und da jene haben wollen. Genau diese und nicht etwas ähnliches. Ich denke an jenen Einkauf: wir standen mit der Schulklasse vor einem Volgladen. Wer kommt und hilft Picknick einkaufen? Carla meldete sich. Gut, wir brauchen noch Pommes chips, sagte ich, suchst du sie? Schon war Carla draußen bei den andern Kindern vor dem Laden: Wer möchte die mit Paprika? Wer mit Pfeffer? Und wer die gewöhnlichen?

Es reicht nicht, dass ein Auto von der Post in der Gegend herum fährt und die Pakete verteilt. Es gibt unterdessen drei oder vier internationale Gesellschaften, die sich hinterher fahren und alle die gleiche Arbeit tun, einfach eine Spur billiger, wegen dem Konkurrenzdruck. Dass wir aber die Mehrkosten anderswie berappen (befranken, be-euro-en), das scheint niemand zu merken.

Weiter unten lässt der Schnee nach, ich kann auf dem Wanderweg, parallel zur Straße, gehen. In Casaccia freue ich mich aufs Restaurant ‚Stampa’, da habe ich einige Male gut gegessen. Ebenfalls geschlossen. Auch der Laden ist um diese Zeit zu. Dann eben weiter. Zum Glück auf einem Feldweg. Am Ende des Dorfes kommen mir zwei junge Leute entgegen, und sie wissen von einem einfachen Hotel, etwa eine Stunde von da, an der Straße.

Ja, dort bekomme ich ein Zimmer, dort gibt’s zu essen, gibt’s eine Terrasse. Schön.

11 Über die Landesgrenze

Im Bergell ist der Schnee, unten im Tal, weggeschmolzen, sind die Wanderwege begehbar. Ich kann mich die meiste Zeit von der Straße, wenn auch nicht ganz vom Autolärm, befreien.

Um die Mittagszeit überschreite ich die Grenze, Wanderer mit Rucksack, und bleibe unbehelligt von den Zöllnern. Buon giorno.

Zwei Tage habe ich gebraucht, um aus dem Kanton Zürich, und zehn Tage, um aus der Schweiz herauszukommen (wenn ich den Ruhetag in Bivio nicht zähle). Nun bin ich also in Italien.

Immer noch gibt’s Wanderwege, wenn auch nicht mehr mit den wohlbekannten gelben Wegweisern. Hier sind es silbergraue Metalltafeln mit genauen Zeit- und Kilometerangaben. Es ist ein alter Saumpfad, zwischen Steinmauern in schön geschwungener Weise den Wald hinab geführt. Darauf komme ich in den Talboden und in die Nähe der Stadt. Asphaltsträßchen, aber immer noch abseits vom Hauptverkehrsstrom.

Mein Bein meldet sich rabiat. Der Einmarsch in die Stadt geschieht unrühmlich, humpelnd. Ich frage mich zu einem Hotel durch, und wenn es auch nicht nach meinem Gusto ist – ein moderner Kasten neben dem Stadttor: ich bin zu erschöpft, um mich wählerisch noch weiter umzusehen.

*

Wenn ich mich als Pilger verstehe, so ist das zunächst einfach einmal die einfachste Erklärung auf die Frage, weshalb ich mir denn die Mühe machen wolle, eine solche Reise zu Fuß zu unternehmen. Wer sich in Frankreich oder Italien außerhalb der Ortschaften zu Fuß bewegt, ist eine Ausnahmeerscheinung. Che cosa fai qui? Als Pilger nach Rom (oder in Frankreich nach Lourdes) können dich die Zeitgenossen einreihen.

Nachdem mir einmal eine Frau auf ihrem Bauernhof ein Glas Nostrano angeboten hatte, auf meine Bitte um etwas Wasser, stellte sie mir auch diese Frage und wollte dann wissen, weshalb ich denn diese Pilgerreise mache. Meine damaligen spärlichen Italienschkenntnisse schienen mir nicht auszureichen für eine differenzierte Antwort, und ich sagte: È difficile a dire. Darauf sagte sie zur Nachbarin, die neben ihr auf der Veranda saß: Ah, è difficile a dire! und fragte nicht weiter nach den entsprechenden Sünden. Alles klar.

Aber es ist schon so eine Sache mit dem Pilgern. Du nimmst dich aus dem Leben heraus, mit all den Ansprüchen, den täglichen und stündlichen Terminen deiner Agenda, den oft parallel nebeneinander herlaufenden Forderungen des Berufs und der Familie, und widmest dich einer einzigen Aufgabe: dem nächsten Schritt. Kommst du an eine Weggabelung, so schaust du auf die Sonne: welcher Weg entspricht eher meiner Richtung? Du schaust auf das Gelände: welcher Weg führt mich bequemer weiter? Und oft sind es irrationale Gründe, die dich zum einen der beiden Wege hinziehen. Hast du eine Stunde Asphalt unter den Füßen gehabt und gar noch zwei laufende Autokolonnen neben dir, dann bist du reif, dich in die Büsche zu schlagen und einen wilden, eigenen Weg zu suchen. Und bist du daraufhin zwei Stunden in Gestrüpp und Dornen an Armen und Beinen zerkratzt kaum weiter gekommen, so bist du wieder reif für die glatte Straße. Zeigt sich aber, weit abseits von Motorengebrumm, ein lauschiger Wald- und Wiesenpfad oder eine einsame Strada bianca (oder wie wir sagen eine Naturstraße), und erst noch in südlicher oder südöstlicher Richtung, dann hüpft dein Herz vor Freude. Geht’s bergan, schwitzest du, und geht’s bergab, singst du, und du fragst dich nur noch, welches von den beiden das schönere ist.

Gewiss, auch in Italien gibt’s fast allerorten Buslinien, wenn sie auch seltener befahren sind als bei uns in der Schweiz. Aber als Pilger bist du gut beraten, diese zu meiden. Denn wer einmal damit anfängt, der Müdigkeit nachzugeben, und sich darauf einlässt, in diesen Fällen auf den Bus zu warten, der merkt auf einmal, dass sich diese Frage ständig zu stellen beginnt. Die Willensstärke aufzubringen, die nächsten zwanzig Kilometer nicht mit dem Fahrzeug hinter sich zu bringen, ist sehr viel anspruchsvoller, als ein für allemal sich zu sagen: Jeden Schritt zu Fuß.

Meine schönsten Wege in der Emilia-Romagna sind auch deshalb so schön, weil ich zuvor Stunden am Rand von mühseligen Autostraßen gegangen bin. Ganz im Sinne des Ausspruchs vom Haldensepp: Heute habe ich meinem Hund eine große Freude gemacht; zuerst habe ich ihn jämmerlich durchgehauen, und dann… habe ich aufgehört.

Der Tag des Pilgers beginnt am Morgen mit der aufgehenden Sonne. Er endet am Abend, wenn die Sonne im Westen untergeht. Und die ganze Zeit tragen dich die Beine weiter. Blickst du zurück von einer Erhebung, so kannst du es kaum glauben, dass du schon so weit gekommen bist, und weit vor dir siehst du die blauen Hügel am Horizont und einen Campanile und staunst selber, dass du in zwei, drei Stunden bereits dort bist.

Sorgen um die Unterkunft brauchst du dir keine zu machen, denn du hast ja deinen Schlafsack bei dir, und Sorgen um die Verpflegung kannst du dir auch ersparen, falls du geübt bist, auch einmal etwas zu hungern, denn irgendwann am Weg findet sich eine Verkaufsstelle, und das Panino ist erst noch besser, wenn es ersehnt worden ist.

O schau, dort vorn, ein Campanile!
Ich näh’re mich erwünschtem Ziele,
es kommt ein Dorf, gar eine Stadt,
die sicher drei Buchstaben hat:
O nein, ich meine nicht den DOM,
Museum nicht und Aerodrom -
das schönste an dem Ort, fürwahr,
das ist die Piazza mit der BAR.

12 Chiavenna

Am andern Tag ziehe ich um. Ich muss meinem Bein Ruhe gönnen und will drei Tage hier in Chiavenna bleiben. Eine schöne Stadt: umgeben von Alpenriesen liegt sie im flachen Tal, dort wo das Bergell und das Val Giaccomo, das vom Splügen herunter kommt, sich vereinigen. Die Häuser zeigen jahrhundertealten Wohlstand, die Hauptgasse, der Corso, weitet sich immer wieder zu offenen Plätzen, und abseits vom pulsierenden Geschäftsleben finden sich auch stille Ecken und Höfe, wo man, beim Espresso sitzend, die Schatten wandern lassen kann.

Ich habe im oberen Teil der Stadt, an einer Nebengasse, in einem kleinen Familienhotel, im ‚Flora’, ein Zimmer im dritten Stock gefunden, die Nummer 320, mit Blick auf die Schule, auf einen Kirchturm, auf den Berghang hinüber. Ich habe einen Tisch, den ich ans Fenster rücke, und nehme von da oben am täglichen Schauspiel teil.

Aus der telefonischen Besprechung mit meinem Arzt zu Hause resultiert eine Bestellung, mit der ich in die Apotheke gehe. Ein weißhaariger Herr, il dottore, bedient mich und reicht mir die Salbe und die Pillen, welche letzteren ich ‚dopo pasta’ nehmen solle, und ich mache ein fragendes Gesicht, weil ich nicht verstehen kann, warum ich die Pillen nach der Salbe zu nehmen habe, worauf er die Erklärung nachliefert: dopo mangiare. Aha, ‚pasta’ als Synonym für Essen schlechthin. Tatsächlich, auch ich, wenn ich im ristorante esse, beschränke mich meistens auf das ‚primo’, lasse das ‚secondo’ aus und nehme stattdessen noch einen Salat. In der ‚pasta’ sind sie Meister, und es gibt denn auch in den Verkaufsregalen gewiss zehn verschiedene Sorten von Spaghetti, und bis ich auf den Speisekarten die Namen der verschiedenen Teigwaren kenne, könnte es Jahre dauern.

13 Telefonino

Der Tag ist dem Flanieren und Lesen und Kaffeetrinken gewidmet. Die Sonne ist auch dabei.

Am Nachmittag suche ich einen Mobiltelefonladen auf. Ich will mir eine italienische Handynummer geben lassen, weil ich gehört habe, das lohne sich.

Der Siegeszug dieses kleinen Gerätleins ist beeindruckend. Mindestens jede zweite Person scheint eins zu besitzen. Auf der Straße gehen sie mit der Hand am Ohr, im Auto sitzen sie in dieser Stellung und am Bistrotischchen; aber ich muss zugeben: die allermeisten haben dabei einen heiteren, ja oft einen fröhlichen Ausdruck im Gesicht. Was sollen wir denn noch dagegen haben?

Von den gesundheitlichen Schäden wird viel geredet. Die Anwohner von Mobilfunkantennen machen mobil. Aber sie benützen den Dienst ja auch, wenn wir der Statistik glauben dürfen. Alle wollen telefonieren, und niemand will die Antennen. Mit so vielen Dingen ist’s so. Die Mütter bringen ihre Kinder mit dem Auto zur Schule, aus Angst vor dem zunehmenden Straßenverkehr.

Ich habe nun also eine italienische Nummer und kann jederzeit gratis, bei der Auskunft über mein Gesprächsguthaben, mir deutsch und deutlich sagen lassen: „Wir wünschen Ihnen noch einen guten Tag“, und am Abend sagt die Stimme: „Wir wünschen Ihnen einen schönen Abend.“

Der Aufenthalt in Chiavenna geht zu Ende. Ich gehe früh zu Bett, weil ich mich am nächsten Morgen zeitig auf den Weg machen will. Wenn nur das Bein auch will.

14 Zum Comersee

Schon vor sechs gehe ich durch den menschenleeren Corso talauswärts, schreite durch das Tor hinaus, neben meinem ersten Hotel vorbei, und bin dann auf der Ausfallstraße. Es wird eine Weile dauern, bis ich aus der Ortschaft heraus bin und die Straße verlassen kann. Der Verkehr ist schon emsig, und das kommt mir zugut, indem bereits eine Bar offen ist. Einen caffè doppio und frische cornetti, gefüllt mit marmellata oder crema oder neuerdings mit Nutella. Damit bin ich gesättigt, wenn’s sein muss für den ganzen Tag.

Meine Schritte setze ich sorgfältig. Das Bein tut passabel. Und ich halte Ausschau, zwischen den Häusern und Gärten, nach einer Stelle, wo ich die Straße verlassen kann. Etwa einen halben Kilometer weiter unten, rechter Hand, muss der Fluss sein, der die Wasser vom Splügen herab und jene aus dem Bergell vereinigt und zum Comersee führt, die Mera. Das Gras auf den Wiesen ist noch nicht hoch, ich quere die ebenen Felder und bin dann auf dem Damm. Ein Grasweg, darauf geht es sich bequem und zügig.

Rast auf den Steinen am Fluss. „Vom Wasser haben wir's gelernt, vom Wasser.“ Lieber würde ich nicht Pause machen und auch weiterziehn, aber ich will mein Bein nicht vergessen und ihm etwas Ruhe gönnen. Es ist zu spüren, aber wenn’s so bleibt, will ich zufrieden sein. Ich hole die Flöte aus dem Rucksack und probiere aus, was für Töne mir in die Finger kommen. So ist die Stunde strukturiert.

Irgendwann im Weitergehen überquere ich einmal eine der Brücken und folge nun dem rechten Ufer, auch da auf ländlichen Wiesenwegen, durch Auengehölz, dann auf schmalem Weglein eingezwängt zwischen Wasser und Steilhang, und stehe dann auf einmal vorn am See: da geht’s nicht weiter. Links ist Sumpf- und Schilfgebiet, und rechts fallen die Felswände steil ab in den See. Das auf der Sandbank angekettete Schiffchen lasse ich liegen, gehe ein paar Schritte zurück zur Kapelle San Fedelino aus dem 10. Jahrhundert und finde dort den angezeigten Fußweg, zuerst durchs Geröll, dann steil hinauf in den Kastanienhängen, gewiss ein Stunde lang. Dann bin ich hoch oben über dem See und über den Felsen und treffe da sogar auf andere Wanderer – es ist Samstag, ein heller Tag, und ich bin auf bezeichnetem Weg. Am frühen Nachmittag komme ich in ein Dorf, setze mich in die Veranda der einzigen Bar, bestelle einen Aperitif und werde von einem alten Mann nach dem Woher und Wohin und Wozu ausgefragt. Er ist hier im Dorf, in Dascio, aufgewachsen, hat hier sein ganzes Leben als Bauer verbracht und lebt nun von seiner Rente.

Von nun an ist die Straße asphaltiert. In Cólico soll um 16Uhr15 ein Schiff fahren – die Zeit wird knapp. Ich will mein Bein nicht wieder strapazieren; für die letzten fünf Kilometer nehme ich ein Taxi, das mir die schöne und freundliche Barmaid – auch sie sei eine Ausländerin, sagt sie, aus Polen – bestellt. Ich gelange also per Mercedes an die Schifflände und stelle dort fest, dass die Abfahrt an Werktagen erst um Viertel vor sechs ist. Auch gut. Ich suche einen Tisch am Schatten, trinke ein Glas Bier, strecke die Beine aus, übersiedle dann auf ein Bänklein neben dem Unterstand bei der Anlegestation, ziehe meine Schuhe aus, lege mich ein wenig hin, mache mich dann gelegentlich bereit, als die Zeit heranrückt, und übersehe trotzdem das kleine Motorschiff, das angefahren kommt, etwas langsamer wird und, weil niemand dort steht, gar nicht anlegt, sondern abdreht und wieder wegfährt. Gerade noch merke ich, was da pünktlich 17Uhr45 vor sich geht, springe auf, fuchtle mit den Armen, und sie drehen für mich eine Zusatzrunde und lassen mich einsteigen. Drei Mann Besatzung begrüßen mich an Bord: ich bin der einzige Passagier und bleibe es auf dem ganzen weiten Weg über den See. Sie trinken ihr Glas Weißen während der langen Fahrt und bieten auch mir eins an. Erst bei der letzten Station vor Bellagio steigt noch eine ältere Frau zu.

Bellagio ist mein Ziel. Vor zwei Jahren war ich von Como aus über die Höhenzüge gewandert und hatte an diesem Fremdenort mit dem Schiff zum südöstlichen Zipfel des Sees weiterfahren wollen, musste aber, weil es keinen Schiffskurs mehr gab an jenem Abend, einen Bus nehmen. Erst jetzt sehe ich, was ich verpasst habe damals: dieser Punkt ist wohl der schönste Ort am Comersee. Und ich bin nicht der einzige, der es merkt. Der Tourismus lebt. Viele Sprachen sind zu hören und die verschiedensten Altersgruppen scheinen sich auf der Hochzeitsreise zu befinden.

An der Schifflände habe ich einen Uniformierten nach einem günstigen Hotel gefragt, und er hat ohne Zögern gesagt „Europa“, und so steige ich die Treppen hoch – denn unten am See befinden sich, versteht sich, nur das Grand Hotel und das Victoria und wie sie alle heißen, und bekomme im Hinterhaus noch ein Zimmer. Das nächste Schiff fährt am Sonntag Morgen um 9Uhr15.

Sonnenuntergang am See, auf der Terrasse. Der Kellner bringt mir einen gespritzten Weißen. Wind. Auf dem Wasser Schaumkrönchen. Es wird kälter. Die Hänge am andern Ufer dunkeln ab, werden blau. Lichter gehen an. Ein ruhiger Ort, Belle Epoque, 19. Jahrhundert. Sitzt da nicht Tolstoi an einem der Tischchen oder Bakunin?

15 Der Adda entlang

Da meine Abende, aus Mangel an Gesellschaft, früh enden, erwache ich auch am Morgen früh. Neben meinem Zimmer läuten die Kirchenglocken. Ich schaue schnell hinein und nehme einen Moment lang an der Messe teil, aber nicht lange, dann treibt’s mich wieder hinaus. Wie einer, der einen Schluck nimmt und das Glas stehen lässt, neben den Ringen auf dem Tisch. Mir ist es denn doch zu fad, das Dargebotene, zu abgeschmackt. Frühstück im Hotel, italienisch-karg. Dann ist’s Zeit aufs Schiff.

Auch hier bin ich beinahe der einzige Kunde. Kein Wunder, dass sie den Schiffsbetrieb ausdünnen.

Welch ein Morgen! Das frische, helle Sonnenlicht; das ruhige Wasser; das Schiff, das sich seinen Weg pflügt. Am Ufer, auf der Straße, rollt der Verkehr, weit weg und unhörbar, in vielen Kurven. Wir peilen die Stadt am Südende des Sees direkt an: Lecco, ein Konstrukt der Beliebigkeit aus dem 20. Jahrhundert.

Ich halte mich nicht auf, schreite durch die Gassen, zwischen den Autos hindurch über die belebten Straßen und komme dann an den Fluss, an dem ich mich in der Folge orientiere: die Adda. Nach einiger Zeit weitet er sich aus zum See, dem Lago di Garlate, und verwandeln sich die Straßen in Flanierwege dem Ufer nach, für Velofahrer, Spaziergänger, Inline-Skaterinnen. Denn Sonntag ist’s und ein Sonnentag auch, vielerlei Volk bewegt sich oder bummelt am Wasser.

Ich halte mich immer noch an jene Schweizerkarte, die mir der Garagist im Domleschg überlassen hat. Dort wo meine Vorstellungsgenauigkeit angefangen hat nachzulassen. Eine Erfahrung aus dem Amerikajahr: Karten gibt es bei Gasoline-Stationen, und wenn das nicht genügte, dann musste man allerdings lange nach der einschlägigen Buchhandlung in einer Großstadt suchen. Der Mann in Rhäzüns hatte tatsächlich eine im Angebot, aber ich sagte ihm, sie sei mir zu schwer und zu teuer – in wenigen Tagen würde ich ja ohnehin über den Rand hinaus sein – und da fand er noch eine von jenen Shell-Karten, veraltet, aber dünn: eben jene, die er mir gratis gab.

Karten sind ein Problem für sich. Ich habe das schon früher erlebt: Gewiss, es gibt auch in Italien Karten. Am liebsten ist mir die jeweilige Carta della Provincia, ungefähr im Maßstab 1:150’000. Sie ist so genau, dass alle Dörfer und alle Verbindungsstraßen eingezeichnet sind, aber meine Fußwege muss ich selber suchen. Bei den genaueren Karten ist man versucht, stets die Nase ins Papier zu stecken und die Übereinstimmung von Landschaft und Kartenbild nachzuprüfen. Aber solche Provinzkarten sind verständlicherweise nicht in den kleinen Dörfern vorrätig, sondern erst im Hauptort, und dann reichen sie gerade noch bis zur Provinzgrenze, also für einen oder zwei Tage.

Für alle Fälle habe ich eine Übersichtskarte dabei, die etwa bis Rom reicht, und hier im flachen Gebiet genügt sie mir zur Not. Der Mangel an einer genauen Karte hat zudem den Vorteil, dass ich mich stets wieder nach den Wegen erkundigen muss, und das gibt mir Gelegenheit, Leute anzusprechen.

Nun habe ich längst den See hinter mir. Rechts neben mir fließt die Adda, und das Gebiet ist in weiten Teilen als Naturschutzpark ausgeschieden. Ein Kiesweg dem Fluss entlang über Stunden.

Eine Ortschaft am Fluss. Asphaltwege, Straßenränder. Da wird es wohl etwas zu essen geben, denke ich. Aber die Lokale sind geschlossen. Ich frage mich durch, werde von Leuten, die die Distanzen nur vom Steuerrad her kennen, da- und dorthin gewiesen, und finde endlich, wieder am Ufer des Flusses, ein Restaurant, wo ich mir dann – es ist immer noch Sonntag – üppiger als sonst ein italienisches Mahl gönne.

Der Abend kommt schnell heran. Ich bin wieder auf abgelegenen Fußpfaden längs der Adda. Es ist Zeit, dass ich mich für die Nacht einrichte, und da ist eine Clubhütte am Weg, unter großen Bäumen, gleich am Fluss. Da will ich bleiben. Nicht einmal abgeschlossen ist die Tür, ich könnte also, sollte es in der Nacht zu regnen anfangen, unter einem Dach sein. Das Fläschchen mit dem Wasser habe ich dummerweise nicht mehr aufgefüllt. Aber weit und breit ist kein Trinkwasser aufzutreiben. So muss ich mit dem verbleibenden Restchen sparsam umgehen.

Die Flöte ausgepackt, Töne übers Wasser geschickt. Drüben ist ein Fahrweg. Gelegentlich Velofahrer. Niemand sonst. Die Sonne geht unter. Bald schlüpfe ich in den Schlafsack, lege meine Siebensachen rund um mich: greifbar, in einem Schuh, meine Brille, eingerollt in den Hosen, die mir als Kissen dienen, mein Portmonnee, neben den Schuhen das Wasserfläschchen.

Der Wind summt in den Ästen. Dann piepst das Handy, und wir haben unsere abendliche Plauderstunde, Verena und ich.

16 Immer noch der Adda entlang

Schnell sind am Morgen die Sachen zusammengepackt. Der Weg dem Fluss nach hört auf: ein Sumpfgebiet. Ich müsste zurück. Aber ich versuch’s seitwärts, hinüber zur Straße, durch den Wald. Die Bäume stehen oft im Wasser, der Boden ist weich, aber ich finde immer eine Stelle, wo es weiter geht. Bis ich an einen hohen Maschendraht komme. Fabrik. Ich will die Stelle umgehen: fast wie im Urwald, und durch den Draht sehe ich den Fahrweg auf dem Fabrikareal. Ich fantasiere von Flachzänglein mit Drahtschneider. Eine männchenförmige Lücke möchte ich denen ins Geflecht schneiden. Aber ich habe ja eben keinen Drahtschneider dabei – zu ihrem Glück – ich kämpfe mich weiter und balanciere über umgefallene morsche Stämme, die im Wasser liegen, komme dann endlich nach einer halben Stunde an die Straße und steige das Bord hinauf.

Nun also Autostraße. Lastwagen, Kolonnen von schnellen Alfaromeofiatlancias. Dazu ein grau verhangener Himmel. Keine Freude. Muss sich diese Welt so gebärden? Möchte ja gern wissen, mit welchem Ziel und Zweck dieser Kerl mit dem Stumpen da durch die Gegend steuert.

Umso erfreulicher ist eingangs Dorf das Schild mit den drei Buchstaben: BAR. Ich gehe zuerst hinter ein Haus an eine ruhige Stelle und hänge dort den Schlafsack zum Auslüften auf. Dann aber trete ich in die Bar und genieße den ersten Kaffee an diesem Morgen und ein großes Glas Wasser und zwei Cornetti. Eine Zeitung liegt herum, ich versuche darin zu lesen, ich strecke die Füße aus und betrachte das Volk, das da kommt und geht, zumeist Chauffeure für eine eilige Pause, aber auch jene Gäste, denen man ansieht, dass sie einen langen Tag des Nichtstuns vor sich haben und sich nun in dieser Bar eine erste Schnitte davon abschneiden.

Ein Mann trippelt mit unsicheren Schritten von der Theke weg zur Toilette, seine Schritte werden schneller und schneller, bis er vornüber auf den Boden fällt. Sie gehen hin und helfen ihm auf, man scheint den Vorgang zu kennen. Es erinnert mich an meinen Vater, der gegen Ende seines Lebens manchmal auch auf diese Weise gefallen ist, und ich denke: Gut, dass ich jetzt noch meinen Weg nach Sizilien mache, wer weiß denn, wie lange ich dazu noch fähig bin.

Eine gute Stunde später mache ich mich wieder auf den Weg. Der Schlafsack ist trocken, wird sauber zusammengelegt und verpackt, und meine körperlichen Bedürfnisse sind auch wieder für eine Zeitlang befriedigt. So sind die Überflutungen durch den Individualverkehr besser zu ertragen. Es geht nun aber auch bald von der Hauptstraße weg, ich finde an den Fluss zurück.

Ein Sträßchen der Adda entlang. So ist es schön, gegen Süden zu wandern. Fast zu einfach. Die Zeit vergeht. Am frühen Nachmittag meldet sich erneut der Hunger, lange kommt aber keine Behausung, nur Weg, gelegentlich ein Biker, ein Hündeler und etwas weiter dann sein parkierter Fiat.

Endlich, gegen vier Uhr, ein Parkzentrum: Fähre über den Fluss, Restaurant (das aber um diese Tageszeit geschlossen ist), Telefonzelle, Briefkasten, eine Schulklasse auf dem Ausflug, eine Bar, wo ich für mein Geld etwas bekomme, wo sie mich auch an der Steckdose mein Handy aufladen lassen. Sich hinzusetzen, Leute zu sehen, zurückzulehnen, am Aperitif zu nippen: das sind die schöneren Seiten der Zivilisation.

Die Landschaft wandelt sich. Der Fluss hat sich tiefer in die Ebene hinein gefressen, die Menschen aber haben das Wasser gefasst und in einem breiten Kanal, mit weniger Gefälle, dem Hang nach geführt. Stauwehre, wohl zur Stromgewinnung, dann aber auch Reste von alten Eichentoren, durch die sich Rinnsale zwängen und aufs tiefere Niveau hinab rieseln. Das Mauerwerk des Kanals ist alt, hundert Jahre und mehr, moosüberwachsen, oft auch ist die Wasserrinne in den Fels gehauen, und manchmal liegt der Fluss zehn oder zwanzig Meter tiefer als das Niveau des Kanals.

Einmal gibt es ein eigentliches eigenes Tal, und zwischen Kanal und Flusslauf erhebt sich eine bewaldete Felsrippe. Eine Steintreppe führt hinauf zu einem Kirchlein. Abend ist’s, ich steige hinauf und will mir in dieser romantischen Einöde ein Plätzchen für die Nacht suchen. Da gibt’s sogar, neben der Kirche, eine Brunnenröhre: ich öffne den Hahn, und das Wasser strömt mit Druck hinaus. Diesmal brauche ich mir ums Trinkwasser nicht Sorgen zu machen.

In den Büschen unter den hohen Buchen schläft sich’s gut. Am Morgen weckt mich das Handy, damit ich nicht die schönsten Stunden des Tages verschlafe.

17 Cassano

Weiter geht’s dem Kanal nach. Wie ich später erfahre, ist er um 1500 nach Plänen Leonardos da Vinci gebaut worden, damit die Steinbrocken für die neuen Palazzi auf dem Schiffsweg von den Alpen nach Mailand transportiert werden konnten. Das Kanalsystem zur Bewässerung der Poebene mit dem Wasser der Alpen soll dagegen nochmals 500 Jahre älter sein.

Die Wege dem Wasser entlang sind angenehm. Die einzigen Fahrzeuge sind die paar wenigen für den Unterhalt und immer wieder etwa ein Biker. Ich komme vorwärts, südwärts. Aber unterdessen meldet sich der Hunger und treibt mich bei der nächsten Abzweigung hinaus aus dem Tal, auf die Ebene hinauf, wo sich die Ortschaften befinden müssen. Quer über Äcker und Wiesen, immer wieder eine waldige Hecke durchkämpfend, finde ich endlich ein Sträßchen und komme zuletzt in die Stadt Trezzo sul’Adda. Hier will ich meinem Bein die verdiente Ruhe gönnen, das Handy aufladen, die Füße unter ein Tischchen im Arkadencafé strecken, etwas Zeitung lesen, ganz einfach das städtische Leben und den italienischen Espresso genießen.

Am Nachmittag folge ich weiter dem Fluss, manche Stunde, und finde am Abend in Cassano, im Hotel Ancora, also Anker, ein schönes Zimmer mit Blick auf die Piazza. Zeit für die Wäsche, die vor dem Fenster an Bügeln trocknet – auf meinem Stadtspaziergang kann ich nachher von unten mein Fenster anhand der ausgehängten Textilien lokalisieren.

18 Junge Maisfelder

Heute verlasse ich die Spur entlang der Adda und schlage den Weg südostwärts ein, Richtung Crema. Nach meiner Norditalienkarte stelle ich den Kompass und kümmere mich im Folgenden nur noch nach der allgemeinen Richtung. Leider folgen die Wege nicht dieser Ausrichtung, oft muss ich im rechten Winkel dazu gehen oder im Zickzack, wie ein Segelschiff, das gegen den Wind aufkreuzt. Der Himmel ist mit Wolken überzogen, den Schirm habe ich in Griffnähe.

Querfeldein wäre es aber nicht gut möglich. Das Land ist mit natürlichen und künstlichen Gräben überzogen, auch in rechten Winkeln, und die Felder sind entweder Kulturwiesen mit hohem Gras oder neuangesäte Maisfelder mit weichem Boden. Immer wieder versuche ich’s zwischen den Reihen junger Pflanzen; die Erde bleibt an meinen Schuhen kleben, beschwert sie. Wie ein plumper Astronaut mühe ich mich dann doch über kilometerlange Maisäcker, komme wieder an einen Fluss, wo ich eine passierbare Stelle suche, die Schuhe ausziehe und barfuß durchs Wasser wate. Was ist das schon, ein bisschen kalte Füße, gegenüber stundenlangen Umwegen und der ungewissen Suche nach einer Brücke oder einem Steg. Nach solchen Eskapaden nehme ich gerne auch wieder Feldsträßchen in Kauf, die mich von der Richtung abbringen.

In einem kleinen Dorf, unerwartet, frage ich einen jungen Mann nach einer Bar. Er schiebt sein Fahrrad neben mir her und führt mich hin. Er fragt, was ich da mache, und will dann wissen: „Fai per Dio?“ Aber sicher, sage ich, per Dio. Und es stimmt ja auch. Vielleicht nicht so, wie er es sich denkt. Aber es gibt auch Gründe, eine ungenaue Antwort zu geben, einfach darum, dass es der andere versteht.

Es ist nicht nur eine Bar, auch eine Trattoria. Eingangs Dorf habe ich mir die lehmigen Schuhe an einem Brunnen gewaschen, und nun schüttle ich den nassen Schirm aus und trete ein. Das Lokal ist voll von Männern, die hier zu Mittag essen, Geschäftsleute, Chauffeure, Maurer und Monteure. Schnell, speditiv, werde ich bedient und erhalte eine vorzüglich zubereitete Mahlzeit. Unterdessen trocknen unter dem Tisch meine feuchten Hosenbeine.

Erst beim Weitergehen, als ich auf eine Hauptstraße komme, wird mir klar, dass es sich hier um einen Insider-Tipp handeln muss, ein Speiselokal, für das man einen kleinen Abstecher von der Hauptstraße macht. Ein Lokal für jedermann. Für einen Wanderer mit einem täglichen Aktionsradius von zwanzig Kilometer ein Glücksfall.

Wer auf dem Weg nach dem Süden durch die Poebene braust, auf der Autobahn oder im Zug, kann sich kaum vorstellen, dass der Fußmarsch über dieses weite, immer gleiche Land etwas anderes werden könnte als ewiges Einerlei, so wie es während Stunden dem Reisenden vorkommt. Das Gegenteil ist aber der Fall. Die Gegend ist abwechslungsreich. Flüsse, Hecken, Kulturland, Straßen und Wege, über mir im Himmel die jubilierenden Lerchen, dann wieder Bauerngehöfte und kleinere und größere Dörfer.

Gegen Abend zeigt es sich: bis Crema, der nächsten Stadt, reicht es heute nicht mehr. Die Schritte, besonders jene querfeldein, waren mühsam. Die Beine sind müde. Die schmerzhafte Wade dagegen hat sich brav gehalten: der weiche Untergrund scheint ihr besser zu behagen als das harte Pflaster der radgerechten Straßen und Sträßchen.

Ich schaue mich um nach einer Unterkunft. In den Dörfern gibt es nichts. Aber auf einmal entdecke ich etwas abseits des Weges, eine Viertelstunde außerhalb des Dorfes, ein Gartenhäuschen. Das wär’s. Denn am Himmel zeigt sich dunkles Gewölk. Mindestens ein Dach brauche ich für die Nacht. Ich mache also die paar Schritte und schaue mir das Anwesen von nahem an. Ein gepflegter, ein gepützelter Garten mit all den aufgereihten Gemüsen, ein Schopf mit Vorhängeschloss und ein gedecktes offenes Plätzchen mit Stuhl und Tisch. Das ist es, was ich brauche. Das nächste Haus zwar in Sichtweite, aber vom Sitzplatz abgewendet. Ich richte mich ein, mache es mir bequem, überlege, wo ich den Schlafsack hinlegen soll, als bereits ein Mofa angefahren kommt: der Besitzer. Buena sera. Er schaut freundlich. Er will bloß wissen, was für einer… Offenbar hat der Nachrichtendienst gespielt, hat ihm jemand ein Telefon gegeben. Nein nein, er hat nichts dagegen, dass ich die Nacht hier verbringen will, er setzt sich auf den zweiten Stuhl, und schon bald kenne ich seine Lebensgeschichte und er meine Unternehmung hier in Italien. Ein Mann, der einige Jahre seines Lebens in Afrika verbracht hat, Entwicklungsprojekte; jemand, dessen Welt nicht an der Tür seiner Mietwohnung aufhört.

Nach einem knappen Stündchen wünscht er mir gute Nacht, setzt sich wieder auf sein Mofa und lässt mich zur Ruhe gehen. Ich wage es, vor dem Häuschen im Gras zu liegen, schaue in die Milchstraße, lege mich dann auf die Seite, und ich kann die ganze Nacht auf den Zementboden unter dem Dächlein verzichten, es regnet nicht.

Während die Eindrücke des Tages, die im Gehen auf mich einwirken, wie ein Film kommen und gehen, kurze Bilder, sind die Orte, an denen ich jeweils die Nacht verbracht habe, obwohl ich da zumeist die Augen geschlossen und das Bewusstsein versenkt habe, tiefer in mein Gedächtnis eingebettet. Sie sind wie Grenzpfähle oder Planierstangen meiner Reise in den Süden.

19 Crema

Am Morgen ist alles tauschwer. Der Weg über die Ebene, gegen Süden, aufs Geratewohl, ist dadurch noch erschwert, dass mein Gastgeber am Vorabend gesagt hat, da hinten sei ein Fluss, da komme man nicht weiter. Ich aber habe gelernt, solche Informationen relativ zu nehmen. Allzu oft schon bekam ich zu hören, da sei kein Durchkommen, und musste merken, dass die Person, die das sagt, noch gar nie versucht hat, da durchzukommen. Ich glaube nur noch, was ich selbst gesehen habe.

Ich folge also dem Grasweg, hinein ins Grüne, in die heckenumgrenzten Wiesen, und vorläufig gibt es immer noch Fahrspuren. Aber dann stößt der Weg auf einen im rechten Winkel verlaufenden. Links oder rechts? Ein wenig nach rechts, aber dann über die Wiese, wieder südwärts. Und bald kommt hohes Gras, oder ein Bewässerungsgraben, oder eine dichte Hecke. Vor mir geduckt im Kraut ein Tier, schaut mich mit seinen zwei Augen an… Was bist du für ein Wesen? Noch nie habe ich sowas gesehen. Ein Fell, oder ein Panzer? Gesprenkelt und fast nicht zu unterscheiden vom Untergrund. Jetzt erhebt es sich, watschelt auf dem Wiesenpfad davon und schleppt einen langen Federschwanz hinter sich her.

Die Wassergräben lassen sich am besten jeweils bei der Stauanlage überqueren. Ich gerate wieder auf einen Fahrweg, der führt mich an einen Kanal, der nun aber größer ist und zu tief, als dass ich ihn barfuß einfach durchwaten könnte. Ein Fasan schreckt mit großem Geschrei aus dem Gras auf und schwingt seine leuchtenden Farben in weitem Bogen in die Höhe, und fünf Schritte weiter tut es sein braungeschecktes Weibchen ihm nach.

Das Stauwehr ist auf meiner Seite mit einer Mauer so abgetrennt, dass es nicht möglich sein sollte, darüber zu steigen. Ich versuch’s trotzdem und trotz Rucksack. Eine turnerische Übung. Es gelingt. Im Wasser schwimmt ein Biber davon und gleich noch einer. Sie sind über die Anwesenheit dieses exotischen Wesens nicht weniger erstaunt als ich über sie.

Nun bin ich auf landwirtschaftlich intensiver genutztem Gebiet, auf Traktorenwegen, die mich genau in meine Richtung führen, vorbei am Gutshof. Das Kanalsystem, der Baustil des Hauses, die französisch anmutende Einteilung des Landes, all das wirkt auf mich wie 18. oder frühes 19. Jahrhundert. Der Weg steigt leicht an, und dann bin ich an besagtem Fluss, tief und wasserreich. Er ist tatsächlich nicht zu überqueren, aber ich kann ihm folgen, in östlicher Richtung. Auch dies muss ein Kanal sein, denn er verläuft längs des Abhangs, wodurch das Wasser ins tiefer liegende Grabensystem gelenkt werden kann.

Als mir ein einsamer Jogger entgegen gerannt kommt, verbissen-sportlich und unansprechbar, weiß ich wenigstens, dass dieser Uferweg irgendwo hinaus führen muss. Und so ist es. Nach einiger Zeit führt eine Brücke über das Wasser. Ich setze mich aufs Mäuerchen und sehe den Jogger wieder in der Gegenrichtung vorbeihasten, der Stadt entgegen.

Die Stadt Crema sieht vielversprechend aus. Ich möchte ihr gerne etwas Zeit einräumen und, obwohl es erst Mittag ist, hier ein Zimmer nehmen und den Nachmittag der Kultur widmen. Touristeninformation, Prospekte, Stadtplan, alles vorhanden, aber die Hotels sind belegt, heißt es. Gut, dann eben nicht. Sie müssen auf die Ehre meines näheren Besuches verzichten. Ich ziehe weiter.

Mich leitet die Kompassnadel und das Bestreben, den streng befahrenen Straßen auszuweichen. Feldwege, Sträßchen der Bahnlinie entlang, auch einmal, über ein Wasser, ein Bahngeleise, dann der weiche Boden eines frisch angesäten Maisfeldes. Solange die Erde trocken ist und nicht an den Sohlen kleben bleibt, geht es ganz gut zwischen den weiten Reihen der Sprösslinge. Aber es macht müde. Und immer wieder die Gräben des Bewässerungssystems, frisch ausgeputzt jetzt im Frühjahr, gepflegt, und leer, es hat ja genug geregnet in letzter Zeit.

Die Distanzen von Dorf zu Dorf sind groß in dieser flachen, weiten Gegend. Abends komme ich in eine Ortschaft namens Castelleone, in der es ein Hotel geben soll. Darüber bin ich froh, denn der Himmel ist schwer verhängt, und immer wieder im Laufe des Tages habe ich den Schirm gebraucht. Ich frage mich also durch, und es sind dann die letzten vier Kilometer auf Trottoirs und Quartierstraßen, die am meisten anhängen. Endlich bin ich dort, finde das Haus und nehme das Zimmer. Ein Allerweltsetablissement. Aber im Speisesaal steht ein Flügel. Ich kann mich nicht enthalten, ihn auszuprobieren, und obwohl die Stimmung getrübt ist, genieße ich es, wieder einmal ein Bach’sches Präludium in die Finger zu nehmen. Der Hotelier zeigt sich erfreut; er ist es, der sonst die Tasten traktiert. Er ermuntert mich, das Instrument ruhig zu benützen. So erhält das Hotel für mich doch noch eine individuelle Ausprägung.

Schön ist es, warm zu duschen, die nassen Kleider zum Trocknen aufhängen zu können, den Schweiß in der Wäsche mit Seife und warmem Wasser etwas zu verdünnen und schließlich zwischen sauberen Leintüchern einzuschlafen.

20 Regen

Der nächste Morgen ist bestimmt von Dauerregen. Nach dem Frühstück will ich zuwarten. Ohne Gepäck, nur mit Schirm, gehe ich ins Zentrum, wo einige Läden sind, und versuche frische Socken zu kaufen. Wo kauft man Socken? Wie sagt man überhaupt Socken? In einem Schuhgeschäft zeige ich auf meine Füße, man hilft mir weiter, und ein paar Türen weiter finde ich, was ich brauche.

Gerne hätte ich auch eine genauere Karte. Eine Buchhandlung gibt’s nicht, und in der Cartoleria führen sie zwar Illustrierte aller Arten, aber in Sachen Landkarten verstehen sie nicht einmal das Wort. Ich muss mich weiterhin auf den Kompass und meine großräumige Norditalienkarte verlassen.

Eine weitere halbe Stunde bringe ich hinter mich mit einem Besuch beim Coiffeur. Als ich ins Hotel zurückkomme, hat der Regen etwas nachgelassen, sind meine Kleider trocken, und ich entschließe mich nun doch, weiterzuziehen.

Der Weg ist zunächst ideal: ein Kiessträßchen zwischen Wiesen und Äckern. Im trüben grauen Himmel eine Lerche. Bei einer großen ‚fattoría’, wie die Gutshöfe hier genannt werden, ist das Sträßchen zu Ende und geht meine Reise auf einem Wiesenpfad weiter, einer Traktorenspur, die bei diesem Regenwetter tiefe Pfützen aufweist. Meine Wanderschuhe haben längst das Wasser durchgelassen, und wenn die Nässe in den Socken einmal einen gewissen Grad erreicht hat, spielt sie auch keine Rolle mehr. Solange man am Gehen ist, friert man nicht.

Trotzdem ziehe ich die Schuhe beim nächsten tieferen Wasserlauf wieder aus, kremple die Hosen hinauf und steige barfuß auf die andere Seite. Ich ringe meine Socken aus, schlüpfe wieder hinein, zwänge mich in die Schuhe und bin froh, dass mich da drüben wieder ein Fahrsträßchen erwartet.

Den ganzen Tag geht’s weiter auf diese Weise. Der Himmel hellt am Nachmittag etwas auf, aber gegen Abend geht der Regen über in einen ausgiebigen Dauerregen. Ich bin unter meinem Schirm und lasse mich nicht groß stören, aber dem Vernehmen nach ist weit und breit keine Unterkunft. Wäre vielleicht in einem Privathaus etwas zu haben? Soll ich nach einer Scheune Ausschau halten? Im Dorf sind die Gehöfte allesamt mit einer Mauer eingefasst, und außerorts habe ich keine Gebäude gesehen.

Um die fünf komme ich in ein Dorf. Mittendrin die Kirche, und ihr gegenüber die Bar. Zunächst etwas gegen den Durst. Dann frage ich den Mann hinter der Theke nach einer Übernachtungsgelegenheit. Er schüttelt nur den Kopf, macht ein dummes Gesicht und macht keinerlei Anstalten, sich mit meinem Anliegen näher zu befassen. Der Bus fahre in einer halben Stunde, in der Stadt gebe es Hotels. Wie soll ich ihm begreiflich machen, dass das für mich nicht die richtige Lösung ist. Er ist die seltene Ausnahme: Immer sonst bin ich in Italien in der Bar auf intelligente und hilfsbereite Männer und Frauen gestoßen, die mich, wenn sie selber keine Antwort wussten, an einen ihrer Gäste verwiesen haben, der weiter helfen konnte.

Hier gibt’s keine andere Lösung. Ich kaufe eine Fahrkarte, nehme nochmals ein Getränk und steige um halb sechs in den Bus, der durch den Regen, mit vielen Abzweigungen in die Dörfer abseits der direkten Linie, nach Cremona hinein fährt. Dort nehme ich ein Taxi und sage: Fahren Sie mich zu einem Hotel.

Das Zimmer ist ein Schlauch und geht auf einen Hinterhof hinaus, aber das Hotel heißt ‚Duomo’ und liegt wirklich nur ein paar Schritte vom Dom entfernt.

Ich bin an diesem Regentag viereinhalb Stunden gegangen, also halb so viel wie sonst. Aber dank der 14 Kilometer mit dem Bus sieht man’s meiner Etappenkarte nicht an.

21 Cremona

Heute ist der Tag der Arbeit, der erste Mai. Auch in Italien, wie könnte es anders sein, spürt man etwas von der Arbeiterbewegung. Auf der Piazza ist eine Bühne aufgestellt, abends soll da eine Veranstaltung stattfinden, mit Reden und Musik. Und ich habe mich entschlossen, einen Ruhetag einzuschalten. Meine Wade hat’s auch nötig. Noch immer schmerzt mich jeder Schritt, vor allem auf dem harten Asphalt und jeweils gegen Abend, und so gehe ich mit einem Stecken in der rechten Hand, damit das linke Bein etwas entlastet wird, wenigstens bei jedem zweiten linken Schritt. Nein, es ist jetzt nicht der Zeitpunkt, um über die Schönheit des menschlichen Gangs zu reden, vielleicht später. Im Moment genieße ich es, zu sitzen.

Am frühen Morgen sitze ich in der Messe im Dom, wenigstens eine Zeitlang, ein halbes Stündchen. Es ist ein großes, mächtiges Bauwerk, inwendig dunkel bemalt, nach meinem Geschmack ein bisschen Chrüsimüsi für die Augen.

Ich trete wieder hinaus auf den Platz vor dem Dom. Am Kiosk lasse ich meine Augen schweifen über die Titelseiten der verschiedenen Zeitungen, bleibe hängen an einem Aushang und merke: dieser erste Mai ist auch aus einem andern Grund ein bedeutsamer Tag. Ob sie wohl in der Schweiz auch davon Kenntnis nehmen? Die Europäische Union ist auf einen Schlag gewaltig gewachsen, denn auf den heutigen Tag sind die neuen Staaten von Osteuropa Mitglied geworden. Die Schweiz ist nicht dabei. Noch lange nicht.

Ich spaziere durch die Stadt. Eine milde Sonne. Ich setze mich auf ein Bänklein in einem Park in der Piazza Lodi, lese, mache einige Notizen, versuche das vor mir stehende Denkmal für Claudio Monteverdi zeichnerisch festzuhalten, gehe einige Straßen weiter, genieße einen Espresso…

Der Tag geht bummelnd vorbei. Ruhephase. Besteigung des Turms. Besorgung der Wäsche.

Gegen Abend richte ich ein Päckchen zum Heimschicken, vor allem Karten, bei denen ich den Rand unterdessen überschritten habe. Wie mache ich aber, wenn ich nicht wie zu Hause alles griffbereit habe, Schere, Leim, Klebstreifen, Packpapier, Adressetikette, Briefmarke… wie mache ich da ein Päckchen? Ich kaufe mir ein Röllchen durchsichtige Klebstreifen in einem Papierladen (den musst du auch zuerst finden, und wie heißt die gewünschte Sache auf italienisch?) und löse beim Kiosk den geschichtsträchtigen Aushang ab, ungefragt, der mir als Packpapier dient. Für die Briefmarken müssen Sie auf die Post, heißt es, aber die ist heute zu. Im Tabacco, die das Monopol haben für Briefmarken, gibt es sie auch nur werktags – obwohl der Laden geöffnet wäre. Die Klebstreifen übrigens heißen ganz einfach ‚scotch’. Das kann ich mir merken.

Viel zu früh bin ich auf dem Platz, wo der erste Mai gefeiert werden soll. Die Sonne scheint noch, alle sitzen auf der Schattenseite. Langsam treten die Musiker auf, Mikrofonprobe, jeder gibt ein paar Töne von sich, betont lässig, ein Kommen und Gehen, und unten auf dem Platz begrüßen sich die alten Freunde – ja, vor allem alte Kämpen mit ihren Frauen finden sich da ein…

Als es dann losgeht – ich weiß nicht so recht, ist’s jetzt schon losgegangen? – wird es laut, dröhnt der Platz, die Lautsprecher machen ihrem Namen alle Ehre. Der in einer Ecke stehende Stradivari, aus Stein, wohl der berühmteste Bürger dieser Stadt, gibt keine Anzeichen von Unmut von sich.

Doch, jetzt geht’s aber wirklich los. Einer tritt ans Mikrofon, begrüßt das Publikum, sagt ein weniges über den ersten Mai, was aber nicht über zwei Sätze hinaus geht, und gibt dann wieder Bühne frei für die Musik. Ich denke, ja, sie können ja nicht jedes Jahr die gleichen Floskeln über den Arbeiterkampf herunterbeten, mehr will offenbar niemand dazu hören.

Andererseits wäre ich jetzt auf eine Rede neugierig gewesen. Wie an jedem ersten August bei uns. Auch wenn ich meistens enttäuscht werde. Warum sind sie nicht imstande, diese Politiker, etwas aus dieser wunderbaren Gelegenheit zu machen? Da kommen so viele Menschen zusammen zum Gedenken an einen Akt der Staatsgründung, zur Feier einer Gemeinschaft, und sind bereit, eine Viertelstunde hinzuhören, und ach so oft gibt’s nichts anderes zu hören als die gleichen hehren Sprüche von der Verantwortung und der Rücksichtsnahme und was für ein wohlgeordnetes Staatswesen wir doch hätten.

Die Musik füllt die Lücke aus. Sie ist mir zu laut und zu schrill. Nach einiger Zeit wechsle ich den Platz, aber es hilft nicht viel. So stehe ich dann auf, schlendere noch eine halbe Stunde durch die Gassen, trinke in einer Bar einen Campari und schreibe eine Postkarte, aber die Bar macht zu, und ich gehe ins Bett.

22 Po

In einem Prospekt habe ich von Flussschiffen auf dem Po gehört, Ausflugsfahrten. Heute wäre Sonntag. Wenn irgendwann, dann müssten heute solche Schiffe fahren, und warum soll ich armer Pilger nicht eine Tagesetappe weit auf dem Wasser reiten, wenn das möglich wäre.

Ich begebe mich also, nachdem ich nach dem Frühstück das Hotel verlasse habe, zur Stadt hinaus an den Po. Wo ist die Anlagestelle? Niemand weiß davon. Am Ufer sind Fischer. Sie weisen mich flussaufwärts. Ich muss noch einige Male fragen und auch Drahtgeflechte übersteigen, bis ich die Schifflände finde. Aber Boote gibt es keine. Vielleicht gibt es sie manchmal, während der Saison, im Moment ist aber ohnehin der Wasserstand des Flusses viel zu hoch. Stimmt, das habe ich auch gemerkt: wir haben dies Jahr einen wasserreichen Frühling.

Ich muss also zu Fuß weiter. Das ist nur darum etwas hart, weil ich mich einige Stunden lang der Vorstellung hingegeben habe, auf einer bequemen Bank mit Rückenlehne zu sitzen und die Landschaft an mir vorüber gleiten zu lassen.

Unterdessen ist es mit dieser vergeblichen Suche bereits zehn Uhr geworden. Ich kehre also um und folge dem Uferweg flussabwärts. Auch das ist nicht ganz einfach. Die einheimischen Fischer wissen, ob ein Weg nach einigen Kilometern einfach draußen an einer Lagune endet. Ich aber kann es ihm nicht ansehen und bin froh, wenn ich einen Menschen antreffe, den ich fragen kann.

Ein solcher Mensch ist Cesare Rainis, wohnhaft in Cremona. Nein, nicht ein Dichter und nicht ein Geigenbauer, jedenfalls wüsste ich nichts davon, einfach ein Herr, der mich auf den rechten Weg weist, gerne mit mir einige Augenblicke verweilt, mir eine Trattoria empfiehlt, eine Stunde von hier am Fluss, und ich solle sagen, er hätte mich geschickt. Dies der Grund, warum ich seinen Namen weiß.

Diese Trattoria kommt mir genau gelegen, geht es doch gegen die eins und ist hier am Po-Ufer, in dieser von Überschwemmungen immer wieder heimgesuchten Gegend, kaum mit einem Dorf zu rechnen. Ich kehre hier also gerne ein und steige die Treppe hinauf, denn das Lokal befindet sich auf Stelzen, im ersten Stock. Leider ist kein Tisch mehr frei. Überall sitzen Paare, Familien, Gesellschaften, Sippen, draußen und drinnen, bei luftig-offenen Fenstern, und tafeln. Der Wirt, dank Empfehlung, treibt irgendwo hinten ein Tischchen auf, trägt es auf die gedeckte Veranda hinaus, holt dann ein weißes Tischtuch, und ich habe noch ein Plätzchen gefunden, und zwar mitten im Durchgangsverkehr.

Ich leiste mir, nach wunderbaren Tortellini, einen ebensolchen Zanderfisch und schreibe dann meiner Verena, die ich an einem Taufessen weiß, die folgende Short Message: „Der ganzen Gesellschaft wünscht einen schönen Tag der am Ufer des Po in langsamer Bewegung befindliche Großvater und drückt dem Täufling einen stachligen Kuss auf den süßen Po.“

Sie schreibt bald darauf zurück, berichtet von evangelikal angehauchter Predigt und von angeregten Gesprächen über Politik mit dem Gegenschwäher Thomas.

Wieder einmal lobe ich mir das vielgeschmähte Handy. Gerade auch die Möglichkeiten, die das sms bietet. Ich liebe die Beschränkung auf die 160 Zeichen, die mir einen knappen Ausdruck erlauben, wie er sonst, im Brief etwa, geradezu verletzend wirken könnte. Angenehm ist aber auch die sofortige Verbindung – falls das Gegenüber auf Empfang ist – und demzufolge die mögliche sofortige Antwort. Ich kann aber auch, im Gegensatz zur telefonischen Verbindung, eine Mitteilung deponieren, wenn der Gesprächspartner gerade nicht erreichbar ist.

Zu den zahlreichen Gängen eines italienischen Essens gehören für mich auch, nach dem caffè und dem conto per favore!, die paar Schritte vom Restaurant weg mit anschließendem Niedersinken auf einem Schattenplatz, also die Wohltat der dem gesättigten Bauch gegönnten Siesta-Stunde. Von den vielen Gästen dieses Hauses, die alle mit einer der parkierten Karosserien zum Fluss gekommen sind, bin ich der einzige, der in den Genuss dieses letzten ‚Gangs’ kommt.

Nach dieser Stunde und nach einigen weiteren Wegstunden entschließe ich mich, eines der in meiner Karte angegebenen Dörfer anzupeilen. Ich stelle den Kompass und gehe querfeld- und -waldein, während Stunden ohne einem Gesicht zu begegnen.

Im Abendsonnenschein leuchtet endlich ein Campanile, ich erhoffe mir eine Bar und sehe bald ein Haus, das angeschrieben ist mit NO PROBLEM BAR. Vor dem Haus zwei einfache Tische. Ein älterer Mann sieht mich anrücken, mit meinem Rucksack und in der rechten Hand den Wanderstecken, und ruft aus: Ein Pilger nach Rom, stimmt’s?

So früh am Abend ist sonst niemand da. Ich bestelle bei der jungen Frau, die bedient, ein mittleres Bier und setze mich zu ihm. Und wo schlafen Sie?, fragt er. Ich wisse es noch nicht. Gut, da werden wir dafür sorgen, sagt er, sehr zuversichtlich. Ist mir auch recht, denke ich, kann mir aber nicht recht erklären, ob er hier zum Etablissement gehört oder zum Dorf. Er beginnt sich mit der Cameriera darüber zu beraten, wo für mich ein Lager aufzutreiben sei. Sie gibt sich inkompetent. Nach einiger Zeit verstehe ich, dass sie ohne ihren Vater, den Padrone, gar nichts sagen könne, und der komme erst um neun zurück.

Gut, ich unterhalte mich mit meinem neuen Freund. In Italien hat man Zeit. Etwas wie ein Albergo finde ich in erreichbarer Nähe ohnehin nicht; müde bin ich auch. Ich entschließe mich also, zu warten, auch wenn es noch zwei, drei Stunden dauern sollte. Für einen Schlafplatz im Freien – der Himmel scheint mir zwar dafür etwas unsicher – reicht es auch dann noch.

Zeig doch dem Herrn mal die Bilder von der Überschwemmung, sagt mein Fürsprecher zu Cristina, von der ich unterdessen weiß, dass sie die Tochter des Hauses ist. Ich erinnere mich, davon in der Zeitung gelesen zu haben: vor einigen Jahren war wieder einmal der Po so hoch angeschwollen, dass die Dämme nicht ausreichten. Das Dorf sei völlig im Wasser gestanden, hier in der Bar habe das Wasser bis oben an den Türpfosten gereicht. Claudia bringt ein Album und lässt mich die Fotos sehen. Es muss ein Jahrhundert-Ereignis gewesen sein. Aber man habe ja genug Vorwarnzeit gehabt, habe alles Mobiliar in den oberen Stock tragen können. Tiere und Menschen seien nicht zu Schaden gekommen. Doch die Arbeit nachher!

Auf einmal wird der Platz überfallen von einem Schwarm junger Leute, die da auf ihren schweren Maschinen angerauscht kommen, vorwiegend Pärchen. Sie schälen sich aus ihren Lederjacken, stehen um die Tische herum, begrüßen die liebe Cristina, küssend die einen, nehmen nach und nach Platz und erfüllen den ruhigen Ort mit buntem Leben. Auch der Tisch, an dem ich sitze, wird aufgefüllt, man bestellt zu trinken und zu picken und man mag sich.

Ich bin den ganzen Tag in der Einsamkeit gewesen und habe daher gern Gesellschaft. Ich werde aber nicht beachtet; ich weiß das von früheren Reisen in Italien: solange nicht ich einen Schritt tue, respektiert man strenge Distanz zum Fremden. Es braucht nur eine belanglose Frage an den Sitznachbar, und es ist wie ein Bann gebrochen; ich spüre, wie groß seine zurückgestaute Neugierde war: was für ein Geselle ist das da an unserem Tisch?

Bald aber setzt sich in dem Rudel wieder Aufbruch durch, Nierengürtel und Lederkleidung und Helme werden montiert, und dann braust – auf wessen Zeichen hin eigentlich? – das ganze Geflügel davon.

Um neun erscheint dann der Vater. Sie erklären ihm mein Problem. Wie ich mehr und mehr verstehe, gehören ihm alle die leerstehenden Häuschen in der Nachbarschaft, aber zu denen schüttelt er den Kopf. Ich habe klargestellt, dass ich nichts brauche als ein Dach über dem Kopf, dass ich einen Schlafsack habe und überhaupt keine weiteren Ansprüche stelle, und so schlägt er vor, mir die Räume im oberen Stock des Hauses mal zu zeigen, die einstige Wohnung stehe leer, er wohne in der Stadt und benütze nur das Parterre mit der Bar. Mir ist das recht. Es gibt sogar noch einige in die Ecke gestellte Matratzen, eine von der Decke hängende Glühbirne, ein Badezimmer, wo man allerdings das Klo mit einem Krug spülen muss, und als ich in Erfahrung gebracht habe, wie ich am frühen Morgen aus dem Haus kommen könne, richte ich mich in meiner Suite ein, schlüpfe in den Schlafsack und lasse mich vom unterdessen belebteren Betrieb im unteren Stock nicht stören. No problem.

23 Rechts vom Po

Als ich aufstehe, ist das Haus leer. Hinten bei der Küche zur Tür hinaus, diese zugestoßen und zurück auf die Straße. Noch ist niemand auf.

Eine Stunde später stehe ich auf der Hauptstraße, dort wo die Brücke über den Po beginnt. Ein großes Bauwerk. Die Fahrbahn ist nur zweispurig, aber auf beiden Seiten gibt es glücklicherweise einen halben Meter Raum zwischen Leitplanke und Brückengelände, wo ich geschützt gehen kann. Ich befinde mich auf der Höhe der Baumkronen, also etwa sieben Meter über dem Boden, ohne eine Möglichkeit, die Straße zu verlassen. Der Po selber ist 250 Meter breit, ich habe es mit meinen Schritten abgezählt, also drei Mal so breit wie der Rhein bei Rheinau. Die Wassermassen wälzen sich trüb unter der Brücke durch und tragen viel Treibholz mit sich. Die Brücke ist aber zehn Mal so lang, sie überspannt somit das ganze Gebiet, das bei Hochwasserstand überschwemmt ist: zweieinhalb Kilometer. Ein Auto hinter dem andern lärmt an mir vorbei, aber gleich unter mir, auf dem Schwemmland, spaziert ein Fasan.

Bei der ersten Möglichkeit, wieder auf festem Boden und nicht mehr in luftiger Höhe, nehme ich die Abzweigung einer Nebenstraße, um von diesem Verkehrsband wegzukommen. Es beginnt zu regnen. Im ersten Dorf ist die Bar heute montags geschlossen. Wenigstens gibt’s einen Laden. Ich kaufe mir etwas zu essen und suche dann ein Scheunenvordach. Kein gemütlicher Ort für das Frühstück. Kein Platz zum Verweilen. Am schönsten ist es doch immer noch, bei diesem Wetter, wenn man geht.

Unter dem Schirm, am linken Straßenrand, marschiere ich weiter, hänge meinen Gedanken nach und vergesse die Zeit. Da verlangsamt ein dunkelblaues Auto seine Fahrt, der Fahrer lässt die Scheibe herunter und ruft: Dove va di bello! Zwei Carabinieri. Ja, das Auto ist mir entgegengekommen, sie haben mich offenbar ins Auge gefasst, haben gewendet und sind jetzt von hinten gekommen. Die Ausweise wollen sie sehen. Ich trete an die Scheibe hin und tue zunächst verwundert, frage nach dem Grund, nach ihrem Verdacht, der sie zu dieser Kontrolle bewege, und sie werden ein wenig barsch: Wir sind die Carabinieri, wie Sie vielleicht sehen. Normale Personenkontrolle, wenn Sie verstehen, was wir meinen. Gut, ich mache meine Identitätskarte hervor. Sie füllen ein Formular aus, setzen den Funk in Gang, vermissen dann die Adresse auf meinem Ausweis, haben offenbar noch nie eine schweizerische Karte gesehen, werden aber zunehmend freundlicher und geben mir die Karte zurück. Wohin ich denn gehe?, wollen sie, diesmal aus rein privater Neugier, wissen. Nach Rom?! Alles zu Fuß? Sie fragen nach meinem Beruf. Professore di musica. Merkwürdig, wie nun der Tonfall ändert. Complimenti! Auguri! Ich kann weiterziehen.

Mich beschäftigt trotzdem die Art und Weise, wie verdächtige Personen von oben herab behandelt werden. Gewiss, meine Schuhe sind ausgelatscht, haben vorne eine losgelöste Sohle; meine Kleidung ist zerknittert; meine Erscheinung könnte vielleicht auf einen ausgebrochenen Häftling schließen lassen. Dennoch, ich meine, jedermann habe, unabhängig von seinem Outfit, das gleiche Recht auf höfliche Behandlung durch die Polizei.

Asphaltstraße, das tut meinem Bein nicht gut. Ich spüre es wieder vermehrt. Und es sieht nicht darnach aus, dass ich andere Wege finde. Beidseits der Straße sind Felder mit hohem Gras, die wenigen Kieswege sind nur Zufahrten zu den Äckern, das Land ist durchgehend landwirtschaftlich ausgenützt.

Ein trister Tag. Sogar die paar seltenen Autos auf der Nebenstraße fangen an, mich zu nerven, wie sie von weit hinten kommend näher und näher dröhnen und an mir vorbei brausen. Im Dorf Trecasali leiste ich mir einen Grappa, und dann bin ich bereit zum Entschluss, für das verbleibende Stück bis Parma den Bus zu nehmen.

Parma sei die schönste italienische Stadt. Das haben mir vor Jahren oben in einer Berghütte im Apennin zwei Studentinnen gesagt. An jenem Tisch saßen auch junge Leute von Florenz und von Bologna, und alle nahmen sie dieses Prädikat für ihre Stadt in Anspruch. Ich zweifle, ob bei einem entsprechenden Treffen auf dem Rigi-Kulm Zürcher, Berner und Luzerner einen ähnlichen Wettstreit austrügen. Die Italiener halten nicht viel von ihren Schulen, aber das muss man ihrem Bildungssystem lassen: den Stolz auf die eigene Kultur hat es ihnen vermittelt.

Schon damals war mir aufgefallen, wie diese zwei Parmeserinnen ein Italienisch mit hinten gerolltem R sprachen; ich erinnere mich, wie ich sie gefragt habe, ob sie Ausländerinnen seien. Jetzt, kaum in Parma angekommen, fällt mir diese Eigenart wieder auf. Es wirkt auf mich wie wenn Süddeutsche unsere schweizerdeutsche Mundart mit weichem ch sprechen.

Die Hotelsuche nehme ich nach bewährtem Muster vor. Am Bahnhof setze ich mich in ein Taxi und sage: Fahren Sie mich zu einem Hotel. Der Fahrer murrt etwas Unverständliches, dem ich entnehme, das müsse ich schon selber wissen, wo ich hin wolle, aber ich ‚verstehe nichts’, er fährt zu, links und rechts und wieder um die Ecke und in einen Durchgang hinein, dabei brummt er etwas von Torino, was ich als Witz auffasse (dann müsse er mich eben nach Turin fahren), entgegne aber wieder nichts, und unterdessen ist er beim Hotel ‚Torino’ angelangt. Ich steige aus, frage an der Reception: ja, es ist noch ein Zimmer zu haben, ich zahle das Taxi und befinde mich wieder einmal in einem engen Schlauch von Zimmer, hinaus in den Hinterhof, nicht etwa billig, aber draußen regnet’s und ich habe alle Annehmlichkeiten.

Das ist fast zu schnell gegangen mit diesem Taxi: Die ganzen drei Tage, die ich in Parma weile, bin ich Nord-Süd-verdreht und kann mich nicht umpolen. Immer wenn ich zum ‚Torino’ zurück komme, steht es auf der falschen Seite der Gasse. Und noch jetzt kann ich mich nicht mit Bestimmtheit erinnern: ich weiß genau, wo die Seitengasse des Corso gegen Westen abzweigt, aber ob der Hoteleingang dann auf der linken oder auf der rechten Seite ist, weiß ich nicht mehr.

Nämlich drei Tage will ich dieser ‚schönsten italienischen Stadt’ widmen – auch meiner Wade zur Erholung.

Noch am Abend suche ich den Dom. Er ist ganz in der Nähe meiner Unterkunft. Ich komme auf einen großen, leeren Platz und stehe vor einer erhabenen romanischen Fassade. Unberührt von all den üblichen Barockisierungen. Ich gehe über das archaische Kopfsteinpflaster und umschreite den Platz, gehe dann um das Bauwerk herum, komme auf den Platz zurück und wende mich nach rechts, wo ein ebenso stilreiner Bau, das Baptisterium, aufragt. Es ist Abend und bereits dunkel, die Tore sind längst geschlossen, aber morgen ist auch ein Tag.

24 Simon Boccanegra

Um halb acht bin ich in der Frühmesse im Dom. Ich stehe, ich sitze, ich versuche der gesprochenen Liturgie zu folgen, eine Viertel-, eine halbe Stunde, dann muss ich wieder gehen. Die Verzerrung des Tons durch Mikrofon und Lautsprecher ist mir unangenehm.

Ein schöner Raum, dieser Dom, hoch und erhaben. Wozu eigentlich Kirchen da sind, haben sie und haben wir vergessen. Denn wenn es nur darum ginge, der christlichen Gemeinde einen Versammlungsraum zu bieten, so könnte man's billiger haben. Wenn's darum ginge, Wände für Malereien, für die Biblia pauperum, bereitzustellen, auch dafür brauchte es nicht diese Höhen. Nein, Kirchen sind dazu da, dass das geschriebene Bibelwort im gesprochenen und im gesungenen Wort Klang werden kann, dass das Wort 'Fleisch' werde. Hoch oben im Dach und in den Gewölben schlägt es auf, hallt es zurück und gießt es sich aus über die knieende oder sitzende Gemeinde, evoziert dort ein Bedürfnis zu antworten, und der ganze Raum kann Klang werden. Das ist Kirche. Wie armselig dagegen dieses Radiogebrumme aus den viereckigen Kästchen, die da an den romanischen Pfeilern aufgehängt sind.

Nichts hier gegen die katholische Kirche und ihre Liturgie. Warum sollen wir nicht den unfasslichen Gott in diesem Paradoxon des Dreieinigen ansprechen. Ist ja doch alles nur kindisches Gestammel. Nichts hier gegen die immerwiederkehrenden Gebete. Sie sind Meditation des Einzelnen und der Gemeinschaft, sind ein Abstandnehmen von den Erfordernissen des Alltags, und sie sind ein Zeichen dafür, dass wir Menschen nicht nur unseren selbstgeschaffenen Gesetzen unterworfen sind.

Ein Erfordernis meines Alltags ist, dass ich mir ein günstigeres Hotelzimmer suchen will, jetzt wo ich Zeit habe dazu. Ich begebe mich also ins Touristenbüro, und dort händigt man mir eine Hotelliste mit Telefonnummern aus, mit dem Hinweis allerdings, es werde im Moment kaum möglich sein, in der Stadt etwas zu finden, wegen der zur Zeit stattfindenden Messe für Gastronomie und Ernährung. Jetzt verstehe ich das gestrige Murren des Taxichauffeurs. Und mir wird die Verbindung Parma – Parmaschinken – Parmegiano bewusst.

Trotzdem findet sich dann, einige Schritte vom bisherigen Domizil entfernt, noch ein Zimmer im Hotel 'Lazzaro', von dem noch die Rede sein soll, etwas Günstiges, allerdings erst für den kommenden Tag.

Ein anderes Erfordernis: Ich will hier in dieser Stadt meine e-Mails abrufen. Im Hotel haben sie mir einen Internet-Point angegeben. Die Suche nach diesem Geschäft führt mich aus der eigentlichen Altstadt hinaus auf die Via Mazzini, eine große Geschäftsstraße. Ein Raum mit Arbeitsplätzen. Für wenig Geld kann ich auf einem der Computer eine halbe Stunde lang surfen oder eben meine Post abrufen. Ich mache das zum erstenmal, und es geht nicht ohne Hilfe. Aber es gelingt. Die weltweite Vernetzung ist beeindruckend. Ich denke an Verenas Großvater, der um 1925 in Kolumbien tätig war, während seine Frau und seine Kinder in der Schweiz lebten: das Ehepaar hat sich wöchentlich zwei oder drei Briefe geschrieben, die für den Weg übers Meer vier Wochen brauchten; es dauerte also acht Wochen, oder rund zwanzig Briefe lang, bis die Antwort auf eine Frage eintreffen konnte. Abgesehen vom Telegramm für dringende Mitteilungen war dies die schnellste Kommunikation damals.

Um zehn Uhr aber will ich in der Oper sein: dann öffnet die Billetkasse. Vielleicht gelingt es mir, noch einen Platz für die heutige Aufführung einer Verdi-Oper zu bekommen. Davon habe ich auf einem Plakat gelesen. Parma hat zur Zeit Musikfestwochen, und für morgen Abend ist ein Orchesterkonzert mit Werken von Beethoven angesagt. Oper ja, Beethoven nein, ausverkauft.

Von einem zum andern Ort gibt’s immer wieder lange Wege zu Fuß. Das scheint mir die beste Art, eine Stadt kennenzulernen: sie geschäftlich zu Fuß durchqueren, sich nach Adressen erkundigen und durchfragen, sich verirren, zurückfinden, dabei Orte wiedererkennen und bei all dem müde Füße bekommen und das Bedürfnis empfinden, diese unter einem Bistrotischchen auszustrecken. Für das Wort 'Schritttempo' haben sie im Italienischen eine schöne Bezeichnung: 'Passo d'uomo'. Und die Stadt – die Altstadt – ist wohl der einzige Ort, wo die Menschen dieses Landes noch den Menschenschritt pflegen.

Wer dagegen eine Stadt auf einer geführten Tour kennenlernen will, wird von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten geführt: wie wenn all das dazwischen nicht des Sehens würdig wäre. Es reiht sich in seinen Eindrücken Höhepunkt an Höhepunkt: es ist, wie wenn du Leberpain pur essen wolltest.

Zurück auf den Domplatz. Nun ist er voller Menschen: Gruppen von Touristen, vor allem aber Schulklassen. Lehrer sprechen beredt über die Bau- und Bildwerke, und ich staune über die Aufmerksamkeit der Jugendlichen. Mir scheint, solche Ausflüge und Besichtigungen gehören zum Schulalltag. Gerne schleiche ich mich hinten an die Gruppen heran und höre eine Weile zu. Schnäppchenjäger. Nur nicht zu viel aufs Mal.

Dann trete auch ich ein in den achteckigen, turmartigen Bau, der seitlich dem Dom vorgelagert ist, in das Baptisterium. Der Mann an der Kasse, als ich ihn frage, ob ich mit diesem Billet auch am Nachmittag wieder kommen könne, sagt freundlich: Auch morgen, falls ich da bin; ich werde Sie kennen.

Der hohe Raum ist ausgefüllt von Bildreihen: eine Überfülle von farbigem Bildwerk, das ich nur im Einzelnen auffassen und lesen kann. Wiederum stelle ich mich hinten an, da und dort, am liebsten bei den Schulklassen, und dies und das wird mir aufgeschlüsselt. Nicht an kunsthistorischen Erläuterungen und Wertungen bin ich interessiert, nur an Geschichten. Mit der Zeit verstehe ich das Konzept der Bilddecke, den Weg vom ersten zum zweiten Testament, den Gang von der Erde zum Himmel, und dann werden mir langsam die Geschichten verständlich. Es sind ja alles vertraute Geschichten, und es sind immer wieder dieselben Episoden aus dem dicken Buch der Bibel, die den Menschen offenbar wichtig geworden sind. Erst wenn ich erkannt habe: Anbetung der Könige, Flucht nach Aegypten, der Zwölfjährige im Tempel – erst dann kann ich mich der vom Künstler so zart nachempfundenen hingebungsvollen Geste der Maria zuwenden.

Einem Publikum solche Kunst vermitteln, hieße daher: ihnen die Geschichten aus der Bibel wieder erzählen, während sie vor dem Bild stehen oder sitzen. Denn diese Geschichten sind den wenigsten noch vertraut. Und Religionskunde in der Schule erteilen müsste ebenso heißen: anhand von solchen Bildern (es könnten auch Fotos davon sein) die alten Geschichten wieder erzählen, die biblischen und die aus dem Koran und die mythischen Erzählungen der alten Griechen. Erst auf dieser Grundlage dürfte es erlaubt sein, Theorien und Glaubensinhalte zu lehren.

Draußen auf dem Platz – was eigentlich vorher hätte geschehen sollen – der Rundgang um das Gebäude und das Lesen der Eingangstüren.

Jesus und Johannes der Täufer, diese beiden Pole. Das Wort: Jener muss zunehmen und ich muss abnehmen. Das Weihnachtsfest ungefähr am kürzesten Tag des Jahres, wenn das Licht wieder zunimmt, und das Johannisfest am längsten Tag, wenn die Tage beginnen kürzer zu werden. Am Baptisterium bekommt die Geschichte des Johannes ihren Raum.

Abends in die Oper. Ich habe keine Jacke, keinen Kittel, keine gebügelten Hosen, kein weißes Hemd. Nun sagen alle, das spiele heutzutage keine Rolle mehr und es gebe auch in der Oper Leute, die mit Jeans kommen. Das Gegenteil ist wahr. Gerade wer mit Jeans kommt, kommt gestylt. Die Bedeutung des Outfit ist größer, nicht kleiner geworden. Was ziehe ich also an? Ein am Lavabo gewaschenes Hemd, das am Bügel getrocknet hat; die etwas feineren Restauranthosen; die frisch gekauften hellen Turnschuhe. Es braucht einiges an Überwindung, dass ich mich in dieser Gewandung in die schwarzgefrackte Gesellschaft am Theatereingang einreihe. Und ich bin froh, dass gleich im ersten Entrée die billigen von den teuren Besuchern getrennt werden: in einem Treppenhaus steige ich viele Stufen hinauf in den Flohboden, der sogar seine eigene Pausenbar hat.

Ein schöner Platz so hoch oben, mit Blick übers ganze Theater und in den Orchestergraben hinab. Nachdem ich meine Nummer gefunden und meinen Sitz eingenommen habe, weicht die Befangenheit.

Eine Verdi-Oper wird gespielt vom einheimischen Ensemble und begleitet vom städtischen Orchester. Die letzte Verdi-Oper habe ich in Budapest gesehen, damals auf ungarisch, und die Handlung wurde mir damals von der Gastgeberin erzählt. Hier nun lese ich das Programmheft, das viersprachig abgefasst ist. Allerdings lohnt es sich, jeweils im italienischen Text nachzusehen, was gemeint sein könnte, wenn die deutschen Sätze etwas gar sibyllinisch daherkommen. Simon Boccanegra.

An der Ouvertüre erweist sich die Qualität des Orchesters. Gute Provinz. Gerade so, dass ich gerne mit ihnen zu proben anfinge. Ernstzunehmen. Aber nicht die hohe italienische Kunst.

Der Vorhang geht auf. Die Sänger überzeugen mit schönen Stimmen und differenzierter, lebendiger Gestaltung. Italienità. Dennoch packt mich die Oper nicht, wie es in diesem Umfeld eigentlich zu erwarten wäre, und langsam komme ich zur Überzeugung, dass es an Verdi selber liegt, dem hier nicht sein Bestes gelungen ist. Vielleicht wirkt es sich auch aus, dass fast ausschließlich Männer, und dann noch zwei Bässe, in den Hauptrollen stehen; dass dies einen etwas düsteren Klang ergibt.

Dennoch ist der Abend ein starker Eindruck, mit all dem Drum und Dran. Eigentlich wäre noch ein Ausklingen angebracht, doch so allein durch die Straßen ziehen oder in ein Lokal sitzen…

Da lege ich mich doch lieber flach ins Bett. Wollen wir mal sehen, ob Verena noch wach ist.

25 Parma

Nach dem Frühstück im Hotel habe ich einen ganzen Tag vor mir. Gelingt es mir vielleicht ein bisschen, nach dem Vorbild dieser Leute, die sich da in der Stadt zeigen, einfach Zeit zu haben, mir Zeit zu nehmen? Ich setze mich ins GCC, ins Gran Caffè Cavour, und lese. Ich schlendere wieder zum Dom und zum Baptisterium und verweile in diesen Räumen, ich bummle den Corso Cavour hinauf bis zur Piazza mit dem Denkmal für Garibaldi, schwenke in die Via Mazzini ein und gehe dann nochmals am Theater vorbei.

In der italienischen Stadt spielt der Corso eine wichtige Rolle. Zum ersten Mal habe ich das in Brescia erlebt: dieses abendliche Flanieren der ganzen Bürgerschaft, auf und ab, die Jungen als verliebte Pärchen oder in Burschen- und Mädchengruppen, die Alten – die Männer – wie Senatoren. Man sieht sich.

Während der Domplatz in seltener Reinheit das romanische Parma verkörpert, manifestiert sich im Corso Cavour mit seinen neuklassischen Bauten das 19. Jahrhundert, das neugegründete Italien des Risorgimento.

Das Dreigestirn Mazzini-Garibaldi-Cavour symbolisiert den Stolz auf die nationale Einheit und die damals gewonnene Unabhängigkeit von den Großmächten Frankreich und Österreich-Ungarn. Was mir bisher vor allem als Namen auf Straßenschildern begegnet ist, wird mir hier in Parma zum ersten Mal verständlich. Mazzini war der Revolutionär, der seine geheimen Bünde gegründet und aufrührerische Schriften verfasst hat. Garibaldi war der Militär, der sich immer wieder an die Spitze von Freischärlern gestellt hat, verhaftet wurde, flüchtete, nach Amerika verschwand, wieder auftauchte und von Sizilien aus mit seinen Truppen nach und nach Italien eroberte. Und Cavour war der Diplomat, der mit großem Geschick mit den Mächtigen verhandelte und auf diese Weise zum Gelingen des italienischen Nationalstaates beitrug.

Wir haben ja auch in der Schweiz unsere Helden, den Wilhelm Tell etwa, und seine Verehrung bis zur Denkmalwürdigkeit geht auch ins ausgehende 19. Jahrhundert zurück. Was war das für eine Zeit, welche Aufrührer, Umstürzler, Outlaws auf den Sockel hob? Ich konnte nicht herausfinden, inwiefern die drei im Bewusstsein der Italiener noch eine Rolle spielen, abgesehen davon, dass man fast in jeder Stadt an einem berittenen Garibaldi vorbei spaziert. Das gehört auch zu jenen Dingen, die man nicht fragt, jedenfalls nicht mit beschränkten Sprachmöglichkeiten. Der Willy Tell hingegen, möchte ich behaupten, samt seiner Armbrust, welche jahrzehntelang als Qualitätssymbol herhalten musste, kann bei uns Schweizern nur noch eine ironische Verehrung erwarten. Ich erinnere mich aber daran, wie alle zwei Jahre der Dramatische Verein Neerach Schillers Tell auf die Dorfbühne brachte, und zwar mit richtigen Pferden, wodurch die Aufführung gegenüber jener im Zürcher Schauspielhaus als haushoch überlegen galt. Das muss in den 1950er-Jahren gewesen sein. Eine dieser Vorstellungen habe ich als Bub selber noch gesehen, und allen im Saal ging’s uns ans Herz: Das war Tells Geschoß! Ohne jede Ironie.

Ich habe schon den Akzent erwähnt, mit dem hier in Parma das Italienische gesprochen wird, das rollende r, das die Illusion gibt, es seien Franzosen, die italienisch sprechen. Vielleicht hat es damit zu tun, dass Parma sehr lange unter französischem Einfluss und französischer Führung gestanden hat.

Über Mittag nun also der Umzug ins ,Lazzaro’. Die Eingangstür führt in eine Trattoria, dort schreibe ich mich auch ein. Dann geht’s wieder auf die Straße hinaus, und bei der nächsten Tür schließt die Wirtin auf und führt mich viele Stufen hinauf durch ein enges Treppenhaus. Im dritten Stock öffnet sie das eine der beiden Zimmerchen. Es gibt insgesamt sechs solche Kammern, mit Lavabo. Das Bad befinde sich unten. Als ich später nachsehe, kann ich weder Badewanne noch Dusche vorfinden. Erst beim zweiten Blick merke ich, dass oben an der Decke eine Brause hängt. Wenn man duscht, wird das ganze Cabinetto unter Wasser gesetzt. Laissez sécher, sagen sie in Südfrankreich.

Ich öffne ein Fenster. Von hoch oben schaue ich hinab in die Gasse und ins bewegte Leben dieser Stadt, nahe genug, das Getriebe wahrzunehmen, und weit genug entfernt, sich nicht am Lärm stören zu müssen.

Ich trete aus dem Zimmer ins Treppenhaus hinaus, steige noch die übrigen paar Stufen weiter hinauf und komme auf eine kleine Terrasse hinaus, von wo ich in die Hinterhöfe und über die Dächer von Parma blicke und die Türme und Kuppeln der Kirchen zählen kann. Hier hinten ist alles still.

Eine Stunde Flöte spielen über diesen Dächern. Eine Stunde auf dem Bett liegen am Nachmittag und auf die Geräusche hören.

Wie würde ich einer Gruppe die Stadt Parma zeigen und nahe bringen wollen?

Ich blicke zur Zimmerdecke hinauf, und es wird mir bewusst, wie in Italien die Räume höher sind als bei uns. Vielleicht hat es damit zu tun, dass so im Sommer die Hitze in den Häusern weniger spürbar ist oder dass die Luft besser zirkulieren kann. Jedenfalls tönt die Flöte besser in diesen Zimmern.

Abends will ich's doch noch versuchen: vielleicht ist ein verwaistes Billet fürs Beethoven-Konzert zu erhaschen. Ich suche das Festspielhaus auf, eine halbe Wegstunde außerhalb des Zentrums. Ein Neubau auf der grünen Parkwiese, sehr luftig-durchsichtig angelegt. Die Kasse gibt abschlägigen Bescheid, was ich nicht anders erwartet habe. Aber ich hoffe auf einen Zufall und stelle mich außen, beim Eingang, abwartend auf. Das langsame und zunehmend dichtere Eintreffen der Konzertbesucher ist auch ein Schauspiel für sich. Jenes Ehepaar mit Hund, er verabschiedet sich von ihr, sie geht ins Konzert, er mit dem Hund davon, kommt aber später auch noch, jetzt umgezogen und ohne Hund, versteht sich… Aber es tut sich die berühmte Gelegenheit nicht auf. Ich merke es bald: da sieht niemand danach aus, dass er eine Karte loswerden will, weil plötzlich verhindert… hätte ja sein können.

26 Der Parma entlang

Ungern steige ich am frühen Morgen aus dem Bett und verlasse das ‚Lazzaro’. Lange geht’s dem reißenden Fluss, der Parma, nach, gegen die Strömung, aber auf gepflegtem städtischem Trottoir, südwärts, später am bloßen Straßenrand neben vorbeibrausenden Autokolonnen. Mühsam. Es will sich einfach kein Weg auftun neben der Straße. Nach zwei oder drei Stunden mache ich im Dorf Vigatto eine Pause, trinke in der Bar meinen verdienten Apero und schreibe dem Franz in einem Briefchen von meiner tristen Wanderangelegenheit.

Nachher wage ich den Schritt, stampfe einem Bauern übers Feld und komme an den Fluss. Es hat sich gelohnt. Eine wilde Urlandschaft. Die Straße, die Zivilisation ist weit weg. Erlengebüsch und Weiden. Ich setze über Steine und Geröll und schaue dem Wasser zu, das ans Ufer schäumt und daran knabbert und reißt. Eine Fahrspur, auf der sonst Lastwagen sich durch den Fluss pflügen, hinüber zum Kieswerk am anderen Ufer: undenkbar jetzt bei diesem Gewoge. Ich suche meinen Weg auf Pfaden und Feldsträßchen und auf Kiesbänken, die noch nicht überflutet sind.

Es dürfte Mittag vorbei sein, als sich der Hunger meldet: denn in der Ferne habe ich einen Campanile zu sehen bekommen. Eine halbe Stunde später bin ich dort, und wirklich, bei der Kreuzung, an der Landstraße, findet sich ein Restaurant, ein sehr gepflegtes, und ich bin wieder einmal froh um meine saubere, frische Kleidung im Rucksack. Das Essen ist so gut, wie es nicht besser sein könnte in dieser Provinz, die man als Hochburg der norditalienischen Küche bezeichnen könnte. Es ist aber auch, nach diesen Stunden einsamen Weges, ein Genuss, wieder unter Menschen zu sitzen, bei den drei Geschäftsherren da drüben das soziologische Gefälle zu studieren oder dem Liebespaar am andern Tisch, das ganz sicher keine Ehepaar ist, sein Romänchen anzuhängen.

Der Nachmittag, nach dem Ruhestündchen im Schatten eines Baumes, bringt mich auf ruhigere Nebenstraßen, durch Allerweltsdörfer, einmal an einem Schloss vorüber, wo man Unterkunft haben könne, wie man mir sagt – aber es ist mir zu weit weg, oben in der Höhe, eine richtige Gralsburg von weitem anzusehen, und ich möchte an diesem Tag noch die Brücke bei Langhirano erreichen und hoffe dort ein Albergo zu finden.

Langhirano ist dann wirklich ein ‚langes’ Dorf, aber ein Logis ist nicht zu haben. Das bestätigen mir mehrere Auskunftspersonen. Der Mann mit dem Hund weiß etwas, ‚nicht weit von da, etwa vier Kilometer den Berg hinauf…’ Nein, ich habe keine Lust auf solche Suchaktionen, bei denen es dann am Ende heißt ‚completo’. Ich gehe über die Parma und steige die Wiese hinauf; oben ist ein Sträßchen zu sehen, das in südöstlicher Richtung über den Berg zu führen scheint.

Ich will bei einem Bauern unterzukommen versuchen. Denn das Wetter ist immer noch unbeständig. Es ist zwar den ganzen Tag trocken geblieben, aber für die Nacht habe ich so meine Zweifel.

Bei einigen Häusern gehe ich vorbei, immer suchenden Blicks. Fragen kostet nichts, aber Absagen sind schwer zu ertragen. Und die Häuser sagen selber schon einiges aus. Was macht es aus? Die Vorhänge, die Haustüren, die Hundehütten, die Gemüsegärtlein?

Bei einem Bauernhaus werde ich von drei Hunden mit wildem Gebell empfangen. Im Garten ist eine Frau daran, Salat zu holen. Die spreche ich an. Einen Platz in der Scheune zum Bleiben über Nacht hätte ich gern. Als Pilger. Sie müsse den Mann fragen, sagt sie und geht ins Haus. Der kommt und beschaut mich, aber es ist klar: Sie hat das Sagen. Ich rede vom Schlafsack und sage, Wasser habe es ja da am Brunnen, und mehr benötige ich nicht. Die Wolken am Himmel tun das Ihre und verdüstern sich. Ja, sagt er, das sollte schon gehen, und er zeigt mir einen Platz in der offenen Scheune, wo sogar Strohballen liegen. Nur die Hunde wollen sich nicht einverstanden erklären und lassen sich von niemand ruhig stellen. Das wird sich geben, denke ich und richte mich ein.

Nach einiger Zeit kommt die Frau und fragt, ob ich zu essen wünsche. Ich habe vorher gesagt, ich brauche nichts weiter, und deshalb sage ich nein. Kaum ist sie gegangen, bereue ich es, nicht weil ich Hunger gehabt hätte, aber weil ich ganz gern das Wohnhaus von innen gesehen hätte. Später kommt sie noch einmal, jetzt mit einer weiteren Frau, und fragt, ob ich noch etwas brauche, vielleicht ein Glas Wein. Das wäre jetzt also die ‚zweite Chance’.

Die andere, jüngere Frau heißt Mara, sie sei die Nachbarin, und sie bietet mir an, sie mache mir am andern Morgen Frühstück. Um sechs? Das sei kein Problem. Kommen Sie einfach und läuten Sie an der Tür.

Nun sitze ich also in der Stube bei diesen Bauersleuten. So sehr anders als bei Hobi’s in Valens ist es hier gar nicht. Dominant auch hier der Fernseher. Auf dem Buffet Familienfotos. Hinter dem Tisch der Sohn, den ich nach seiner Arbeit frage. Wurstfabrik, Parma-Salami, unten in Langhirano. Die Landwirtschaft des Vaters scheint aus Altersgründen nicht mehr groß betrieben zu werden. Ein bisschen Vieh, mehr zum Zeitvertreib.

Kaum trete ich wieder hinaus auf den Platz, geht das Hundegekläffe von neuem los. Ich krieche in meinen Schlafsack, und nach einer halben Stunde haben sie sich endlich beruhigt. Aber die kleinste Bewegung: das Stroh unter mir raschelt, und das Wüten geht wieder an. Und dies während der ganzen Nacht. Nichts von Gewöhnung.

Gegen Mitternacht prasselt der Regen aufs Dach. Schön, so im Trockenen zu liegen.

27 Sasso

Mara kommt, als ich läute, an die Gartentür, aber nicht allein: zusammen mit 23 jungen Hunden. Das ist meine Familie, sagt sie. Sie räumt mir den Weg frei und führt mich in die Küche.

Ich habe Sie gestern Abend schon gesehen, sagt sie, unten in Langhirana, als Sie mit dem Mann mit Hund gesprochen haben.

Es gibt heißen Kaffee und dazu den Inbegriff des italienischen Luxusfrühstücks: trockenen Zwieback. Für mich besteht der Luxus darin, in dieser Küche zu sitzen und mit jemand zu reden. Sie hat ihre Hunde, ich meinen Weg durch Italien, beides ist gleich exzentrisch, und beide haben wir Verständnis für den andern.

Dann geht’s los. Es hat zu regnen aufgehört, aber alles ist nass. Die Straße geht in einen Feldweg über, dieser hört bei einem einsamen Haus auf, ich folge einer Spur in der Wiese, aber auch diese verliert sich, es geht quer übers Feld, auf und ab, nur einfach nach Südost. Längst haben die Schuhe durchgelassen, aber solange ich am Gehen bin, stören mich die nassen Füße nicht. Und dann wieder einsame Sträßchen. Wenn hin und wieder ein Auto vorbeifährt, ist es mir ein angenehmes Zeichen, dass ich noch auf dieser Welt bin.

Einmal ein Wegweiser: da gibt’s eine Kirche aus dem 12. Jahrhundert. Vielleicht komme ich daran vorbei. Ich folge der Straße. Niemand im Dorf auf der Straße, den ich fragen könnte. Bei einem Haus eine Tafel ‚B&B’, bed and breakfast. Da läute ich, werde überschwänglich empfangen, ein Kunde! Aber nein, ich will nur fragen, wo diese Pieve di Sasso ist und ob irgendwo der Schlüssel erhältlich wäre. Ich bin Arduini, und ich werde das abklären, kommen Sie erst mal herein.

So sitze ich also im Fauteuil in der guten Stube. Auf der Kommode liegen die Prospekte des Hauses, Arduini erzählt mir seine Lebensgeschichte, und er hat volles Verständnis dafür, dass ich so früh am Tag noch nicht eine Unterkunft beziehen will – ich hab’s mir aber tatsächlich einen Moment lang überlegt – aber wollen Sie bei uns essen? Wollen Sie eine Dusche nehmen? Er telefoniert unterdessen mit der Dame, die den Schlüssel für die Kirche hat. Und es zeigt sich: am frühen Nachmittag hätte die Signora Zeit, mir die Pieve zu zeigen.

Gut, ich lasse mich darauf ein: ich dusche, ich warte auf das Mittagessen, das seine Frau Loredana für mich kocht, und um zwei kommt dann die Signora Trombi: Französisch- und Lateinlehrerin an der Scuola Media. Er hat ihr offenbar am Telefon von mir berichtet, und sie sagt bei der Begrüßung (und formuliert damit das Motiv meiner Unternehmung auf eine Weise, dass es mir aus dem Herzen spricht): Ist es nicht außerordentlich, dass jemand, in dieser so autoverrückten Zeit, auf die Idee kommt, zu Fuß durch unser ganzes Land zu reisen. Ja, als einen Kontrapunkt, so erlebe ich es.

Arduini fährt uns mit dem Auto hinauf auf den Berg und durch eine Waldstraße hinaus auf einen Sporn, wo in einer Lichtung die Kirche steht: Ein einsamer romanischer Bau. Wir treten ein und stehen in einem reinen, kargen Raum mit unverputzten Steinmauern, mit einem offenen Gebälk aus Kastanienholz, und blicken nach vorn in ein schönes Chor.

Die Kirche ist vor kurzem renoviert worden. Aber mir scheint: ein Denkmal. Von kirchlichem oder kulturellem Leben ist wenig zu spüren.

Ich spiele den beiden ein Konzert auf der Flöte und spüre einmal mehr, wozu Kirchen da sind: um dem Klang Resonanz zu geben.

Sie fahren mich noch auf die Straße zurück, an einen Punkt, von wo aus wir weit übers Land sehen können. Dort drüben ist Canossa, sagt Arduini und zeigt auf eine Burg am Horizont; Sie kennen doch sicher die Geschichte vom Kaiser und dem Papst. Dann nehmen wir Abschied.

Das Wetter ist wechselhaft, den Schirm habe ich in Griffnähe. Am frühen Morgen habe ich viel nasses Gras und lehmigen Boden unter den Sohlen gehabt, und so bleibe ich jetzt auf der Straße. Man kommt eben doch am schnellsten vorwärts. Aber das Bein lässt mich sein Unbehagen über den vielen Asphalt spüren. Zuletzt wäre ich bereit, ein Stück weit, bis zur nächsten größeren Ortschaft, den Bus zu nehmen. Haltestellen sind immerhin angezeigt, nur ist leider kein Fahrplan angeschlagen. Und niemand weiß Bescheid. Denn man fährt ja Auto.

Vetto heißt diese größere Ortschaft. Ein Hotel gibt’s, aber sie haben kein freies Bett, sagen sie. Ich vermute eher: kein angezogenes Bett. Eine Stunde weiter auf der Straße – unterdessen schmerzt wieder jeder Schritt – ist eine kleine Pension am Weg, aber auch da: wegen Bauleuten jedes Bett besetzt. Hier nun aber, in einer knappen Stunde, fährt ein Bus nach Castelnovo ne’ Monti, ich bestelle telefonisch ein Zimmer und fahre dann die neun Kilometer. Es ist das Ende der Buslinie, ich bin der einzige Fahrgast, und der Chauffeur ist froh, jemanden zur Unterhaltung zu haben, erst noch so einen Exoten wie mich; er ist die Dienstfertigkeit selber und führt mich genau vor den Hoteleingang. Er verabschiedet mich mit einer großen Herzlichkeit, wie ich sie nur in Italien erlebt habe.

Eine Viertelstunde später klopft's an meiner Zimmertür: draußen steht ein Bub und streckt mir meine Landkarte entgegen, die mir im Bus aus der Jackentasche gefallen sein muss. Er ist der Sohn des Buschauffeurs.

Gibt’s in Castelnovo einen Arzt?, frage ich im Hotel. Gewiss, es gibt sogar einen Pronto-soccorso im Spital, ein paar Schritte von da, sagen sie mir.

Gut, dann widme ich den nächsten Tag meinem Bein. Denn so viel weiß ich: wer sich in Spitalhände begibt, setzt dafür am besten einen ganzen Tag ein. Morgen. Aber ein Nachthemd werde ich mir auf keinen Fall überziehen lassen.

28 Pronto soccorso

Wie sieht es wohl aus in einem italienischen Spital? Kurz nach acht trete ich ein. So viel anders ist es da nicht. Vor Jahren war ich einmal wegen Ohrenweh im Spital von Lugano, auch damals ohne ärztliche Einweisung.

Da komme ich zunächst zum Schalter für die Anmeldung, und sie sagen dir alles. Sie füllen ein Formular aus, sie wollen einen Ausweis sehen, und dann heißt es: warten. Genau so habe ich es mir gedacht.

An der Wand sind in vielen Sprachen, sogar auf japanisch, die vier Dringlichkeitskategorien erklärt, und ich, das versteht sich, kann mich selber in der Kategorie Gelb erkennen: gar keine Dringlichkeit. Richtig, nur schon hier sitzen tut meinem Bein gut.

Da sind um mich herum ganz alte Menschen, aber auch Mütter mit ihren Kindern, einer mit einer Krücke, die ganze Auswahl von Lädierten. Und alle haben Geduld, ich auch.

Nach einer Stunde werde ich aufgerufen. Eine Ärztin führt mich in ein Zimmer mit Schragen und fragt mich über mein Gebresten aus. Sie betastet mein Bein, bewegt meinen Fuß, fragt nach den Schmerzen und gestattet sich die Bemerkung, mein Vorhaben sei vielleicht nicht gerade die richtige Therapie. Weil sie sicher sein will – sie lässt das Wort ,Gefahr einer Embolie’ fallen – überweist sie mich dem Spezialarzt und entlässt mich vorläufig: das dauere noch ‚un orino’, ein Stündchen.

Aus dem Stündchen werden einige Stunden, aber ich habe ja Zeit. Und ich komme unterdessen mit einem Leidensgenossen ins Gespräch und erfahre seine ganze Geschichte samt Weltanschauung.

Es ist am frühen Nachmittag, wo wir zwei dann noch als letzte drankommen. Der Spezialist nimmt sich Zeit und untersucht mein Bein gründlich mit Ultraschall. Sein Bericht ist beruhigend. Was meine Schmerzen verursacht, nennt er ‚strapazzati di muscoli’ oder ähnlich, und damit weiß ich: da kann man zwar nichts machen, aber es geht von selbst wieder vorbei. Er entlässt mich mit einem Papier aus dem Computer, worauf prophylaktische Maßnahmen stehen sowie die Aufforderung, mich innert zwei Wochen wieder zu melden, entweder hier oder in irgend einem andern Pronto-Soccorso.

Zurück zur erstbehandelnden Ärztin. Sie wünscht mir Glück auf meinen weiteren Weg, und nun will ich noch das Finanzielle besprechen. Denn ich weiß, dass meine Krankenkasse die Kosten auch im Ausland übernimmt. Ich mache aber große Augen, als sie fragt: Welche Kosten? Das kostet Sie in Italien nichts. Und der Assistent sagt: Da rührt ja eben der desolate Zustand des italienischen Staates her.

Als ich aus dem Spital trete, schüttet es. Mein Schirm steht im Hotel. Ich flüchte ins nächste Restaurant und entschließe mich zu einem feinen Essen: damit fördere ich wenigstens das Steueraufkommen für das arme Italien.

Gegen Abend hellt sich der Himmel auf. Ich mache noch, ohne Gepäck, einen Spaziergang zum berühmten Felsen hinauf, der dem Ort Castelnovo zu seinem Beinamen ‚nei Monti’ verholfen haben dürfte. Und alle lassen es mich wissen: Sogar Dante habe diesen bemerkenswerten Berg, die ‚Pietra Bismanteva’, besungen.

29 Sologno

So steige ich also anderntags wiederum gegen diesen seltsamen Berg hinauf. Eine Straße führt die Fahrzeuge den Abhang hinauf, bis hin an den senkrecht aufragenden Fels, der wie ein riesiger Pilz aus der Erdrinde herausgewachsen ist. Ein Kirchlein duckt sich unter die Fluh, Sonntag ist’s: die Gläubigen sind da, auf dem Parkplatz reihen sich die Autos. Auch Klettervolk hat sich eingefunden, tummelt sich am Fuß des Felsens und hantiert mit Karabinerhaken, und einige hängen schon oben in den Seilen.

Ich finde einen steinigen Fußweg, auf dem man zwischen den Felsen ohne Kletterei hochkommt, und nach einer halben Stunde stehe ich oben auf dem Plateau. Weide und Erlengebüsch, eine flache, grasige Spazierlandschaft, die auch benützt wird: Wandergruppen bewegen sich auf den Wegen, hinter ihrem Wanderleiter hertrottend. Ich umschreite das ovale Gebiet; es misst vielleicht in der längsten Ausdehnung einen Kilometer und fällt rundherum fast senkrecht ab; und ich genieße die Weitsicht und übersehe meine ganze letzte Etappe.

Wieder auf dem gleichen Bergpfad hinab, zum Kirchlein, hinein ins Menschengewühl, zur Gaststätte. Einen Wegweiser habe ich gesehen, ein farbiges Zeichen, eine Dreibuchstabenabkürzung: niemand kann mir sagen, was es bedeuten soll. Ich folge daher aufs Geratewohl der Markierung, in der Annahme, sie bezeichne einen Weg, der nicht irgendwo einfach aufhört. Schon nach kurzer Zeit bin ich allein in der weiten Landschaft. Einmal ein Haus, wo sie auf dem Dach stehen und neue Ziegel auflegen.

Meine Frage, wohin dieser Weg führe, wird regelmäßig mit der Gegenfrage quittiert: Wohin wollen Sie denn? Und schon bin ich in Schwierigkeiten. ‚Nach Rom’ zu sagen, hilft nichts. Sie würden mich womöglich in die entgegengesetzte Richtung schicken wollen, weil für sie der Weg nach Rom über Castelnovo geht.

So verlasse ich mich lieber auf die allgemeine Richtung, und in dieser verläuft auch mein Wanderweg. Einmal geht’s auf einem Straßenstück auf einer langen Brücke über den Fluss Secchia, dann zweigt wieder ein Fußweg ab und führt mich steil aufwärts in die Höhe.

Ein einsames, verlassenes Bauerngehöft. Auf die Mauerecke ist rot-weiß ein Wegzeichen gepinselt und mit schwarzem Filzstift handschriftlich eine Abzweigung nach Sologno vermerkt. Ich nehme das als persönliche Aufforderung, denn ‚Sologno’ ist auch auf meiner Karte vermerkt. Ein Waldweg, steil ansteigend und sauber ausgeschnitten. Aber Wegzeichen gibt’s hier keine mehr. Bei jeder Gabelung dieselben Zweifel: links oder rechts? Wo gibt’s die frischeren Spuren? Welcher Weg sieht eher begangen aus? Wo in dieser Hanglandschaft würde ich das Dorf anlegen wollen?

Manchmal ist es deutlich, dass ich mich falsch entschieden habe: der Weg verliert sich, geht aus. Manchmal schreite ich beide Wege ein Stück weit ab und werde nicht gescheiter dabei. Ein, zwei Stunden steige ich da herum und finde weit und breit kein Haus, keine Straße, nichts als Bäume. Ich weiß nur das eine: irgendwo auf diesen Höhen, in diesen Wäldern, muss Sologno sein. Es ist Nachmittag, es geht gegen Abend… was mich beruhigt: zu wissen, dass sich in meinem Rucksack ein Schlafsack befindet.

Da tönt eine Glocke durchs Gehölz. Der Weg steigt nicht mehr an, er ist breiter geworden: eine Fahrspur. Ich biege um eine Kuppe – und sehe vor mir das Dorf.

Zwischen Bauernhäusern durch komme ich zur Kirche, und gleich daneben steht die Bar. Großes Treiben und Reden. Die Männer spielen Karten, die meisten stehen im Kreis darum herum und schauen dem Spiel zu. An der Theke nehme ich zunächst mein Bier, dann frage ich, ob’s hier eine Unterkunft gebe. Das Schulhaus, sagt er. Ich bin am Schulhaus vorbei gekommen, habe die Orientierungstafel draußen gesehen, habe gelesen, dass das Haus umfunktioniert worden ist. Fünf Minuten später ist der Verantwortliche da: Ich bin Roberto.

Er fragt sich, ob es das Richtige ist für mich; ob es sich lohnt, für mich allein die Warmwasseranlage… Ich brauche nur ein Bett, ich habe sogar einen Schlafsack… Gut, er führt mich über die Straße und schließt mir die Tür auf. Er zeigt mir das ganze Haus, das die Gemeinde, als die Schule vor ein paar Jahren geschlossen wurde, übernommen hat und in eine Unterkunft für Gruppen umgebaut hat. Einzelne Zimmer mit Bad, eine Küche, einen Aufenthaltsraum.

Er ist erfreut, als er hört, dass ich Lehrer gewesen sei, professore di musica, und ich glücklich sei, in einem Schulhaus übernachten zu können. Ich bekomme die Schlüssel und zahle ihm die 20 Euro für die eine Nacht. Auf das warme Wasser verzichte ich, sonst müsste er 600 Liter aufheizen.

Dann gehen wir zurück in die Bar. Roberto unterhält sich gerne mit mir, und ich frage ihn, was er sei. Er arbeite bei der Post und fühle sich gar nicht wohl dabei. Die Arbeit sei schlecht bezahlt, das Betriebsklima sei schlecht, er habe keine Aufstiegschancen. Nun habe er sein Pensum aufs Minimum reduziert und sei vor allem Hausmann, während seine Frau, die auf der Bank arbeite und einen guten Posten habe, von morgens sieben bis abends sieben fort sei. Daneben kümmere er sich um solche kommunalen Angelegenheiten, eben zum Beispiel um das frühere Schulhaus, und spiele in der banda, und damit sind wir auf dem Gebiet der Musik.

Über der Bar gibt’s auch eine Trattoria. Ich erkundige mich, ob’s zu essen gebe, und sie fragen, um welche Zeit und welches Menu ich zu speisen wünsche.

Als ich dann um sieben heraufkomme, ist für mich, als einzigen Gast, im großen Speisesaal gedeckt. Die Familie lebt auch in diesem Raum, der für hundert Leute Platz bieten könnte. Eben ist der älteste der Buben heraufgekommen, ein Dreizehnjähriger, und hat sich von der Nonna in die Arme schließen lassen. Nun sitzt man vor dem Fernseher, die Signora tischt mir auf. Als primo habe ich mir Tortelloni machen lassen, darnach kommt ein Fisch daher, alles wunderbar zubereitet. Dazu der vino rosso und das Mineralwasser.

Dann gibt’s auch für die Kinder, die Nonna und den Patron zu essen, am langen Tisch nebenan – nachdem sie das Essen gebracht hat, hütet die Signora unten die Bar – sie essen schweigend ihre zuppa und darauf eine pasta mit Hackfleisch und lassen sich derweil vom Fernseher unterhalten.

Der Mann, kaum hat er den letzten Bissen hinuntergeschluckt, geht und löst seine Frau wieder ab, und sie setzt sich ans Essen.

Unterdessen komme ich zu meinem Salat (stets mit viel Tomaten). Während ich auf den Kaffee warte, sitzt am andern Tisch nur noch die Nonna, und ich frage die Frau mit ihrem kantigen Gesicht – nur um etwas zu fragen und aus Neugier, wie die alte Frau wirkt, wenn sie endlich etwas sagt – ob sie die Mutter des Mannes oder der Frau sei. Und damit ist das Fässlein angezapft, und sie erzählt mir von ihrem schon lange verstorbenen Mann, der dieses Haus gebaut und in die Höhe gebracht habe. Ich spüre eine Wärme und glaube zu merken, wie ich durch meine Frage zu einem kleinen Ereignis für sie geworden bin. Seltsam, diese Schweigsamkeit am Familientisch und diese Gesprächigkeit mit dem fremden Gast.

Drei Generationen in einem Haushalt. Das war früher auch in unserem Land der Normalfall. Wenn man heute etwa der Großfamilie nachtrauert, so darf man nicht übersehen, dass sie auch ihre besonderen Probleme hatte. Ich bin in dieser bäuerlichen Welt noch aufgewachsen, und ich habe die dabei entstehenden Spannungen miterlebt. Meine Eltern hatten bei ihrer Heirat wohlweislich darauf bestanden, für sich eine eigene Stube einzurichten, um an einem Ort ihre private Sphäre für sich und ihre Kinder zu haben; ich denke, sie hatten sich eine Generation früher ihre diesbezüglichen Erfahrungen machen können.

Als Beobachter wandern meine Gedanken auch zurück zu ehemaligen Schülerinnen und Schüler, die in einer Wirtschaft aufgewachsen sind. Ich habe oft (aber nicht immer) diese Kinder als sehr umgänglich, aber ein wenig an ihrer Seele verwahrlost erlebt. Ich denke, es hat damit zu tun, dass eine solche Mutter, die gleichzeitig Wirtin ist, sich stets dazu genötigt sieht, ein aufgeräumtes Gesicht zu machen; eine Rolle in der Öffentlichkeit zu spielen. Sie darf sich nicht gehen lassen, sie darf ihre Kinder nicht anfahren. Die Kinder erleben ihre Mutter selten in der Echtheit. Spannungen, die nicht ausgetragen werden können, aus Anstand, aus Geschäftssinn, aus Diskretion, können eine große Belastung für Kinder werden.

Öffentlichkeit und Diskretion, Transparenz und privates Familienleben… In Chiavenna noch hatte ich den Eindruck, dass die Menschen auf der Straße mehr von sich zeigen, weniger verstecken als bei uns in der Schweiz.

Die Kinder und die Nonna haben sich unterdessen wieder vor den Fernseher gesetzt. Ich bestelle noch ein Dessert, auch wenn sie nur konfektioniertes Puddingzeug haben, nur um meine Mahlzeit noch ein bisschen in die Länge zu ziehen, und einen zweiten Kaffee. Drüben im großen, leeren Schulhaus ist der Abend noch lange genug.

30 Mit Ruth in Parma

Heute Mittag kommt meine Schwester Ruth in Parma an. Sie will mich einige Tage auf meinem Weg nach Süden begleiten. Ich habe ihr versprochen, dass ich sie am Bahnhof abhole. Ich habe ein Zimmer im ‚Lazzaro’ für uns reserviert und freue mich darauf, ihr den Blick von der Dachterrasse zu zeigen.

Nun will ich also heute mit dem Bus nach Parma reisen. Das sollte doch möglich sein in einem halben Tag, denke ich, ich habe dafür zu Fuß drei Tagesetappen gebraucht. Es ist aber gar nicht so einfach. In Sologno sind die Fahrzeiten nur bis Castelnovo bekannt. Ich fahre am Morgen mit dem ersten Bus um Viertel vor sieben los. Da sitzen vor allem Jugendliche, auf dem Weg in die Schule. In Villa Minozzo ist die scuola media, dort gilt es auch den Bus zu wechseln.

Nach Parma? Da haben Sie keinen Anschluss. – Aber ich bin doch erst vorgestern ein Stück weit mit einem Bus nach Castelnovo gefahren, der von Parma kam, wende ich ein. – Der ‚corriere’ nach Parma fährt erst am frühen Nachmittag.

Längst wird die Post nicht mehr von einem Läufer gebracht, die Postkutsche hat ihn abgelöst, später das Postauto mit dem Posthorn und heute ein privates Busunternehmen, das mit der Post nichts mehr zu tun hat, aber noch immer heißen die blauen Fahrzeuge ‚corriere’.

Ich muss mit einem Bus nach Reggio Emilia fahren und von dort den Zug nach Parma nehmen. Dieser Bus fährt aber in Castelnovo nicht dort ab, wo wir ankommen, und er fährt in Reggio nicht an den Bahnhof, es braucht beide Male noch ein Verbindungsstück.

Schwierig. Ich versuche immer wieder zu verstehen. Auch bei uns ist es undenkbar, von Andelfingen mit öffentlichen Verkehrsmitteln direkt nach Bülach zu reisen. In aller Selbstverständlichkeit vergleichen wir die Fahrpläne über Neuhausen und über Winterthur und nehmen es auch hin, dass wir drei Mal so viel Zeit brauchen wie mit dem Auto.

Zu Hause weiß ich auch, wo fragen. Ich kenne die Telefonnummer vom Rail Service auswendig. Es gäbe etwas Entsprechendes auch hier, ich habe davon gehört. Aber der Normalbürger braucht und kennt solche Dienste nicht, er fährt (und denkt) Auto und kann mir nicht weiterhelfen. Ob das aber anders ist bei uns? Immer wieder muss ich mir bewusst machen, dass ich hier ja mit Menschen zusammenkomme, die auch in der Schweiz normalerweise nicht zu meinem Bekanntenkreis gehören würden.

Die Chauffeure sind sehr hilfsbereit, erklären mir geduldig und deutlich sprechend, wo und wann, und wo fragen.

Im städtischen Bus in Reggio bitte ich eine Studentin (schon in den ersten Sätzen erfahre ich, dass sie Studentin ist und sogar Deutsch studiert), mir die Haltestelle beim Bahnhof anzuzeigen, und weil wir sogleich in einem angeregten Gespräch sind und sie auch beim Bahnhof aussteigt, will ich sie zu einem Kaffee einladen. Das ist aber, scheint es mir, wenn ich die plötzliche Abkühlung richtig deute, bereits eine ungebührliche Annäherung.

Ich komme rechtzeitig in Parma an und schließe eine halbe Stunde später mein Schwesterherz in die Arme.

Der Nachmittag gehört der Stadt. Diesmal bin ich der Fremdenführer, das gibt eine ganz andere Sicht auf die Sache. Ich, der große Bruder, und sie, die es genießt, wie mir scheint, die kleine Schwester zu spielen und mir alle Entscheidungen zu überlassen.

31 Zurück zum Apennin

Es gibt zwei Verbindungen täglich von Parma nach Castelnovo; die erste mit Abfahrt um 6 Uhr früh. Wir sind rechtzeitig dort, lösen am Schalter unser Billet, lassen uns genau erklären, wo der Bus abfährt, fragen vor dem Einsteigen nochmals nach, zur Sicherheit, und lassen uns den Weg fahren, den ich einige Tage zuvor zu Fuß zurückgelegt habe.

Billetkontrolle. Sie sind im falschen Bus, sagt der Kontrolleur. Etwas von ‚Milano’ verstehe ich, und dort wollen wir ja wirklich nicht hin. Was jetzt? Ich erwarte, dass er mir weiterhilft, aber er will meinen Ausweis sehen, und weil auf der schweizerischen Identitätskarte keine Adresse steht, sagt er, diese Karte gelte hier nicht. Jetzt ist es an mir, an seiner Kompetenz zu zweifeln, und ich erkläre ihm, dass ich mich zwei Mal, bei der Billetverkaufsstelle und auch beim ‚autista’, erkundigt hätte. Nichts da, sagt er, und will von mir 25 Euro Strafgeld einkassieren. Kommt gar nicht in Frage. Ich stehe auf und erkläre lautstark und vehement meinen Standpunkt. Die Leute im Bus nehmen’s kühl. Der Bus hält an, ein weiterer Kontrolleur steigt zu, offenbar der Chef. Das Ganze von vorn. Auch er will auf der Buße beharren. Mich würde eher interessieren, wo ich jetzt umsteigen und wie ich nach Castelnovo kommen soll. Plötzlich habe ich eine Idee. Ich greife in eine andere Jackentasche: dort liegt das richtige Billet für diesen Bus. Ich bin nicht im falschen Bus, sondern ich habe ein falsches Zettelchen von einem andern Bus, eins von gestern, gezeigt. Kein Problem, alle sind zufrieden, Missverständnis.

Von Castelnovo lassen wir uns in einem Taxi ein Stück weit fahren, nämlich bis zur Brücke über die Secchia. In einer Bar habe ich mich erkundigt, wo es ein Taxi gebe, und habe die Auskunft bekommen, der Fahrer sitze in der nächsten Bar, im Haus nebenan. In aller Selbstverständlichkeit habe ich angenommen, es gebe in einer Stadt von dieser Größe Taxis. Später musste ich erfahren, dass dies lange nicht überall der Fall ist. Wenn jeder sein Fiätlein hat, kann ein Taxiunternehmen nicht rentieren.

Dann beginnt unsere gemeinsame Wanderung. Diesmal gehen wir an der Abzweigung vorbei, die nach Sologno hinauf führt, und folgen dem bezeichneten Wanderweg. Das geht eine Zeitlang gut, dann auf einmal hören die Zeichen auf. Der Weg mündet in ein breites Flussbett, führt dann aber wieder weiter, aber ohne Markierungen, steigt an durch den Wald, mündet endlich auf eine Straße und zu ein paar Häusern, wo die Leute auf der Veranda sitzen und uns, erfreut über die Abwechslung in ihrem Alltag, wortreich den Weg erklären. Es kommt gar zum Streit, wie man das jetzt sagen müsse, dass wir es verstehen, und die Frau ruft nach ihrem Mann, der herbei kommt und ihren Worten seine Kompetenz verleiht.

Plötzlich sind wir im Dörfchen Cerrè, und da finden sich auch wieder Gottes Fingerzeige, nämlich die rotweißen Markierungen. Findet sich auch eine Bar oder gar eine Trattoria? Zeit fürs Mittagessen wäre es.

Das Lokal feiert das, was man in der Schweiz Wirtesonntag nennt. Aber der Lebensmittelladen ist geöffnet, es gibt also zu essen und zu trinken.

Dann folgen wir dem wiedergefundenen Wanderweg und werden nun auf einer allerschönsten Strecke über sanfte Kreten, an Hecken vorbei, durch Wäldchen langsam in die Höhe geführt. So sollte es immer sein. Aber dann hören die Zeichen auf einmal wieder auf. Drei Wege. Welches ist der richtige? Wir suchen, wir gehen alle drei ein Stückchen weit, nichts. Wir entschließen uns für den, der im Zickzack steil die Krete hinauf führt. Nach einer halben Stunde aber verliert sich der Weg, wir pirschen durchs Gehölz, immer aufwärts, bis wir auf einem Grat stehen und weit hinaus ins Land blicken können: auf allen Seiten nichts als Wald. Aber da oben gibt’s wieder Wegmarken, diesmal gelbe. Also folgen wir denen, und sie führen auf der andern Seite des Berges hinab, steil hinab, schließlich in ein Dorf, wo’s sogar eine Bar gibt. Sie ist zu! Nein, der junge Mann, den wir fragen, macht für uns auf.

Von ihm erfahren wir auch, dass der gelbmarkierte Rundweg – unterwegs einmal hat es einen Wegweiser mit den drei Buchstaben SMP gehabt – zu Ehren eines Journalisten aus diesem Dorf errichtet worden sei, des früh verstorbenen Mauro Pighini. Sentiero Mauro Pighini.

Beim Dorfausgang aber finden sich wieder die rotweißen Zeichen ‚unseres’ Wanderweges. Wir hätten bei jener Dreigabelung den Weg rechts um den Hügel herum wählen müssen.

Im nächsten Dorf soll es ein Albergo geben. Und von dort, rechne ich tags darauf aufsteigen zu können zum Rifugio Battisti, einer bekannten Berghütte, von der sie mir schon in Parma gesprochen haben.

Zwei Stunden Straße, aber ohne Verkehr. Das Hotel finden wir schnell. Aber niemand ist da, der aufmacht. Also wie weiter? In der Bar holt man sich die Auskünfte. Probieren Sie es mit allen drei Klingelknöpfen, rät man mir. Tatsächlich, jetzt zeigt sich jemand. Nein, er sei nicht zuständig, sie hätten das Hotel nicht offen, er komme erst wieder um neun zurück… Ich beharre aber und erkläre, dass wir zu Fuß seien und überhaupt – zuletzt gibt er nach und verspricht uns, um neun Uhr abends uns ein Zimmer zu geben. Also zurück in die Bar und die drei Stunden abwarten.

Dort aber sind wir bald im Zentrum des Interesses und mitten im Fachgespräch über das Bergwandern. Jedenfalls sei es völlig unmöglich, jetzt über den Kretenweg zu gehen. Es liege noch über einen Meter Schnee da oben. Selbst wenn man den Weg kenne, sei es jetzt schwierig. Auch sei das Rifugio ganz sicher noch nicht besetzt.

Der das sagt, ist hier oben Ingenieur im Wasserkraftwerk. Wir sind daran vorbeigekommen. Zusammen mit seinen Kumpanen erklärt er mir Alternativen: Übergänge weiter südlich, wo die Krete des Apennin etwa 200 Meter weniger hoch sei. Leider habe ich keine genaue Karte. Ich mache mir Notizen und Skizzen in mein Handbuch, damit ich mir wenigstens die Namen merken und mich bei Gelegenheit durchfragen kann.

Die angeregten Gespräche und ein, zwei Drinks tun unserer Stimmung gut, und so geht die Wartezeit schnell vorbei. Das Zimmer ist recht, die Betten sind warm. Schlafen ist schön.

32 Prati di Sara

Das Wetter ist trüb am andern Morgen. Vielleicht tut es im Laufe des Vormittags auf. Wir wollen es versuchen: beim Nachbardorf beginnt ein Wanderweg. Wir wollen, auf tieferer Höhe, parallel zur Krete des Apennins, weiter südwärts kommen und dort versuchen, den Kretenweg, genannt Zero-zero, erreichen. Wir haben keine genaue Karte, wir können auf dem Wegweiser nur die angegebenen Stunden lesen, die dazu gehörigen Orte sagen uns nichts. Gut, gehen wir. Der Weg sieht zuverläßig aus, die Markierungen sind lückenlos, wir steigen also bergan. Das Buchenlaub sprießt hellgrün und gibt dem Wald etwas Frisches, Jungfräuliches. Ein Fahrweg, bald nur noch ein Saumpfad, aber es geht zielstrebig aufwärts, den weißen Zacken entgegen.

Plötzlich sind die Äste kahl, die Knospen noch braun, wir haben eine bestimmte Höhe erreicht. Die Schneeflecken auf dem Weg sind größer geworden. Zwischenhinein gab’s mal hie und da blaue Flecken am Himmel, die sind jetzt aber wieder zugegangen. Der Weg steigt an. Er ist stets klar erkennbar und gut bezeichnet. Aber nun gibt es Strecken, wo wir im Schnee unsere frischen Spuren anlegen und manchmal tief einsinken. Und wir sind erst zwei Stunden gestiegen. Ein Wegweiser liegt am Boden, wir stellen ihn auf und drehen ihn so, wie er uns am plausibelsten erscheint. Wir sind auf eine Hochebene gelangt, prati di Sara, hier liegt der Schnee nun lückenlos, und vier Wege sollen von hier wegführen, wenn der Wegweiser stimmt. Vor uns türmt sich, von dunklen Wolken umgeben, ein Berg auf, das muss der Monte Cusna sein, er ist auf meiner Straßenkarte verzeichnet. Wir sind auf 1600 Metern, gemäß Wegweiser, und wir steigen nochmals hundert Meter auf, um dann sicher zu sein: hier können wir nicht weiter, es fehlt uns an Informationen, es sieht nach schlechterem Wetter aus, wir wissen vor allem nicht, wie weit es noch gehen könnte, bis wir auf der andern Seite wieder ins Tal hinab, in die Dörfer kommen.

Wir kehren also um. Es lässt sich nichts machen. Müde und abgekämpft kommen wir in das Dorf zurück, wo uns der junge Mann tags zuvor die Bar aufgemacht hat. Diesmal ist der Papa hinter der Theke, und er lässt sich sogar dazu bewegen, uns mit dem Auto nach Sologno zu führen, rund zehn Kilometer, zurück zu Mauro in der Bar und zu Roberto mit seinem Schulhaus. Sologno, paese del sole, aber heute regnet es.

Groß ist die Freude von Roberto, dass ich seine ‚Pension’ noch einmal beehre. Er lädt uns ein zum Apero bei sich zu Hause. Ich habe in der Bar bereits einen Campari getrunken: sonst gab's auf diese Bestellung stets einen Campari Soda, diesmal schenkt mir der Wirt ein Glas Campari pur ein, dann nehmen wir noch, weil wir etwas durchkühlt sind, einen Puntsch, und auch diesmal gibt es nicht irgend einen heißen Sirup, sondern ein starkes Getränk, so stark, dass ich den ersten Schluck über meine Jacke hinaus husten muss – Roberto schaut diskret auf die andere Seite – und dann stehen wir auf und begeben uns zu Robertos Haus. Ich stelle erschreckt fest, dass ich Mühe habe, gerade zu gehen. Gut, ich gebe mir Mühe. Ruth sagt, wenn man selber merke, dass man beschwipst sei, so könne es noch nicht so schlimm sein.

Roberto zeigt uns sein Haus, sein Wohnzimmer mit Tischchen und Fauteuils, den verglasten Balkon, der an der Außenseite des Hauses hoch oben an der Mauer klebt und von wo wir einen imposanten Weitblick haben. Er stellt uns seine beiden Söhne vor, und der ältere spielt uns auf dem Klavier bravourös vor, was er kann. Und dann gibt’s… einen Likör, irgend etwas Grünes. Ich weiß: Roberto erwartet auf den Abend noch Gäste, darum dürfen wir uns ohne Skrupel bald wieder verabschieden. Darüber bin ich diesmal froh, denn ich muss mir große Mühe geben, meine Haltung zu bewahren.

Zurück zum Schulhaus, das eine Nacht lang uns gehört.

33 Civago

Am Morgen gilt's von Sologno Abschied zu nehmen. Wiederum mit dem Bus fahren wir nach Villa Minozzo, wo ich bereits einmal umgestiegen bin. Es ist Markttag. Die Straßen sind mit Ständen verstellt, schon am frühen Vormittag ist viel Volk auf den Beinen und die Cafés sind voll besetzt.

In der Cartoleria finden wir nun aber endlich unsere Wanderkarten. Es sind Karten im Maßstab 1:25'000 mit rot eingezeichneten Wanderwegen. Im Gelände sind meistens nur die Nummern des betreffenden Wanderweges angegeben, und die Wanderkarte ist daher unumgänglich, wenn man nicht aufs Geratewohl einer Nummer nachgehen und dann schauen will, wo man hinaus kommt.

Die Karten sind vom CAI herausgegeben, von Club Alpino Italiana. Die Kartengrundlage muss, nach der Schrift zu schließen, aus der Zeit des Ersten Weltkriegs stammen, und die Zeichnung ist sehr unübersichtlich. Wege und Gemeindegrenzen sehen sich ähnlich, und auch die Höhenkurven sind schwarz gezeichnet. Wald und Olivenhaine sind mit der gleichen Signatur angegeben.

Leider bekomme ich solche Karten immer erst, wenn ich mitten in einem neuen Gebiet bin, nämlich in einer größeren Ortschaft. Das ist bei uns nicht anders: in Marthalen kann ich vielleicht am Kiosk eine Karte von unserer Gegend kaufen, aber kaum eine vom Thurgau oder gar vom Süd-Badischen.

Auf dieser Karte können wir nun den Weg, den wir gestern versucht haben, ansehen. Es wäre möglich gewesen. Aber das konnten wir nicht wissen.

Nun steht uns ein fünfstündiger Fußmarsch auf der Autostraße bevor, mit dem Ziel Civago. Es ist eine kaum befahrene Straße. Das Wetter ist grau und trüb, aber es regnet nicht. Wir können nebeneinander hergehen und ausschreiten. Mein Bein hält sich gut, der Schmerz in der Wade hat nachgelassen. Wir kommen vorwärts, anders als gestern, und können uns den Gesprächen hingeben.

Nun also wollen wir den Aufstieg auf die Krete des Apennin von hier aus versuchen, diesmal mit Hilfe unserer Karte. Es handelt sich um etwa 400 Höhenmeter, dann stößt man auf den Weg, der sich auf einer Länge von 600 Kilometern von Norditalien bis Bari an der adratischen Küste immer auf der Krete des Apennin hinzieht. Vor vielen Jahren bin ich einmal einige Etappen darauf gegangen, habe zuverläßige Markierungen und wohleingerichtete Hütten vorgefunden. Aber damals war es Hochsommer, August, Ferienzeit für die Italiener.

Civago – wir haben den ganzen Weg von Chicago gesprochen – ein Dorf weit hinten im Tal. Eine Straße führt hinüber ins Seitental, aber weiter aufwärts geht’s hier nur noch zu Fuß. Zwei Hotels, eins davon ist zum Glück offen. Der Tourismus, denke ich, ist auf die Sommerferien beschränkt., wenn die tieferen Lagen unter der Hitze leiden.

Handyempfang gibt’s nicht, aber ein Telefon.

34 Radieschenpass

Wir finden wirklich am andern Tag den eingezeichneten Wanderweg. Er beginnt im Dörfchen Rovina und führt uns durch den Kastanienwald in die Höhe. Wie immer habe ich mich in der Zeit, die wir brauchen, verrechnet, doch was soll’s, wir haben den ganzen Tag vor uns. Wir wollen zuerst einmal mit eigenen Augen nachprüfen, wie es da oben aussieht, und dann wieder in unser Hotel in Civago zurückkehren.

Nach und nach werden die Kastanien von den Buchen mit ihrem jungen Laub abgelöst, und nochmals eine halbe Stunde weiter oben kommen wir wiederum an eine ganz klare Laubgrenze. Auf dem Weg liegen Schneeflecken und verdecken die rotweißen Zeichen am Boden, decken oft auch den ganzen Weg ein. Wir sind froh um die Markierungen an den Baumstämmen. Der Schnee nimmt zu, je höher wir kommen, und schließlich ist der Weg so steil, dass ich Stufen schlagen muss mit meinen lädierten Schuhen. Wie oft habe ich mich schon geärgert über übertrieben häufige Wanderwegzeichen, die die Landschaft verfremden, aber jetzt bin ich dankbar für den Eifer dieser Wegbetreuer. Der ‚Weg’ verläuft schräg einen steilen Abhang hinauf. Wenn ich auf dem Schnee ausrutschte, würde ich zwischen den Bäumen durch in die Tiefe sausen. Nur die lieben rotweißen Zeichen an den Baumstämmen versichern uns, dass wir richtig sind und bald oben sein müssen.

Dann klimmen wir über die Kante und stehen auf einem Waldsträßchen, auf dem Passo delle Forbici. Sogar eine Heiligenkapelle steht da. Aber was auf der Karte nach Straße ausgesehen hat, ist nicht mehr als ein befahrbarer Waldweg, jetzt noch tief verschneit.

Immerhin geht’s jetzt eben zu. Wir stehen nicht lange herum, meine Füße sind völlig durchnässt, also weiter laufen, damit sie nicht kalt bekommen. Das ist nun der Weg Zero-zero. Sollen wir auf dem Schnee gehen und bei jedem Schritt einsinken, oder auf dem Wegbord, wo der Schnee weggeschmolzen ist und aus dem braunen Gras sich schon die ersten glockenförmigen Blümchen herausstrecken?

Nach einer halben Stunden verzweigt sich der Weg: die eine Variante zieht über einen Gipfel hinweg, führt also steil in die Höhe, die andere kurvt abwärts und soll, gemäß Wegweiser, ebenso auf den Passo delle Radici stoßen. Wir sind auf knapp 1700 Metern über Meer, überall liegt Schnee, wir wählen den unteren Weg, und wie immer zieht sich die Sache in die Länge.

Zwei Stunden später stehen wir auf dem Radieschenpass, und dies ist nun wirklich eine Straße. Sie führt von der Emilia hinüber in die Garfagna. Es kommt sogar manchmal ein Auto oder ein Motorrad gefahren. Wir haben Glück, das Passrestaurant ist geöffnet. Wir bekommen ein warmes (oder sagen wir lieber mikrowellengewärmtes) Lasagne, und wir genießen es, im geheizten Raum zu sitzen und die Füße trocknen zu lassen.

Hie und da geht die Tür auf, kommt jemand herein, bestellt einen Kaffee, um der Fahrt über den Pass mit diesem Zwischenhalt einen Merkpunkt in seiner Erinnerung zu setzen, und setzt sich dann wieder in Bewegung; setzt sich auf den weichen Sitz der Bewegung. Auf dem Kalenderzettel habe ich gelesen: Manche halten es für Vitalität, wenn sie sich in ein Flugzeug setzen.

Aber auch uns käme jetzt so ein Bewegungsmittel zustatten. Wenn die berechnete Zeit für den Abstieg so sehr mit der tatsächlich benötigten Zeit auseinanderklafft wie beim Weg bis daher, dann ist es für uns beide zu weit. Ich frage daher die Wirtin, ob es möglich sei, dass sie uns ein Taxi bestelle. Zögerliches Hin und Her, zuletzt sucht sie mir eine Telefonnummer heraus. Ich bitte sie, für mich anzurufen. Denn ich traue dem Taxiunternehmer nicht zu, dass er, bloß auf eine fremdländische Stimme am Telefon, ohne weitere Sicherheit, die Fahrt auf den Pass hinauf unternimmt. Es gehe dreiviertel Stunden, sagt sie dann. Gut, wir haben Zeit.

Wir kommen ins Gespräch mit einem Paar am Nebentisch. Es sind Belgier, Pensionierte. Sie wohnen in Brüssel und haben sich in Florenz für eine Nacht einquartiert. Jetzt fahren sie mit dem Mietauto durch die Gegend. Sie schauen sich jeweils im Internet die billigen Flüge heraus, und warum sollen sie im grauen Brüssel bleiben, wenn man für 50 Euro Flug und Hotelnacht buchen kann? So sind sie immer wieder für ein, zwei Tage in der Toskana.

Nach anderthalb Stunden ist noch kein Taxi da, und ich telefoniere selber ein zweites Mal. Ja, da sei ihm noch ein anderer Auftrag dazwischen gekommen, aber er komme, in dreiviertel Stunden.

In dreiviertel Stunden, die gut und gerne zwei Stunden werden können (auch das ist eine Frage des Sprachverständnisses), will ich noch ein Stück Weg machen: zu einem Wallfahrtsort, dem Santuario San Pellegrino. Die Wirtin in unserem Hotel hat davon gesprochen. Alljährlich im Sommer mache die Pfarrei von Civago den Weg zu diesem Heiligtum hinauf zu Fuß. Ruth bleibt zurück und wartet hier, und ich mache den aufwärmenden Eilmarsch auf der Straße. Dabei halte ich stets Ausschau nach eventuell von der Straße abzweigendem 0-0.

Die Straße verläuft mehr oder weniger auf gleicher Höhe, aber mit Ausblick gegen Westen, also in die Garfagna hinunter. Zwischen vereinzelten Wolken scheint immer wieder die Sonne und bescheint unten das grüne Tal, während da oben noch alles weiß ist und die Bäume erst die Knospen zeigen.

Ich bin vor 18 Jahren in der Garfagna einen ganzen Tag lang auf der Asphaltstraße gegangen, weil ich von den ständigen Wegzeichen auf der Krete genug hatte. Mit ein wenig mehr Ausdauer wäre ich damals genau an diese Stelle gelangt, wo ich heute stehe.

Nun zeigt sich das Santuario: einige Häuser, eine Kirche. Ich habe nicht viel Zeit, ich trete ein. Da wäre noch ein Museum, aber ich will nur die Kirche besichtigen. Sie ist offen, sagt mir die junge Dame an der Kasse.

Ein schöner, dunkler Raum, wie ich es von außen nicht erwartet hätte. Ich habe meine Flöte mitgenommen. Das Kirchenschiff klingt voll und edel zurück.

Bald aber wieder zurück. Doch draußen vor der Kirche steht schon unser Taxi. Es fährt uns nach Civago hinunter. Der Straße nach sind es über zwanzig Kilometer.

*

Am folgenden Tag muss Ruth wieder heimreisen. Es gibt einen Bus, ganz früh am Morgen, vom Dorfplatz aus. Mit mehreren Anschlüssen kommt sie nach Reggio Emilia, das an der Bahnlinie Bologna-Mailand liegt, und kann abends zu Hause sein. Ich will dann weiter ziehen. Zurück auf den Radieschenpass, wie ich zunächst geplant hatte, um von dort dann den Weg 0-0 zu nehmen, ist undenkbar. Ich hab es mit eigenen Augen gesehen: auch hier liegt noch zu viel Schnee.

Wir sprechen mit der Wirtin im Hotel darüber, und sie schafft uns einen Experten herbei: ein Neffe von ihr hat an der Wanderkarte mitgearbeitet. Er kennt also die Wege. Er wohnt in Civago, und eine halbe Stunde nach unserem Nachtessen findet er sich ein. Ein junger Mann mit dem Namen Daniele und mit kluger Rede. Er rät uns ab und glaubt nicht, dass wir den Weg 0-0 finden können, weil er immer noch zu sehr verschneit ist. Es hat im vergangenen Winter außerordentlich viel Schnee gegeben, über drei Meter. Ob ich einen Pickel habe, fragt er mich. Er könnte mir einen beschaffen. Was soll ich mit einem Pickel, denke ich. Gebirgstouren, bei denen man einen Pickel braucht, habe ich wirklich nicht im Sinn. Und dann wäre noch vieles andere an Ausrüstung vonnöten. Ich darf ihm gar nichts sagen vom Zustand meiner Wanderschuhe: sie haben vorne ein gähnendes Loch.

Eine gewisse Möglichkeit, doch noch auf den Kretenweg zu kommen, sieht er vom Lago Santo aus. Er studiert mit mir zusammen die Karte und zeig mir die schwierigen Stellen.

35 Lago Santo

Beim Frühstück erscheint pünktlich Daniele nochmals und bringt mir ein Paar Skistöcke. Aha, er hat nicht von einem Pickel, sondern von Stöcken gesprochen. Er sagt, er habe sie vorig, ich könne sie behalten. Viel Glück, sagt er, und pass auf.

Ich begleite Ruth zur Bushaltestelle. Kein Mensch so früh auf der Straße. Auch die Bar, wo man das Billet kauft, ist noch zu. Die Minuten rücken. Was tun wir, wenn unsere Informationen wieder einmal falsch sind und kein Bus kommt. Oben auf der Straße über dem Dorf fährt einer vorbei, so ein blauer Pullman. Stehen wir vielleicht an der falschen Stelle? Niemand, den man fragen könnte.

Aber auf die Minute genau kurvt das Ungetüm auf den kleinen Dorfplatz. Abschied, und fort.

Ich kehre ins Hotel zurück. Ich rufe von da aus nochmals Verena an, ich weiß ja nicht, wann mein Handy wieder tut. Und jetzt höre ich das Ereignis: Gestern ist uns in London ein Enkelkind geboren worden, Josephine Sitta. Allen geht es gut.

Dieses Kindchen kann ich nicht auf den Arm nehmen. Ich werde es erst im Herbst zu sehen bekommen.

Die Wirtin hat mir einen Transport organisiert: einer ihrer Neffen fährt mich mit dem Auto so weit, wie ich schon war, nämlich bis zur Straße, die auf den Radieschenpass führt. Von dort aus gibt’s einen bezeichneten Wanderweg zum Lago Santo hinauf.

Sonne, ein Bergweg, zwischen Tannen und Buchen hinauf, eine Lust zu gehen.

Aber auch da: nach zwei Stunden erreiche ich die Laubgrenze und überquere an schattigen Plätzen zunehmend Schneefelder auf dem Weg, und schließlich bin ich wieder am Schneestampfen. Jemand ist vor kurzem den Weg gegangen, ich kann mich an die Spur halten. Es geht langsam, und meine zwei Skistöcke sind wirklich hilfreich. Endlich, nach einer weiteren Stunde, erreiche ich ein Bödeli. Rechts biegt der weitere Anstieg zur Krete hinauf ab, also zum 0-0, aber geradeaus geht’s hinunter in eine große Senke: da unten muss der Lago Santo sein.

Unterdessen ist die Sonne wieder verdeckt. Die Gegend präsentiert sich nicht im Glanz. Ich steige ab und freue mich auf Verpflegung und Unterkunft, wie sie auf der Karte verzeichnet sind.

Die Häuser, verstreut im Wald versteckt, erweisen sich als private Clubhäuser, in denen Gruppen wohnen, oder als noch geschlossen in dieser Jahreszeit. Endlich aber finde ich eine Wirtschaft. Seit drei Tagen ist sie besetzt. Ich bin der einzige Gast. Es gibt zu essen. Es gibt ein Zimmer. Ich reserviere. Ich mache ein paar Schritte ums Haus, suche nach einer Abzweigung hinauf in die Höhe und muss eindeutig feststellen: das ist nichts für mich. Ich würde den Weg nicht finden, und ich müsste stundenlang durch hohen Schnee stapfen.

Von hinten her kommt eine asphaltierte Straße da hinauf, und diese werde ich nun wieder hinab gehen. Die Reservation wird rückgängig gemacht, und ich bin, nach meinem letzten Versuch, den Weg auf dem Rücken des Apennins zu begehen, wieder auf dem Abstieg. Nach der mühsamen Stapferei macht es mir gar nichts aus, wieder auf geteerter Straße zu marschieren. Es geht abwärts und später auf einem Sträßchen auf gleicher Höhe dem Hang nach, Richtung Abetone.

Den vielgerühmten Lago Santo behalte ich als trübe Schnee- und Steinwüste in Erinnerung, als Feriensiedlung, wo sie wohl im Sommer zu Hunderten hinauf fahren, Kühle suchend, und die Bergwelt bewundern. Allzu gerne hätte ich ‚ihnen’ bewiesen, dass ich, ein Svizzero, alle Wege finde und bewältige.

Im Lauf des Nachmittags zeigt sich wieder die Sonne. Ich bin in den grünen Buchenwäldern, komme durch kleine Dörfchen und an einsamen Häusern vorbei, ab und auf, habe immer wieder neue Ausblicke und sehe dann, von einem solchen Übergang aus, weit in der Ferne, in der Höhe, die neuzeitlichen Hotelkästen von Abetone.

Falls jemand Skistöcke braucht: Ich habe das Paar, das mir Daniele überlassen hat, vor der Bar in Dogana Novo ‚versehentlich’ stehen lassen. Kann dort abgeholt werden.

Abetone liegt am Straßenübergang von der Provinz Emilia-Romana zur Toskana. Der Verkehr ist beeindruckend. Vor allem wer an Motorrädern interessiert ist, kommt auf seine Rechnung. Mir geht es jetzt aber darum, in dieser großen Auswahl an Hotels das passendste zu finden. Lang gehe ich hin und her, mehrmals überschreite ich die Passhöhe vor und zurück: alle Häuser haben Betriebsferien. Es gibt nicht nur keine Auswahl, es gibt überhaupt kein Zimmer.

Zuletzt werde ich ins nächste Dorf, zwei Kilometer weiter, geschickt, nach La Regina, wo ich bereits einmal, in der Jugendherberge, angefragt habe: dort, sagen sie mir, sei ein kleines Hotel, das immer offen habe, namens ‚Naëmi’. Als ich ankomme, heißt es, sie hätten wegen Familienfest übers ganze Wochenende geschlossen. Ich stelle dann eindringlich meine Lage dar, und die Wirtin erbarmt sich meiner und lässt mir ein Bett anziehen. Einzig fürs Nachtessen müsse ich mir auswärts etwas suchen, sagt sie.

Liebe Leute, wer je mit dem Auto in die Toskana fährt: Abetone ist ein schrecklich verschandelter Ort, aber in einer lieblichen Gegend, und das Hotel ‚Naëmi’ im Dörfchen La Regina ist ein sympathisches, ein familiäres und menschenfreundliches Haus.

Ich ziehe meine Schuhe aus, ich schäle mich aus den verschwitzten Kleidern, ich stelle mich unter die warme Dusche und schmiere mir das Shampoo über die Haut, ich spüle alles von mir, ich reibe mich trocken mit den weichen Tüchern, ich ziehe mir die frische Wäsche und die Ausgehkleider an, und jetzt bin ich wieder munter, und an den Füßen habe ich die in Parma erstandenen Scarpi di tennis. Aus dem Pilger im Landstreicher-Look ist ein lockerer ausländischer Tourist geworden, der jetzt ein paar Häuser weiter in die Trattoria ‚Yeti’ hinüber schlendert: Was gibt es Gutes?

So viel habe ich gelernt: Beim Abendessen, bei der ‚cena’, wird nichts überstürzt. Haben Sie einen Platz für mich? Ja, ich bin allein. Bringen Sie mir zuerst mal einen Aperitif. Noch ist es früh am Abend. Die Gäste treffen aber nun ein. Sie haben vorreserviert. Neben mir am Tisch eine Familie: Mann und Frau, das übrige müssen sein: Sohn und Tochter sowie noch ein Sohn mit Freundin. Der Vater führt das große Wort, trumpft auf… Ist es vielleicht der erste Ausgang zusammen mit der potentiellen Schwiegertochter?

Ich bestelle mein primo, auf Anraten der Kellnerin einen Teller Tortelloni mit einer Nusssauce, wenn ich sie richtig verstanden habe, darnach anstelle des secondo einen gemischten Salat, dazu einen gewöhnlichen roten Wein. Einst, bei meinen ersten Begegnungen mit der italienischen Küche, lag die Beschränkung auf der rechten Gesäßbacke, nämlich im Monetären; jetzt sind es vordere Rundungen, die mich beim Wählen zur Knappheit mahnen. Ein ganzes Essen nach italienischer Art mit allen Gängen, die dazu gehören, das darf ich mir nur ganz selten, an Sonntagen, und auch dann nur einmal am Tag, leisten. Man kann sehen, was sonst herauskommt, man braucht sich nur auf der Straße umzublicken.

Nun läutet mein Handy. Verena hat sich die Stunde für unser tägliches Gespräch eingeteilt. Ich sei immer am Essen, sagt sie, wenn sie anrufe. Stimmt, um diese Zeit bin ich meistens an meinem wohlverdienten Mahl. Aber diesmal habe ich erst bestellt und dazu noch angeordnet, dass mit der Zubereitung gewartet werde, bis ich fertig telefoniert hätte. Aber dem Rotwein habe ich bereits ein wenig zugesprochen, und nun geht am Tisch nebenan das Schauspiel der Bestellung vor sich. Welch eine ausufernde Erörterung des richtigen Weines. Der Vater gibt seine ganzen Kenntnisse preis, die Kellnerin stimmt ihm zu, schränkt ein, rühmt diesen und jenen Tropfen, bestätigt und notiert. Verena ist nicht dabei, sie kann nicht auf meine Bühne schauen und ist mehr und mehr verstimmt, weil ich nicht bei der Sache sei. Jetzt geht es an die Speisen. Wer nimmt was, was passt zusammen, wo könnte was noch weggelassen oder variiert werden… Hörst du mir eigentlich zu? Gerne, sage ich. Und ich möchte sie teilhaben lassen an meinem Film. Aber wie soll ich den Duft und den Klang der Worte hinüberbringen? In den Schilderungen der Kellnerin, in den Erwägungen der Gäste, in den wortereichen Deklamationen wird das ganze Menü zunächst einmal virtuell durchgekostet. Es geht nicht anders, ich stehe auf und gehe vor das Lokal hinaus ins Freie für unsere Unterhaltung.

Die Tortelloni schmelzen den Hals hinab, der Salat ist knackig, der Wein rollt hintennach, und zu alledem gibt’s all jene andern Speisen, die mir die Bauchdecke gesprengt hätten, aus der sicheren Distanz von Tisch zu Tisch zu genießen.

Drum sag ich’s noch einmal: Zwei Kilometer nach Abetone, linkerhand.

36 Cutigliano

Der Abetonepass ist einer der wenigen Übergänge über den Apennin. Entsprechend befahren ist die Straße. Es gibt aber einen bezeichneten Wanderweg, der hier abzweigt. Bei meiner 25’000er-Karte vom Alpenclub habe ich längst den Rand überschritten und muss mich mit der Toskana-Karte im Maßstab 1:200'000 zufrieden geben. Das ist gut so. Ich muss mich den Zeichen anvertrauen und meinem Kompass.

Es geht hinab zum Fluss und ohne Schuhe durchs Wasser auf die andere Seite, dort wieder in die Höhe, und von jetzt an sind die Wanderwegzeichen verloren gegangen. Ich komme auf eine frisch gebaggerte Fahrspur – am Rand hat, hier in der Wildnis, einer ein blaues Schild ‚TUTTE LE DIREZIONE’ aufgehängt – ich komme durch ein Dorf, folge einem Weg, der wieder zum Fluss hinunter führt, dort aber mehr und mehr unkenntlich wird, stapfe durchs Gehölz, folge dem Wasser, steige über riesige Steine im Fluss und erblicke plötzlich mitten im Unterholz an einem Baumstamm das Wanderwegzeichen wieder. Irgendwann einmal war hier also doch der Weg. Jetzt nichts mehr als Dickicht. Der Fluss gibt mir die Richtung an. Hier, im wasserreichen Tal, strotzt alles von Wachstum, von Moos und Fäulnis. Ich klettere den Hang hinauf… und stehe auf einmal wieder auf einem schön gepflegten Wanderweg, diesmal mit neuer Markierung und einer anderen Nummer.

Telefon mit Dorothea. Sie war gestern Vormittag noch am Einkaufen; am Nachmittag begannen dann die Wehen, und das Kind ist um zwanzig vor zwölf Uhr nachts auf die Welt gekommen. Ist das jetzt gestern oder heute, wenn man die englische Zeit und die Sommerzeit noch einbezieht? Sebastiaan kommt auch ans Telefon: Ihr seid Großeltern ‚von einem schönen Mädchen’. Wenn das nicht wahr ist, aus dem Munde eines Arztes.

Der Weg führt mich lange Zeit auf sicherem Pfad, sanft absteigend, immer hoch über dem Fluss, durch den Wald, doch dann fehlt bei einer Verzweigung wieder jedes Zeichen, ich muss mich auf den Spürsinn verlassen.

Mittags bin ich in einer Stadt auf dem Berg, in einem der vielen schönen Orte, diesmal ist es Cutigliano. Eine Stadt voller Touristen. Sonntagsmenschen. Eine Stadt zum Ferien machen. Restaurants, Piazza, Marktstände mit Produkten aus der Provinz. Parkanlage. Bänklein.

Warum treibt es mich eigentlich immer weiter? Warum bleibe ich nicht einige Tage da und vertiefe mich ins lokale Leben? Immer deutlicher merke ich: Nicht die Orte, sondern die Wege reizen mich. Der Lago Santo sei wunderschön, haben sie mir alle gesagt; obwohl ich sonst Berglandschaften gern habe, fand ich es kahl und trüb dort oben. Der Aufstieg aber war ein Erlebnis. Und es hatte mir einer die Spur gestampft, es war wie Ferien. Anstrengend, beglückend. Aber angekommen, gleich wieder weg, weiter! Auch hier in Cutigliano: Da könnte man schon eine Weile bleiben. Nein, faszinierend war es, in dieser Wildnis den Weg zu finden, auf einen angenehmen Wanderweg zu stoßen, ihn wieder zu verlieren, einen Trampelpfad zu gehen, vielleicht einen, den ich, wer weiß, als letzter begehe, bevor er endgültig zuwächst.

So mache ich mich nach der Siesta wieder auf den Weg, suchend, findend, irrend, einmal auf laubigem Fußbett, dann wieder durch Dornen kämpfend.

Am Abend, nachdem ich bei einer Brücke, kurz vor dem Eindunkeln, die Straße verlassen habe, folge ich einem schmalen Weglein, gehe dem Wasser nach und wähle mir in diesem engen Tal einen Platz zum Schlafen. Es gibt Stellen im Fluss, die tief genug sind, dass ich untertauchen kann. Hoch oben tönt der Stundenschlag von San Marcello, aber von der Stadt ist nichts zu sehen von hier aus. Etwas unheimlich in der Düsternis, dieser Platz, aber so, wie ihn die Romantiker hätten malen wollen.

37 Mimogno

In der Frühe dringt die Kühle in den Schlafsack. Daher auf, zurück zur Straße und warmlaufen. Etwas abseits in der Höhe thront ein Dorf auf dem Berg, mit dem Campanile auf dem Kulminationspunkt. Ein schönes Bild. Ich mache den Umweg, in der Hoffnung auf Caffè und Cornetti. Selbst wenn ich noch etwas warten müsste. Kaum ein Mensch ist auf der Straße, als ich um Viertel vor sieben einmarschiere, aber die Bar ist offen! Die Gipfel sind frisch und warm.

Dann hinauf zur Kirche. Ein schöner Bau. Sie ist geschlossen. Den Schlüssel gibt’s beim Pfarrer, sagt mir jemand. Den will ich so früh am Tag nicht wecken. Ich finde ein Plätzchen, eine Bank, eine Röhre mit Trinkwasser. Ich breite meinen Schlafsack zum Trocknen aus. Um 7:25 Uhr geht die Sonne auf. Etwas lesen, etwas schreiben, etwas sitzen und Pause machen. Eine weite Sicht, eine sanfte Silhouette, viel Wald. Piteglio, auch hier ein Dorf, wo es sich bleiben ließe. Zwar eine Herberge finde ich keine.

Als es acht geschlagen hat, wage ich’s und läute beim Pfarrhaus. Die Haushälterin. Sie muss ihn fragen. Dann sagt sie: Ich mache von innen her auf. Schade, ich hätte gern den Parroco (mit Betonung auf der ersten Silbe!) zu Gesicht bekommen. Ob der Herr schon auf ist und angezogen?

Das Innere der Kirche enttäuscht mich. Hergerichtet im Allerweltsstil, wie sie es gern haben, die Gläubigen unserer Tage. Die Haushälterin lässt mich allein. Die Flötentöne klingen recht gut.

Der Schlafsack ist ausgelüftet und trocken. Ich ziehe weiter. Abwechslungsweise auf der ruhigen Straße, auf Wanderwegstücken und auch wieder mal querwaldein. Und dann blinkt auf einmal wieder ein rotweißes Zeichen auf. So weiß ich: ich bin auf einem Weg, der ,mündet’, chi esce.

Mir fällt auf, wie die italienische Sprache viel mehr mit dem Verbstamm sagt, wo wir im Deutschen Partikel benützen. Gerade dieses Verb uscire/esco/esce ist ein Beispiel dafür. Wir sagen ‚ausgehen, hinausgehen, herauskommen, auskommen, austreten’. Wir steigen beim Bus oder beim Zug ‚ein’ und ‚aus’, im Italienischen gibt es zwei verschiedene Verben: salire, was eigentlich ‚aufspringen’ bedeutet, und scendere (französisch descendre), ‚hinuntersteigen’.

Im Schweizerdeutschen sind diese kleinen Wörtlein, mit denen die Allerweltsverben ‚kommen’ und ‚gehen’ differenziert sind, noch viel bedeutsamer. Ich habe mich schon immer darüber gewundert, wie eindeutig unser Gefühl ist in der Unterscheidung von uf bern ue, uf basel abe, uf büli übere, uf schaffusen use, uf züri ie, i s söiliamt übere, i s wallis abe, in chräschtel hindere, i s tessin abe, i s welsch ie, uf genf abe.

Ich komme aus dem Wald heraus, gehe eine besonnte Wiese hinab, da surrt in meinem Rucksack das ‚telefonino’. Es dauert eine Weile, bis ich das Geräusch zuordnen kann, bis ich das Gerätlein herausgeklaubt und den grünen Knopf gedrückt habe, und ich wundere mich, dass ich, so weit weg von aller Menschheit, am Faden der Kommunikation hänge. Mein Sohn Klaus ist’s, und der Anlass dafür, dass er mich aufspürt, ist wichtig genug: Er ist glücklicher Vater seines Erstgeborenen geworden! Heute um 10:43 Uhr ist sein Valentin Lionel zur Welt gekommen. 48/2750 sind die Daten, und allen geht’s gut. Und der Weiler, wo mich diese Botschaft erreicht hat, heißt Márgine di Momigno und liegt in der Gemeinde Marliano. Nun bin ich also fünffacher Großvater.

Bei Abetone bin ich über die toskanische Grenze gekommen, aber erst hier, wo ich weit über die Ebene hinausschaue, die ganz in der Ferne am Horizont von blauen Hügeln begrenzt ist, habe ich das Gefühl, in der Toskana zu sein.

Weite und einsame Wege führen mich nach und nach in die Tiefe. Wenn man bei uns im schweizerischen Mittelland so oft bedauert, dass es kaum mehr unbewohnte Landschaften gibt, so bin ich hier manchmal so lange in der ‚Wildnis’, dass jedes Dorf am Weg eine willkommene Abwechslung bedeutet. Am Nachmittag komme ich nach Mimogno hinunter, steige zur Kirche hinauf und finde sie offen. Ein schöner romanischer Bau. Glocken läuten. Vorn beim Chor eine kleine Feiergesellschaft, vielleicht eine Jahrzeit, ein Familienanlass. Nun verlassen alle die Kirche und treten ins helle Sonnenlicht hinaus. Ich bin allein und lasse meine Flöte zu Wort kommen.

Nach einer Weile kommt ein Mann auf mich zu und beginnt ein Gespräch, fragt nach dem Woher und Wohin und gibt sich als Priester zu erkennen.

Obgleich es noch früh am Tag ist, nehme ich im Albergo Amelia ein Zimmer, bestelle vorsorglich das Nachtessen auf sieben Uhr, halte meine Wäscherei am Lavabo ab, setze mich mit Buch und Aperitif auf die Terrasse und genieße den Ausblick von diesem Ort, der wie auf einem Balkon über der Ebene von Pistoia residiert. Einer zeigt mir am Horizont eine Stelle, wo sich die Stadt Vinci befinde.

38 San Baronto

So schön es da oben ist, mich zieht’s weiter. Ein sauber ausgemähter Weg, gleich neben dem Hotel, verführt mich, ins Tobel hinab zu gehen, unten bei der Mühle an wilden Hunden vorbei, wieder hinauf in die Höhe, bis ich merke, dass ich auf diese Weise in die Berge und in eine ganz falsche Richtung komme statt hinab auf die Ebene. Zurück. Eine Stunde später bin ich wieder am Ausgangspunkt und bin nun reif für die Straße. Denn etwas anderes ist nicht zu haben. Die Abhänge sind steil und von undurchdringlichem Wald bedeckt. Ja nu.

Gegen Mittag marschiere ich in Pistoia ein. Vor einem Fotogeschäft verspricht eine Tafel Passfotos innert fünf Minuten. Das ist es. Ich lasse mich fotographieren mit meinen ausgelatschten Wanderschuhen, die ich für diesen Zweck immer noch mitgetragen habe, denn das gähnende Loch zwischen Schuh und Sohle ist doch irgendwie sehenswert. Dann stelle ich sie zur Entsorgung verstohlen hinter den Blumentopf bei der Kasse. Ein Foto trägt sich leichter mit.

Um Mittag bin ich im Zentrum, auf dem Domplatz, und am Nachmittag marschiere ich auf der Ausfallstraße gegen Süden. Nach zwei Stunden hoffe ich auf sanftere Wege, oben auf dem Monte Albino, aber es gelingt mir wiederum nicht, von der Straße weg zu kommen und auf einen fußgerechteren Weg zu gelangen. An Versuchen fehlt es nicht. Sie enden stets im Dickicht. Nichts wie weiter, zurück auf die Straße. Ich habe an diesem Tag schon viele Asphaltschritte in den Schienbeinen, habe viele Autonummern gelesen und manchem Biker Hallo gesagt.

Nach langem Aufstieg in vielen weiten Kehren erscheint dann San Baronto, der Ort oben auf dem Berg, doch überraschend. Etwas abseits von der Hauptstraße steht eine unverdorbene romanische Kirche. Sie ist offen, sogar die dunkle Krypta, alles ist zugänglich. Ich spiele eine halbe Stunde Flöte in dem hohen Raum und wundere mich, dass nie jemand hereinschaut.

Neben der Kirche gibt es eine Touristeninformation. Dort verhelfen sie mir zu einer Zimmerbestellung und erfahre ich auch von einem Kammermusikkonzert, das diesen Abend in der Villa Rospigliosi, ‚ganz in der Nähe’, stattfindet.

Das Hotel ist ein Nullachtfünfzehn-Etablissement, aber mein Zimmer hat einen Balkon hinten hinaus in den Garten und mit Ausblick zum Wald. Schade, dass ich gar nicht Zeit finde, ihn zu genießen. Nach der Dusche bin ich frisch und munter und merke von den zehn Wegstunden nichts mehr. Ich habe mich umgekleidet und die Sandalen angezogen und suche nun diese Villa Rospigliosi. Ich habe im Touristikbüro einen Prospekt bekommen, darauf finden sich alte Eselswege – mulattiere – eingetragen. Schön und gut, wenn sie diese wieder gangbar machen. Das Projekt ist aber, wie ich bald erkennen muss, erst in Planung. Ich finde zwar den Weg, aber er ist gar nicht meiner Kleidung gemäß: Hohes Gras und zunehmend Dornengebüsch erschwert mir das Durchkommen.

Dennoch bin ich zu früh dort. Ein großer Palazzo mitten im Grünen, mit weiten Gartenanlagen, mit Zufahrten, die von Zypressen gesäumt sind, mit Kieswegen, mit Wasserspielen und Seerosenteichen. Ja, ich sei am richtigen Ort, aber die Kasse gehe erst in zwei Stunden auf. So suche ich mir mein Plätzchen, finde im offenen Geräteschuppen eine Karrette, die sich zum bequemen Strandkorb gebrauchen lässt, und schaue dem roten Sonnenball zu, von dem sich die dumme Erde wegdreht.

Mein Handy hat Empfang und hat Strom und hat Kredit und stöbert Verena auf, und sie hat Zeit für mich. (Ich will damit nur sagen, wie viele Bedingungen jeweils bei dem intelligenten, aber eigenwilligen Gerätlein erfüllt sein müssen, dass es tut.) Und sie berichtet mir von dem Bübchen, das sie heute in den Armen gehalten hat. Wir erzählen uns den Tag, und als wir finden, es sei genug, ist die Sonne längst verschwunden.

Jetzt rücken Besucher an, zu Fuß und in Limousinen. Ich stelle mich in die Reihe, löse meine Karte (man zahlt so viel wie man will) und trete ein. Das Gebäude, das von außen einen eher etwas plumpen Eindruck macht, überrascht im Innern. Es ist, das wird sogleich deutlich, nur für diesen einen Saal gebaut worden: einen ovalen Rokoko-Raum mit Kuppel und seitlichen Nischen, und wurde von einem Kirchenfürst, einem späteren Papst, in Auftrag gegeben. Die Malereien an Decken und Wänden sind weltlich-verspielt und korrespondieren mit der aufgelockerten Architektur.

Die paar Stuhlreihen füllen sich, man kennt sich, man spricht deutsch und englisch, und langsam erkenne ich, neben einigen wenigen Einzelpersonen, zwei Gruppen von Besuchern: eine deutsch sprechende Gesellschaft, die sich um ein genialisch-bewundertes Antroposophenpaar schart (er mit langem Haar und weichem, grauem Bart, und sie mit handgewobenem langem Jupe); und eine Reisegruppe von Amerikanern. Ich komme mit meiner Sitznachbarin ins Gespräch und erfahre, dass es sich bei der deutschen Gruppe um Feriengäste handelt, die sich fast alle kennen und auf dem Agriturismo immer wieder treffen, das die zwei Weisen nicht weit von da führen.

Die Musik beginnt. Es spielt ein Trio aus Klarinette, Cello und Klavier, und sie spielen sehr lebendig und animiert das Trio Es-Dur opus 38 von Beethoven und darauf – und das konnte ich leider zum Voraus nicht wissen – noch zwei belanglose neuere Stücke, mit denen sie wohl dem Publikumsgeschmack glauben entsprechen zu müssen.

Das Konzert hat spät angefangen, die Pause hat auch gedauert, und so wird es spät, bis ich mich auf den Rückweg, wieder hinauf nach San Baronto, machen kann, diesmal aber auf der Autostraße, denn im Dunkeln ließe sich der Weg nur schwer finden. Um Mitternacht liege ich im Bett.

39 Vinci

Der Plan auf meinem Prospekt verspricht Wege über den Bergrücken. Ich habe mir abends beim Portier erklären lassen, bei welcher Türe ich so früh am Tag aus dem Haus kommen kann. Unten in der Bar an der Hauptstraße gibt’s bereits frische ‚Hörnchen’, cornetti.

Übrigens habe ich kürzlich erfahren, was der Ausdruck Nullachtfünfzehn, den derzeit so viele im Mund führen (und niemand konnte ihn mir bisher erklären), bedeutet: Es handelt sich um die Bezeichnung eines Maschinengewehrs, mit dem die Soldaten im Ersten Weltkrieg bis zum Geht-nicht-mehr üben mussten, und zwar bezieht sich 08 auf den Jahrgang des Gewehrs, nämlich 1908, und 15 auf das Kaliber, nämlich 15 mm.

Die Cornetti gibt es in ganz Italien, aber sie sind keineswegs 0815, sondern immer wieder anders und neu; am besten aber sind sie frühmorgens, wenn sie gerade vom Bäcker gebracht worden sind und du dir an ihrem Inhalt, an der Nutella oder an der Marmelade, noch die Zunge verbrennst.

Nun aber vertraue ich mich meinem Prospekt an und finde denn auch den Fußweg auf den Monte Albino. Zwar stimmt bald nichts mehr überein mit dem, was auf meinem Plan verzeichnet ist. Vielleicht liegt’s am Plan, vielleicht auch an meinen Kartenlesekünsten. Aber der Weg geht weiter, einmal etwas breiter, dann wieder als schmaler Pfad, stets mehr oder weniger auf dem Bergrücken. Manchmal kann ich zwischen den Bäumen hindurch das weite Land sehen, aber wichtiger ist mir der angenehme Weg in der gewünschten Richtung. Manchmal gibt es rotweiße Zeichen, Fingerzeige Gottes, aber sie gehören so verschiedenen Wegesystemen an, die sich überkreuzen, manchmal zusammen gehen, dann wieder ablösen oder völlig aufhören, unvermittelt wieder da sind, fast wie die zahlreichen Heiligen, die in diesem Land dem Kirchenvolk ihren Segen zusprechen. Du weißt nicht, an wen du dich halten sollst.

Abgesehen davon, dass ich die Orientierung nach einiger Zeit völlig verloren habe, ist das Gehen da oben wie Sonntag. Lass dich nicht irre machen, lauf einfach zu. Und tatsächlich: da zweigt, nach einigen Stunden, ein Weg ab, der ist deutlich mit einem Wegweiser bezeichnet, und darauf steht: Vinci. Von da an bin ich wieder auf Gottes Wegen, d.h. an der sicheren Hand der Wanderweggestalter.

Sie führen mich zu einem Museum, einem Gehöft etwa zwei Kilometer vor der Stadt. Ich trete ein. Leere Räume mit kahlen Mauern, einigen Schrifttafeln, einem kargen Bett, einem Tisch. Eben kommt eine Gruppe daher, die aus dem Reisecar gestiegen ist, und die Reiseleiterin hält draußen vor dem Haus ihren Vortrag. Ich stelle mich hinten an. (Es ist mir bis jetzt erst einmal in meinem Leben passiert, dass mich so ein Guide angeschnauzt hat, ich hätte hier nicht zuzuhören; das war vor vielen Jahren in Siena.)

Es ist ein besonderes Vergnügen, wie über den Zaun steigen und Pflaumen pflücken. Ich kann mich in großen Zügen ins Bild setzen lassen, was es da zu sehen gibt; ich kann mich an Haaren und Augen und Mund der Reiseführerin (und so weiter und so weiter…) erlaben; ich kann ihre Vortragskunst reflektieren; ich kann die Teilnehmer der Reisegruppe betrachten und taxieren; ich kann testen, wie viel ich von der jeweiligen Sprache verstehe; und vor allem kann ich wieder weglaufen, sobald ich genug habe.

Hier also in diesem Haus soll Leonardo da Vinci geboren worden sein. Er war der uneheliche Sohn einer Magd und eines angesehenen Notars, und weil dieser einen Skandal vermeiden wollte, quartierte er seine schwangere Geliebte in diesem Haus außerhalb der Stadt ein: hier kam das Kind zur Welt.

Der Wanderweg nach Vinci hinunter führt zwischen Oliven und Reben hin, und nach einer halben Stunde kommen die Häuser. Wiederum eine Stadt auf dem Berg. Zuoberst thront das Schloss. Eine Stufe tiefer der Dom und der Domplatz. Weiter unten die Gassen mit den Geschäften, den Restaurants und zunehmend die Viertel des 19. und 20. Jahrhunderts.

Eindrücklich wird mir aber vor allem das Vinci-Museum, durch das ich mich mit einem Tonband mit Wählknopf, in der Form eines Telefonhörers, führen lasse. Man hat Leonardos Skizzen von Maschinen und Einrichtungen real nachgebaut und dabei herausgefunden, dass die vielen Erfindungen wirklich funktionieren: Wasserhebesysteme, Kelterungseinrichtungen, Kriegsgerät, Tauchgeräte, Feuerwalzen. Und immer wieder Wassersysteme. Ich werde an die Kanalbauten in der Nähe von Cremona erinnert, denen ich nachgegangen bin. Beeindruckend ist die Breite seiner Schaffensgebiete. Nicht zu vergessen seine Gemälde, von denen auch einige Beispiele gezeigt sind. Beeindruckend ist aber auch die Art der Ausstellung: die Klarheit der Texte und die Einpassung in die Räumlichkeiten.

Pranzo (das ist das Mittagessen) unter dem Sonnendach einer Gaststätte. Einige Schritte weiter, hinter einer Kirchenmauer, im hohen Kraut unter Bäumen eine Stunde geschlafen. Dann zur Stadt hinaus. Weinbaugebiet, langgezogene Hügel. Günstige Wege. Oliven und Reben. Einmal bei einer Kirche sonntägliche Menschen, die mit vielen Autos angefahren sind, die jetzt herumstehen und auf den Beginn der Feier warten. Eine Beerdigung?, frage ich. War die Person alt? Nein, noch nicht. Dreiundsechzig.

Ich ignoriere Tafeln am Weg, weil ich sie in der fremden Sprache nicht lesen kann. Privato. Vietato l’ingresso. Hügelauf und hügelab, über Feldwege und über Wiesen. In einem Acker – der wie ein Brachfeld aussieht – steht einer gebückt, mit einem Korb. Ich gehe zu ihm hin, weil ich wissen will, was er sucht, was er abliest. Er gibt mir drei Stück von seinen Knospen, faustgroße, und erklärt, wie man die grünen Schuppen auseinander brechen und die Früchte dann zusammen mit Salz und Olivenöl roh essen kann. Artischocken.

Erst als ich wieder in die Nähe einer größeren Stadt komme, Empoli, lässt sich zur Autostraße keine Alternative mehr finden. Gehen in der Stadt, dem Zentrum entgegen, auf Trottoirs, über Zebrastreifen, im rechtwinkligen Straßenmuster, und stets bin ich am Lesen von Schildern, Anschriften, Reklamen.

Sicher gäbe es auch hier einen Dom und eine pittoreske Altstadt und eine Franziskanerkirche… Ich will um das alles bewusst einen Bogen machen, um mir nicht die Eindrücke mit andern, ähnlichen Städten zu verwischen. Bereits jetzt habe ich Mühe, mich an den Dom von Cremona zu erinnern. Aber ich will in dieser Stadt meine Mail-Botschaften abrufen. Wo finde ich einen Internet-Point? Ich frage einige auf meinem Weg, in der Bar, in der Papeterie, und werde da und dorthin gewiesen. Vergeblich. Schließlich rufe ich mit dem Handy ein Taxi herbei, und der fährt mich zum ‚Chinesen’.

Und dann sehe ich zum ersten Mal die Josephine, an der Brust ihrer Mutter, auf dem Bildschirm.

Die Straßen aus Empoli heraus, das zeigt mir die Karte, versprechen nichts Gutes: schnurgerade Strecken, unter der Autobahn durch, durch Vororte. Diesmal nehme ich mir ein Taxi und lasse mich die sieben oder acht Kilometer hinaus aufs Land fahren.

Mitten zwischen zwei Dörfern lasse ich mich absetzen, was der Taxichauffeur mit großem Unverständnis zur Kenntnis nimmt, und gehe im Abendsonnenschein weiter, auf Nebenstraßen. Bei einem der ersten Häuser steht ein Bauer und hantiert etwas; ich frage ihn um etwas Trinkwasser in meine Flasche, gebe ihm Auskunft auf seine erstaunten Fragen, erkundige mich so gut es geht nach seiner Landwirtschaft, und er lässt sich gern in ein Gespräch ein und bittet mich zuletzt in die Stube hinein und setzt mir ein Glas Vinosanto vor. Seine Frau wird hereingeholt und setzt sich auch zu uns. Ich zeige ihnen die geschenkten Artischocken; er füllt ein Fläschchen mit Olivenöl Eigenbau für mich und drängt es mir zum Mitnehmen auf, mit guten Wünschen auf die Weiterreise.

Salz werde ich in der Bar bekommen, denke ich, nehme Abschied und gehe ins Dorf hinein. Da gibt es keine Bar, aber sie haben einen Circolo. Unterdessen ist mir das auch zu einem Begriff geworden. Was in Italien eine Bar ist, weiß man bald, wenn man in diesem Land reist: nicht etwa das verruchte und verrauchte Etablissement, in dem Dandys und Trunkenbolde herumhängen, angezogen von einer halb ausgezogenen Barmaid, sondern das gesellschaftliche Zentrum des Dorfes oder des Quartiers, wo man (meistens Mann) sich trifft und wo für die verschiedenartigsten Bedürfnisse gesorgt ist, auch für den kleinen Hunger, das Busbillet, die wichtigsten Zeitungen und vieles mehr.

Der Circolo sieht auf den ersten Blick aus wie eine Bar. Aber er ist, wenn ich es richtig verstehe und deute, in den meisten Fällen das Lokal, das der kommunistischen Partei des Ortes als Treffpunkt dient.

Nun muss man wissen, dass in Italien die kommunistische Partei überhaupt nicht wie bei uns mit einem Odium behaftet ist. Ich habe mich darüber an einer Festa del’Unità lange mit Genossen unterhalten. Historisch gesehen gibt es, nach der Überwindung des Faschismus von Mussolini, einerseits die Christdemokraten und anderseits die Kommunisten, also die Rechten und die Linken, die sich etwa hälftig in der Macht ablösen. Die Kommunisten fühlen sich durchaus mit den Sozialdemokraten Deutschlands verwandt.

In Alatri bin ich in einen solchen Circolo geraten, wo bei der Treppe in den oberen Stock das Schild ‚Nur für Parteimitglieder’ angebracht ist. In den meisten Fällen sonst ist aber der Charakter des Clublokals für den fremden Besucher kaum zu spüren und wohl auch nur noch historisch bedeutsam. Es bleibt für mich eine Vermutung – das kannst du ja nicht gut fragen – dass hier nur Männer verkehren, die der Partei angehören oder wenigstens nahestehen.

Andernorts habe ich auch etwa einen Circolo angetroffen, der von der Kirche betrieben wird oder von einem Sportclub.

Das Parteienwesen übrigens, mit den beiden Blöcken DC und KP, also Kirche und Kommunisten, ist heute bereits Vergangenheit. Unterdessen ist eher die Zersplitterung in zumeist unbedeutende Kleinparteien typisch. Auf dem Weg über die Poebene habe ich in allen Dörfern riesige Wände und Mauern mit weiß aufgepinselten und durchnummerierten Rechtecksflächen gesehen, ohne zu wissen, was das soll. Und dann wurden diese Felder innert Wochenfrist mit Plakaten überklebt: insgesamt 21 Parteien werben für die Wahl ins Europaparlament. Gleichzeitig finden Kommunalwahlen statt, werden also der Sindaco und die Gemeindeexekutive bestellt.

In diesem kommunistischen Circolo also kann ich mich heute für das Abendessen eindecken, mit irgendwelchen vorgebackenen Olivenbrotschnitten und einem Fläschchen Mineralwasser. Eine Prise Salz – zum Würzen meiner Artischocken – damit können sie allerdings nicht dienen.

Draußen vor dem Dorf, etwas abseits von der Straße, angelehnt an die Friedhofmauer, finde ich einen horizontalen Platz. Die Sonne ist untergegangen. Ich lege meinen Schlafsack aus, setze mich bequem zurecht und esse das Mitgebrachte, Brötchen und Artischocken.

Autos fahren in der Nacht kaum mehr vorbei, aber ach, die Straßenlampe, die muss brennen und lässt sich nicht ausknipsen. Dank der ‚Stampa’ und dem ‚Corriere dello Sport’ habe ich schön warm in meinem Schlafsack.

40 Via Francigena

Um halb sieben geht’s auf und davon, um halb acht komme ich ins Dorf Fontanella, wo ich sogar aussuchen kann zwischen Bar und Circolo. Unten am Fluss Elsa nehme ich mir eine Stunde Zeit, um den Schlafsack zu sonnen, ziehe dann weiter dem Fluss entlang, lasse mir von einer Frau, die von der Pünt kommt, ein Schleichweglein erklären, finde die Brücke über das Wasser und peile das Dorf auf dem Berg an: Castelnuovo d’Elsa.

Da gibt’s wiederum einen Circolo, der offenbar so gut geführt wird, dass die Bar schließen musste. Ich gebe mir eine Stunde für italienische Verben – somit habe ich die einschlägige Broschüre nicht umsonst mitgetragen. Ich bin, jetzt vormittags, abgesehen von zwei, drei Passanten, die schnell für einen Kaffee hereinkommen, der einzige Gast. Ich bleibe auch darum sitzen, dass mein Handy wieder an der Steckdose im Nebenzimmer aufgeladen werden kann. Ich sitze an der großen Glasscheibe und kann übers weite Land hinaus blicken, auf den Weg hinaus, den ich die letzten zwei Stunden gegangen bin.

Beim Dorfausgang stoße ich auf einen Wanderwegweiser. Sind sie nicht beispielhaft, diese Wege? Sie führen von der Straße weg hinaus ins Feld, in verträumte Tälchen mit farbigem Klee, und hören dann auf einmal auf. Du gehst zum letzten Zeichen am Baumstamm zurück, du suchst das vermisste nächste Zeichen, es gibt es nicht. Du kämpfst dich selbständig durchs Dickicht, denn umkehren ist keine Option. Lange Hosen sind empfehlenswert, die bedornten Sträucher sind in der Mehrzahl. Du kommst unten beim Bachbett aus dem Wald und siehst an einer Telefonstange aufgemalt das rotweiße Zeichen. Auch hier fehlt die Fortsetzung. Du vertraust deinem gesunden Menschenverstand, kommst irgendwann wieder in ein Dorf, und da finden sich, siehe da, jene Zeichen wieder. Es gibt aber auch Gegenbeispiele: Minutiös geführte Wege, die sogar im verschneiten Zustand gefunden werden, und das muss so sein, damit beim einsamen Wanderer das Vertrauen zu den Zeichen nicht gänzlich verloren geht.

Beim nächsten Dorf, eine Stunde später, mitten auf der Kreuzung, während ich mich entscheiden will, welchem Weg ich folgen soll, merke ich: mein Handy steckt immer noch an der Dose in jenem Circolo! Eben kommt ein Auto gefahren, eines der seltenen auf dieser Nebenstraße. Ich kann mitfahren und mache dann den Weg zum zweiten Mal, diesmal auf der Fahrstraße, in der halben Zeit. Gewiss, Wanderwege sind eben Freizeitwege, sie gehen verschlungene Wege und führen, wie ein Fitnessparcours, nicht direkt aufs Ziel zu.

Es geht weiter. Nun aber kommt eine Holztafel mit der eingeschnitzten Aufschrift ‚Via Francigena’, und dieser Weg wird sich als das schönste erweisen, was ich an Wanderwegen schon je begangen habe. Ich nehme an, es handle sich um einen Weg, den der heilige Franziskus von Assisi seinerzeit benützt hat, deshalb der Name. Er führt auf dem Rücken sanfter begrünter Hügel stetig südwärts.

Den ganzen Nachmittag lang kann ich ohne Sorgen um den richtigen Weg weiter ziehen, auf dem erdigen Boden, durch Wälder, zwischen Wiesen, auf denen das Gras hoch steht, und oben über mir in der Luft, unsichtbar, jubeln die Lerchen.

Im Schatten einer Eiche, etwas abseits vom Weg, mache ich Rast und blicke weit übers Land. Es ist zwar erst Mai, aber mein Hemd klebt mir am Rücken. Hier am Schatten nun gibt ein Windlein angenehme Kühlung. Von unten herauf, eingebettet in den Hügeln, umrankt vom Schilf- und Strauchgürtel, glänzt ein blaues Seelein, wie es hier manche gibt: Wasserspeicher. Ich lasse meinen Rucksack im hohen Gras liegen und steige die knappe Viertelstunde hinab, sinke ins Wasser und mache ein paar Züge. Man fühlt sich neugeboren nach einem solchen Bad.

Die Flasche ist leer. Bei einem Haus läute ich und bitte die Bauersfrau um Trinkwasser. Die Art, wie sie mir meinen Wunsch erfüllt, evoziert in mir den Begriff der ‚spontanen Intelligenz’. Es gibt immer wieder Menschen, zu denen ich eine unmittelbare, selbstverständliche Beziehung habe, und wenn es nur darum geht, das mit Wasser gefüllte Fläschchen entgegenzunehmen. Und es gibt andere, bei denen solche Interaktionen stumpf bleiben.

Ich befinde mich auf einem Pilgerweg. Sie sagt, gestern sei eine junge Frau vorbeigekommen, auch eine Pilgerin. Offenbar ist der Weg gerade so stark begangen, dass die Pilger noch wahrgenommen, aber noch nicht als lästig empfunden werden. Es ist doch immerhin seit Stunden das erste bewohnte Haus: ich bin also wohl nicht eine Ausnahme, wenn ich um Wasser frage. Sie reicht es mir freudig.

Was heißt hier Landwirtschaft? Oliven und Wein, sagt die Frau. Wenn ich mir die kleinen Beeren der Oliven vorstelle; wenn ich bedenke, dass im ganzen Mittelmeerraum überall Oliven angepflanzt werden; wenn ich den langen Prozess der Verarbeitung zu Öl in Rechnung stelle, so bin ich immer wieder erstaunt, dass dieses Produkt noch rentabel ist. Aber tatsächlich, auch in Gebieten, die landwirtschaftlich heruntergekommen sind; wo leere, verfallende Häuser von der großen Entvölkerung der Landschaft sprechen: die Olivenbäume sind überall gepflegt, die Böden gepflügt, die Hecken zur Einfriedung zurück geschnitten.

Und das Gras?, frage ich. Ich bin zwischen hüfthohen Wiesen gegangen, und es ist Zeit für den Heuet. Was machen Sie mit dem Gras? – Nichts, sagt sie. Man lässt es stehen. Mein Mann ist jetzt im Alter, wo es ihm zu streng wird. Und noch vor einigen Jahren haben sie uns recht gezahlt für das Heu, aber nun gibt es kaum mehr etwas. Es stimmt, ich habe unterwegs Heuballen gesehen, jene großen Rollen, die liegen noch vom letzten Jahr da und sind nicht abgeholt worden. Ja, es ist schade, sagt sie. Aber die Jungen haben sich andere Arbeit gesucht.

Mit Wasser gelabt ist alles wieder ganz anders. Doch gegen Abend geht mir der Weg, wieder einmal, verloren, das heißt, es fehlt bei einer Verzweigung (einem ‚bivio’) das Wegzeichen, ich habe falsch entschieden, und weg ist er. Ich folge also wieder meiner Nase, meiner guten Nase.

Und bald ist von weitem die Stadt auf dem Berg zu sehen. Ich halte darauf zu, finde sogar einen fußgerechten Aufstieg und bin auf einmal mitten in den Touristen. Man spricht deutsch. Montaione. Zuerst mal ein Gelato. Dann Campari. Dann gründliche Waschung und frische Kleidung.

Das Städtchen ist auf der Italienkarte nicht verzeichnet, kann sich aber durchaus mit Volterra oder Orvieto messen, nicht in der Größe, aber was die Lage und die schöne Anlage anbelangt. Ich schreite durch die Altstadt, umschreite die Mauer, übersehe von der Terrasse aus die weite Landschaft, durch die ich gekommen bin, blicke auf die fernen blauen Hügelsilhouetten hinaus und kehre dann wieder ins Zentrum zurück.

Der Hunger stimmt auch. Aber es ist noch zu früh für die Cena. Eine Unterkunft brauche ich heute nicht, das Wetter ist stabil, ich kann mir also draußen einen Platz suchen. So darf ich mir etwas Gutes zum Essen leisten. Ein Restaurant mit Kellnern und weißen Tischtüchern, mit Sicht durch die Glasfront, das darf es sein.

Vorerst will ich nur meinen Rucksack deponieren und einen Platz für später bestellen, aber was soll’s: bin ich nicht lange genug schon auf den Beinen gewesen? Der Kellner bringt mir vorerst einen Aperitif, ich habe in der Stadt eine NZZ kaufen können, die schweizerische Politik hat sich unterdessen um die Bilateralen gebalgt, ohne mich, und bald bin ich nicht mehr zu früh. Ich vertraue mich den Ratschlägen des Kellners an und frage ihn, wie es komme, dass er so gut deutsch spreche. Er sei zwanzig Jahre im der Schweiz gewesen, habe im Dolder gearbeitet und in Illnau gewohnt. Ja, er weiß, wo Marthalen liegt. Er wird am Nebentisch verlangt und spricht dort fließend auf englisch weiter.

Ein Kellner, einer von denen, die aus dem Beruf etwas zu machen wissen. Ich stelle mir vor, wie das ist: da kommen sie herein, die verschiedenartigsten Gäste, nehmen den zugewiesenen Platz ein, machen sich mehr oder weniger unsicher und unschlüssig an die Speisekarte, und zwei Stunden später, dank diskreter Betreuung, dank den Künsten eines Koches und dank der wohltuenden Wirkung eines guten Tropfens, verlassen sie allesamt glücklich und heiter das Lokal.

Es ist längst Nacht, als ich bei den letzten Häusern vom Weg abkomme, durchs Gras und zwischen Weinstöcken mit tastenden Schritten den Hang hinunter stapfe und unterhalb der Mauern, bei einem Olivenbaum, ein waagrechtes Plätzchen finde. Diesmal ist’s eine Neue Zürcher Zeitung, die warm gibt. Das Einschlafen zieht sich nicht wegen mangelnder Wärme etwas in die Länge, sondern weil mir ein Sonnenbrand an den Beinen Beschwerden macht.

41 Nach Volterra

Der Weg am andern Morgen ist zunächst mühsam. Asphalt und Abgas schon am frühen Morgen. Ein Martyrium. ‚Märtyrer’, höre ich, seien Zeugen vor Gericht. Aber nicht für den christlichen Glaube lege ich hier Zeugnis ab, sondern für die Mobilitätswut unserer Zeit, die ich körperlich erlebe und erleide. Gewiss, wenn alle Menschen einmal ausgestorben und die Rennbahnen innert weniger Jahrzehnte wieder überwuchert sein werden, wird es noch viel schwieriger sein, durch die Wildnis von Nord- nach Süditalien zu gelangen. Aber dannzumal werde ich es ja gar nicht mehr versuchen, und deshalb soll davon jetzt auch nicht die Rede sein. Nein, ich denke an jene Straßen und Wege, die es durch Italien einst gegeben haben muss, bevor sie wegen der heutigen Straßenbau-Euphorie überflüssig geworden und daher eingegangen sind.

Es ist nicht allein wegen des Lärms und des Gestanks, dass es eine Qual ist, lange auf Autostraßen zu gehen. Es ist auch – und das kann die Auto fahrende Generation schwer verstehen – der harte Bodenbelag; es ist der egalisierte und dadurch eintönig gleichförmige Untergrund, der die Gelenke ermüdet; es ist die Verlorenheit in der Breite der Fahrbahn; und es sind vor allem die weiten Kurvenradien, die das Gehen auf der Straße so ermüdend machen. Kükelhaus hat einmal in einer Zeichnung dargestellt, wie ein Wanderer während einer Stunde auf einer breiten, schnurgeraden Straße geht und am Ziel todmüde anlangt, um dann umzukehren und auf schmalem, gewundenen Weglein dem Fluss entlang, im Schatten des Waldes, zurückzugehen und erfrischt am Ausgangspunkt wieder anzukommen.

Endlich eine Bar am Straßenrand! Zeit für den Kaffee, nach der ersten Marschstunde. Aber sie ist noch geschlossen… Wenigstens ein Mäuerchen gibt es, wo ich mich setzen kann und von wo aus ich meiner Verena zu Hause telefonisch guten Tag sagen will. Das gelingt, und wir unterhalten uns gewiss eine Viertel- oder eine halbe Stunde lang, lustig und angeregt. Bis einer im Haus ein Fenster aufmacht und wütend reklamiert. Ich habe ihn geweckt.

In Castagna gibt’s dann das Gewünschte und gleich danach auch eine Abzweigung. Die Fortsetzung des Weges ist eine Strada bianca, eine Straße ohne Belag. Noch vor vierzig Jahren, als ich zum ersten Mal, zusammen mit Andreas, in Italien war, und wir mit der Vespa durch die Gegend kurvten, fuhren wir ausschließlich auf solchen Straßen von Florenz nach Volterra hinauf.

Und dann, kaum bin ich ein paar hundert Meter auf dieser Straße gegangen, höre ich sie zum ersten Mal auf diese Reise wieder: eine Nachtigall. Schon mehrmals glaubte ich sie zu erkennen, aber nie war ich sicher. Aber diesmal ist es eindeutig. Mitten im Tag laut und unaufhaltsam singt sie ihre immer neuen Strophen. Ich sitze am Straßenbord und lausche. Händel hat ihren Gesang mit der Flöte nachgeahmt (im ‚Allegro ed il Penseroso’), aber ich kann nichts wahrnehmen von den angeblichen vier Melodieteilen. Es sind immer wieder völlig andere und überraschende Strophen.

Es sei die Salzstraße, sagt man mir später. Auf großen Pferdefuhrwerken sei das Salz hier geführt worden. Unterdessen ist der Verkehrsweg durch einen kürzeren ersetzt und weitgehend überflüssig geworden. Das ist mein Glück. Kaum je kommt ein Fahrzeug an mir vorbei. Einmal ein Sankt Galler. Ich winke aufgeregt, aber er kann nicht begreifen warum.

Im Gehen gelingt mir endlich eine gültige Form für den Schluss der Geschichte ‚hic rhodos hic salta’:

muesch ebe wüsse, kolleg, jetz lachisch. diheim, z rhodos, chönt i s! -
nei, da’isch de fülscht, wo-n-i ghört ha bis jetz, und ich han doch scho vil ghört.
hic rhodos, hic salta! da tanz eus, da simer z rhodos.

Ein Auto innert drei Stunden. Beidseits der Straße urwüchsiger Wald. Vom ‚Grünen Riesen’ hat István Nöthig gesprochen, als wir ihn in Ungarn besuchten, und hat damit die unerbittliche und zuletzt sich immer wieder durchsetzende Natur gemeint, die jedem Lebewesen seinen eigenen Lebenstrieb zugesteht und gleichzeitig sich nichts daraus macht, dass dieses Wesen andere Lebewesen auslöscht, vertilgt, abwürgt. Ihm, diesem Riesen, ist es gleichgültig, wenn ich sterbe, und es genügt ihm, wenn ich nur dazu beigetragen habe, dass meine Art, mein Gen sich fortpflanzt. Nein, sogar das ist ihm gleichgültig. Auf die Länge wird ein anderes Wesen noch so gern meine Lücke ausfüllen.

So ist hier der Wald. Ungepflegt, undurchdringlich, unerbittlich.

Die Strada bianca führt mich hügelauf und hügelab und kurvenreich, aber auf optimalem Weg der Stadt Volterra entgegen. Nach einem Rank kommt ein Wildschwein aus dem Gehölz, schnuppert herum, sichtet mich, tut ein bisschen erstaunt, macht Kehrt und rennt davon.

Die Stadt liegt auf dem Berg, und der Aufstieg zuletzt ist happig, 400 Höhenmeter in der Mittagszeit. Es geht ein trockener Wind.

Ich komme um drei Uhr an. Ich bin neun Stunden gegangen, ohne die längeren Pausen. Die Distanz ist auf dem Straßenwegweiser mit 32 km angeschrieben, aber die Luftlinie, die ich aus der Karte messe, beträgt spärliche 9 km.

Ich frage mich durch und finde im Albergo M…n ein Zimmer. (Den Namen nenne ich hier nicht, wegen einer Geschichte, die noch folgen wird.) Die Signora führt mich auf verwinkelten Gängen und Treppen – es will nicht enden – in den zweiten Stock. Später folge ich einem Schild mit Pfeil noch weiter und komme hinauf in einen Dachgarten, von wo ich die ganze Stadt überblicken und weit ins Land hinaus schauen kann.

Da oben ist niemand. Ich spiele Flöte, ich konkurrenziere mit der Amsel und läute, zusammen mit den Glocken der umliegenden Türme, den Abend ein.

Ein hölzernes Tor vom Dachgarten ins Nachbargrundstück ist abgeschlossen. Ich höre auf der andern Seite Stimmen in verschiedenen Sprachen und von Menschen verschiedensten Alters, und ich kann mir keinen Reim darauf machen. Das Tor ist zu hoch, als dass ich hinüber sehen könnte, ich lege mich auf den Bauch und kann auch nicht unten durch sehen. Es wäre spannend, zu erfahren, wer hier, angrenzend ans Hotel, wohnt und so lebhaft den Garten bevölkert.

Ich gehe in den Ausgang. Ich kaufe mir eine neue Hose, eine Ausgehhose. Die bisherige ist mir zu weit geworden und hält nur noch dank dem Gurt. Erfreulich. Eine leichte soll es sein und sie soll zu allen Hemdfarben einigermaßen passen. Wie immer müssen auch diesmal die Hosenbeine verkürzt werden; das wird mir auf den Abend des folgenden Tages versprochen und ist im Preis inbegriffen.

Zurück im Hotel steige ich wieder auf die Dachterrasse hinauf. Unterdessen sind dort oben, wo sich noch ein einzelnes Zimmer befindet, Gäste eingezogen (im Zimmer 18), und weil ich nicht sicher bin, ob mein Aufenthalt hier berechtigt ist, spreche ich sie an. Nein, sie haben gar nichts dagegen, dass ich den schönen Platz mit ihnen teile, und bald sind wir in angeregtem Gespräch.

Es ist ein Ehepaar aus Norwegen. Wir sprechen englisch miteinander. Als Einzelreisender ist man, nach einem Tag Alleinsein, begierig auf Gespräche, auf persönlichen Kontakt, und muss darum acht geben, mit diesem Bedürfnis andern nicht zur Last zu fallen. Deshalb ziehe ich mich bald wieder zurück, obwohl ich gerne noch mehr von ihnen erfahren hätte.

Fürs Nachtessen hat mir die Wirtin das ‚Ristorante dei Poeti’ empfohlen. Ein Grotto mit Gewölben. Sehr gut, sehr angenehme Bedienung.

Am Nebentisch sitzt eine Familie, ein Ehepaar mit Tochter und Schwiegersohn, und obwohl ich ihnen den Rücken zuwende, sprechen sie mich an und ziehen mich ins Gespräch. Sie sind aus Cremona und befinden sich miteinander hier auf einer Reise. Ja, in Cremona sei ich auch durchgekommen. Stimmt mein Eindruck, dass Familienbande in Italien stärker sind? Ist es üblich, dass Junge mit den Alten zusammen in die Ferien gehen?

Zum Abschluss bestelle ich einen Grappa und wundere mich darüber, dass mir der Kellner ein leeres Gläschen auf den Tisch stellt. Was will er damit sagen…? Bis ich merke, dass daneben die volle Flasche steht, à discrétion. Eine schöne, eine gefährliche Gewohnheit.

42 Etruria

Hier bleibe ich länger als eine Nacht. Alles stimmt. Das Zimmer mitten im historischen Zentrum. Immer wieder der Dachgarten mit der Weitsicht und dem Blick auf die Türme. Viele schöne Kirchen. Gepflegte Gassen mit Läden und Bars. Mühe macht einzig der fehlende Handy-Empfang, aber zuoberst auf der Akropolis kommt auch das zustande.

Volterra. Die Stadt auf einem Berg, dessen Ränder abbröckeln, weil der schwarze Tuffstein so weich ist. Einmal vor Jahrhunderten ist gar eine Kirche über die Abgründe hinab gestürzt. Da hätte ich zusehen wollen.

Neben dem Tor, durch das ich am Abend zuvor eingetreten bin, steht das Soldatendenkmal. Es ist 1925 errichtet worden und wurde später ergänzt mit den jeweiligen ‚nomi dei caduti Volterrani’. Wie in Frankreich, so bemerke ich auch hier: Im Ersten Weltkrieg, der übrigens in diesem Land 1915 begonnen hat, war der Blutzoll ungemein groß. Ich zähle rund um den Stein eingeschrieben 10 Offiziere, 9 Unteroffiziere, 27 Korporale und 295 Soldaten. Nach dem Zweiten Weltkrieg, der für Italien 1940 begann, wurden 103 Namen hinzugefügt sowie 21 Fotos von Männern angebracht, die in der ‚resistenza contro il nazifascismo’ getötet worden sind.

Mein Rundgang führt mich zum Dom. Dieser stammt aus romanischer Zeit, ist aber im 16. Jahrhundert umgestaltet worden. Säulen marmorisiert. Kapitelle aus Gips. Kirchendecke mit vergoldeten Holzschnitzereien. Schöne Bilder und Skulpturen. Kanzel mit naivem Abendmahl und einer zarten Verkündigung.

Dem Dom gegenüber das Baptisterium. Eher kahl, verglichen mit den andern, die ich in Oberitalien gesehen habe. Schöne Palazzi, schön die Gassen, vor allem jetzt am frühen Morgen, wenn erst die Reinigungsfahrzeuge unterwegs sind. Die weite Landschaft heute dunstverhangen.

Der Weg führt mich zum Markt draußen vor der Mauer, am römischen Theater vorbei. Ein paar Shorts gekauft, meinen neuen Maßen entsprechend. Einen bebilderten Stadtführer gekauft, damit ich die Unumgänglichkeiten nicht verpasse, wenn ich schon da bin.

Eine Entdeckung wird die Kirche Sant’Allessandro, etwas unterhalb der eigentlichen Altstadt. Ein dunkler romanischer Bau mit hellen kleinen Fenstern. Ich bin ganz allein, kann ein Alleluja singen: klingt gut, trotz Klinkerboden. Ich will später mit der Flöte nochmals vorbei kommen.

Oben auf der Kuppe, auf der Akropolis, ist ein Park, wo sich nun langsam auch die Touristen einstellen. Deutsche, die sich über die Auffahrtstage ein paar toskanische Städte vorgenommen haben. Gegen Eintritt werden Ausgrabungen von etruskischem Gemäuer gezeigt. Nebenan das Schloss, ein riesiger Bau, unzugänglich, weil als Gefängnis gebraucht.

Auf dem Weg zurück zur Hauptgasse komme ich an einem hölzernen Tor vorbei, das ich sogleich wiedererkenne: Es ist die Außenseite unserer Dachterrasse. Damit ist die Vielsprachigkeit der Stimmen, die ich gehört habe, erklärt. Es sind nicht Nachbarn, es sind die Touristen, die von der Akropolis in die Stadt zurück hier vorbei spazieren.

Hinaus nun in die westliche Vorstadt, wo die Franziskanerkirche steht, jener Neubau aus dem 16. Jahrhundert für die erwähnte abgestürzte Kirche, die etwas weiter draußen an der Kante gestanden sein musste. Eine merk-würdige Fassade von Einfachheit und Großartigkeit. Im Innern dann bloß eine wohlgeputzte große Halle.

Verschiedene Läden und Werkstätte zeigen ein Handwerk, auf das sich Volterra während Jahrhunderten spezialisiert hat, die Herstellung von Geschirr und Schmuck aus Alabaster. Die ganze Breite von Kunst und Kitsch ist zu sehen und zu haben. Auch das Etruskermuseum zeigt dreidimensionale Kunst: hunderte von Sarkophagen, von Aschentruhen. Totenkult. Ich denke, ich will doch jetzt dann einmal das Grab meiner Eltern besuchen gehen. Zwar haben wir heute andere Formen der Erinnerung.

Von den Etruskern stammt auch das südliche Stadttor, in der Art des Löwentors von Mykene.

Ich fühle mich bereits ein wenig heimisch in der Stadt und gehe durch die Winkel und Gassen, einmal so, einmal so, und dann wieder durch die ränkereichen Gänge des Hotels, bis zum hintersten Hinterhaus, wo mein Zimmer liegt, vorbei an einem Stück etruskischer Stadtmauer und hinauf auf die Dachzinne.

Um fünf ist ein Konzert mit klassischer Musik angezeigt. Viel zu früh bin ich dort, und dann beginnt es – ich habe auf die Uhr geschaut – um 17Uhr37. Es spielt ein Trio in eigenartiger Besetzung: Flöte, Gitarre, Violoncello, und sie spielen (angeblich) Schubert, was recht langweilig klingt, dann etwas unbekannt Klassisches, dann etwas Zeitgenössisch-Swingendes, und dann reicht’s mir, und ich gehe.

Weil ich mich nicht nochmals dem überreichen Angebot eines ganzen Essens hingeben will, kaufe ich im Fast-Food-Laden eine Omelette, ein Brötchen, etwas Tischwein im Karton und ziehe damit auf meine Terrasse. Schade, dass ich mich von den Norwegern nicht mehr habe verabschieden können. Es war eine schöne Begegnung.

Ich breite meine Fressalien auf dem Tischchen aus, leere den Tischwein in den Zahnbecher aus Plastic, was nicht ohne Überschwemmung gelingt, und beginne mein karges Mahl. Da kommt das Paar aus Norwegen, und sie haben eine gute Flasche für uns drei eingekauft. Sie sind also nicht abgereist und haben sogar für diesen Abend mit mir gerechnet. Meine Freude ist groß.

So sitzen wir also draußen am Gartentischchen, nippen am Glas und sprechen von vielem. Terje ist lutheranischer Gefängnispfarrer in Oslo. Mich interessiert natürlich die Frage der Kriminalisierung von Deliquenten und sein Umgang mit ihnen. Irena ist Sozialarbeiterin, und das ergibt auch viele gemeinsame Themen, Schule, Sozialfälle, Sonderschulung, Sprache. Ihr beiden Kinder sind erwachsen und leben ihr eigenes Leben.

In Oslo wären wir eingeladen. Ich denke, wir nehmen das einmal wahr. Gibt es nicht noch die Einladung von Helmut Goebel, die Ferien in seinem Haus in Schweden zu verbringen?

Dann Abschied und ins Bett. Morgen will ich früh hinaus und weiter. Das Hotel M…n will ich mir merken. Und durch die Begegnung mit diesem norwegischen Paar hat Volterra für mich eine ganz besondere Qualität erhalten.

43 Cásole

Ich habe am Vorabend bezahlt, die Réception öffnet erst um acht, und ich will früh aufbrechen. Ich gehe also um halb sechs aus der Tür, ziehe sie von außen zu, und schnapp ist sie im Schloss. Ein paar Schritte die Gasse hinab: wo ist mein Handy? Ich muss es im Zimmer vergessen haben. Der Ärger ist groß. Jetzt muss ich bis um acht warten, bis ich es holen kann. Was mache ich in den zweieinhalb Stunden, und so früh am Tag?

Eine Bar ist schon offen, ein Espresso ist zu haben. Das gibt einen klaren Kopf. Gibt es da nicht jenes Tor von der Dachterrasse aus, das zwar abgeschlossen und vergittert und mit Drahtgeflecht gegen Einbrecher geschützt ist? Ich steige außen herum die Gasse hinauf gegen den Park. Links und rechts vom Tor ist eine Mauer, deren Oberseite mit eingemauerten Glasscherben abgesichert ist. Um diese Zeit ist niemand weit und breit zu sehen. Ich lege meinen Rucksack hinter eine Ecke, klettere auf die Mauer, taste mich Hand um Hand zwischen den Scherben vor, kann die Geländerstange ergreifen, schwinge mich hinein und lasse mich auf das Dach von Zimmer 18 plumpsen. Einen Weg zurück gibt es nicht, aber den brauche ich auch nicht. Ich bin jetzt auf der Dachterrasse. Die Treppe hinunter, durch die verwinkelten Gänge zu meinem Zimmer, da kenne ich den Weg. Den Zimmerschlüssel habe ich zum Glück stecken lassen. Tatsächlich, das Handy liegt unter dem Kopfkissen. Zum zweiten Mal an diesem Morgen verlasse ich das Hotel auf dem regulären Weg durch die Haustüre, die sich von innen öffnen lässt und von außen ins Schloss gezogen wird und wieder zuschnappt. Zurück zum Rucksack, und dann zur Stadt hinaus.

Ich habe ausnahmsweise für dieses Gebiet eine genaue Karte 1:25'000 auftreiben können, und darauf kann ich sehen, dass es für die erste Stunde nichts anderes gibt als die Autostraße, wenn ich nicht, in direkter Linie, immer wieder in die Gräben hinunter und auf die Höhen hinauf steigen will. Aber es ist noch früh, es ist Sonntag, und so hält sich der Autoverkehr in Grenzen. Wenigstens das.

Einmal versuche ich über das Weideland eine weite Kurve abzuschneiden. Aber ich mache damit 300 Schafe verrückt. Für sie bin ich nichts anderes als ein Wolf. Sie fliehen in panischer Angst.

Endlich kommt die Abzweigung. Der Wanderweg Nummer 22/23 ist eine Naturstraße und beginnt dort, wo eine Nachtigall den Ton angibt. Ein langer Weg durch ein breites, liebliches Tal. Beim Schloss Luppiano würde der Weg 22 abzweigen, das ist aber nicht mein Weg, ich bleibe auf der Straße, aber jetzt hören die Bezeichnungen auf, und etwas später gerate ich auf eine ganz andere Spur, die nun wieder nicht mit meiner Karte korrespondiert. Die allgemeine Richtung aber stimmt, und zur Sicherheit stelle ich den Kompass ein. Ich komme immer tiefer ins Gebüsch, dann wieder auf große Waldwiesen hinaus, finde eine breite Traktorenspur, vertraue mich dieser an und kann mich dafür überhaupt nicht mehr auf der Karte orientieren. Hinauf und hinab geht’s. Endlich wird der Weg wieder besser, und auf einmal komme ich auf einen Platz hinaus, wo sich eine große Festgemeinde von Jägern und anderem Landvolk auf Bänken zu einem ‚pranzo dei cacciatori’ versammelt hat. Schön wär’s, da mittun zu können, aber davon wollen die Verantwortlichen nichts wissen. Wenigstens drücken sie mir eine große Flasche Mineralwasser in den Arm, und von Bezahlen wollen sie nichts wissen. Aber ich merke, wie froh sie sind, dass sich der undefinierbare Eindringling davon macht.

Leider führt die Straße quer zu meiner Richtung. Ich versuche es wieder mit der Karte, nachdem ich mich neu habe orientieren können, und traue mir zu, die eingezeichneten Waldwege zu finden. Das erweist sich als Irrtum. Ich gerate völlig ins Dickicht. Ich folge einem Fußweglein hinunter ins Tobel. Dieses geht in einen Wildwechsel über und endet auf der andern Seite des Baches an einer senkrechten Wand. Ich bin aber überzeugt: Wenn die Wildschweine da durchkommen, so schaffe ich es auch, und das geht wirklich, und zwar auf allen Vieren unter den Zweigen durch; der Rucksack verfängt sich immer wieder und muss vorgehängt werden. Aber ich gewinne die Höhe und gerate wieder auf Wege. Allerdings habe ich jetzt nur noch den Kompass als Anhaltspunkt und aus der Karte die Gewissheit, dass ich irgendwann aus diesem Wald herauskommen muss.

Nach zweieinhalb Stunden bin ich bei der in der Karte vermerkten Farm ‚La Fameta’, abgekämpft und müde, und von dort gibt es eine Fahrstraße bis Cásole d’Elsa. Sobald ich mir Wege querfeld-wald-ein suche, brauche ich doppelt so lange, wie wenn ich auf einer Straße gehe.

Der Regen hat sich den ganzen Tag zurückgehalten, gelegentlich ist die Sonne durchgebrochen, dann wieder hat die Bewölkung zugemacht, aber jetzt, als ich durchs Tor der Stadt Cásole schreite, fallen die ersten Tropfen. Es ist fünf Uhr abends. Ich bin elf Stunden unterwegs gewesen und hoffe auf ein weiches Bett. Draußen vor der Stadt wäre ein Albergo gewesen, aber ich habe es verschmäht und rechne auf Besseres. Und für den Fall, dass gar nichts zu finden wäre, habe ich einen freien Unterstand, draußen im Feld, unterhalb der Ortschaft, ins Auge gefasst, wo ich trocken liegen könnte.

Einmal mehr eine schöne Stadtanlage. Schöne Kirche. Bar. Es tut gut, am Tischchen zu sitzen, sich am Aperitif zu laben, sich in der Toilette frisch zu machen, umzuziehen. Und dann erkundige ich mich nach einer Unterkunft. Ja, es gebe zwei Hotels, das eine draußen vor der Stadt (an dem ich vorbeigekommen bin), und ein zweites beim östlichen Stadttor. Dort frage ich nach. Ja, es wäre ein Zimmer frei. Bereitwillig wird es mir gezeigt: Preis 160 €, und das ist auch gerechtfertigt für diese Suite im historisch hergerichteten Gebäude, mit diesem Weitblick übers Land. Volterra ist in der Ferne zu sehen, auf der andern Seite die Türme von San Giminiano, und auf der dritten Seite kann man Siena erahnen. Aber das Haus ist nicht angemessen für einen Pilger wie mich, und ich lehne dankend ab.

So bleibt mir der Stall von Betlehem, draußen vor der Stadt. Dafür will ich mich umso mehr an einem guten Abendessen freuen, und ich komme nicht zu früh, es ist gerade noch ein Tisch für mich frei.

Italienisch essen, eine Kunst für sich. Ich brauche mit dem Salat mein letztes eigenes Öl auf, das ich immer noch im Rucksack mitgetragen habe, seit Monterápoli. In der hinteren Ecke sitzt eine vielköpfige Schweizer Familie. Sie wissen nicht, dass da einer sitzt, der sie versteht. Sie tun sich schwer mit der Bestellung und beklagen, dass es auf der Karte nicht das gibt, was sie sich wünschen, und was heißen diese Bezeichnungen überhaupt? Ich freue mich am Großvater, der seiner Enkelin die Serviette umbindet, und sie lässt es gern geschehen. Ein Cola light muss her. Welch ein Sakrileg.

Ich habe einen schönen Eckplatz. Ein herziger alter Kellner bedient mich, und er freut sich auch, dass es mir gut geht. Ich habe mir wie gewöhnlich ein Primo und einen Salat bestellt, dazu den Roten des Hauses und zum Abschluss etwas Süßes und den Kaffee.

Nach dem Essen ziehen mich die Nachbarn auf der andern Seite ins Gespräch. Es sind Holländer, und wir unterhalten uns, schräg über den Tisch hinweg, auf englisch. Sie kennen sich aus, sind öfters hier in den Ferien, und wollen wissen, wie ich auf dieses Lokal, einen Geheimtipp, stoßen sei. Ich erzähle ihnen, wie ich auf meiner Fußreise ganz zufällig da vorbei gekommen sei. Wo ich denn schlafen wolle, wenn ich zu Fuß sei? Und dann bieten sie mir das Sofa in ihrer Ferienwohnung an, wenn mir das genüge.

Und ob mir das genügt! Wir fahren hin, hinab von der Stadt und zwei Kilometer ins Land hinaus zu einer Feriensiedlung, deren Wohnungen vor allem von Holländern gemietet werden. Wir trinken noch eine Flasche Wein miteinander, können uns gut unterhalten, und mit Stolz erzähle ich von meinem holländischen Schwiegersohn.

44 Siena entgegen

Kurz vor sechs verlasse ich leise das Haus. Schönster Sonnenaufgang. Ich versuche, direkt gegen Osten loszuziehen. Das Gras ist taunass, aber durch den Wald gibt’s Wege. Unten im Tälchen folge ich einem Waldrand, dann muss ein Weizenfeld durchquert werden. Die Halme stehen hüfthoch in geraden Reihen, so dass dazwischen ein Fuß stehen kann, ohne etwas niederzutreten. Aber bald bin ich bis zur Gürtelhöhe hinauf so nass, wie wenn ich durch ein Schwimmbassin gewatet wäre. Drüben auf dem Feldweg angekommen, ziehe ich die kurzen Hosen an, die noch trocken sind, winde die nassen Kleider aus und hänge sie hinten an den Rucksack.

Auf Nebensträßchen komme ich in ein kleines Dörfchen hinauf. Leider gibt es keine Bar. Ich werde also noch lange gehen müssen, ohne zu meinem Frühstück zu kommen. Auf dem Platz vor der Kirche gibt’s wenigstens Sonne, da können meine Kleider trocknen.

Ein wahrer Sonntagsweg, eine Strada bianca durch den Wald. Nachtigallen, Fasane, Rehe.

Im Dorf Pievescola komme ich endlich, um elf Uhr, zu Caffè-Brioche-Pizza, und der Bar gegenüber steht eine sehr schöne romanische Kirche, zur Besichtigung offen, zum Flötenspiel einladend.

Bald nach dem Dorfausgang zweigt wieder ein Sträßchen rechts ab. Es ist gar als Wanderweg 111 bezeichnet. Einmal findet sich ein Schild mit dem Namen Gallena, damit kann ich aber nichts anfangen. Dann verzweigen sich die Wanderwege, neue Nummern, stete Ungewissheit, immer aufs Geratewohl. Schließlich komme ich in ein Dorf und stelle fest, dass ich zwei Stunden gebraucht habe für eine Distanz, die auf der Autostraße mit 5 km angeschrieben ist. Es waren schöne Umwege.

Nun lange auf der Straße, mit wenig Verkehr, über einen Pass. Kurzes Gespräch mit einem Landarbeiter, der beim Viehzaun ein Tor flickt. Er ist Albaner und lebt hier beim Bauern. Seine Frau fährt jeden Morgen mit dem Bus in die Stadt zum Putzen, und so können sie durchkommen, zusammen mit einem kleinen Kind.

Am Straßenrand ist ein Auto abgestellt und nicht weit davon sitzt ein Paar mit Säugling im Schatten und picknickt. Ich kann den kleinen Umweg nicht verkneifen. Meine beiden eben geborenen Enkelkinder, die ich so gern auf den Unterarm genommen hätte… wenigstens kann ich hier dieses Kindchen anschauen. Mein Italienisch hilft nicht viel weiter, aber mit schweizerdeutsch geht’s besser. Denn die beiden, Daniel und Bernadette, sind Sankt Galler, und ihr Kind heißt Salome. Ich werde von ihnen zu einem Glas Chianti eingeladen, einen dreibeinigen Klappschemel können sie mir anbieten, und ein Viertelstündchen wieder Mundart reden, das tut gut.

Von nun an gibt’s nur noch Asphaltstraßen, ich nähere mich der Stadt Siena.

Von weitem ist eine romanische Pieve auf freiem Feld zu sehen, etwa einen Kilometer abseits von meinem Weg. An der Bushaltestelle steht eine junge Frau. Ich frage sie, ob die Kirche wohl offen sei. Nein, aber der Schlüssel sei im Haus nebenan bei der Claudia zu haben, und diese sei jetzt, am Nachmittag, zu Hause, ja, die Kirche sei schön, und sie habe darin geheiratet. San Giovanni Battista.

Ich leiste mir den Abstecher, und es lohnt sich. Eine ehemalige Klosteranlage. Die Kirche wird heute nur noch als Hochzeitskirche benützt. Sie ist schön wieder hergestellt worden. Der Verputz ist herausgenommen, die Mauern kommen zur Geltung, auch der offene Dachstuhl aus Kastanienholz. Für die Restaurationsarbeiten sammelt ein Verein Gelder. Ich habe Glück, denn Claudia wollte gerade fortgehen. Sie macht mir auf und lässt mich dann allein, und ich gebe der Akustik die Ehre.

Nun aber wird der Weg mühsam. Feierabendverkehr, Hauptstraße, und es soll noch 8 km bis Siena gehen. Einer meiner Ausbruchversuche, auf einem Feldweg durch eine Schafweide den Hang hinauf – trotz der beiden weißen Hüterhunde, die ganz allein, ohne Zaun, die Herde beisammen halten, neben der vielbefahrenen Straße, und die mich mit Recht aus diesem Revier heraus halten wollen – führt aber nur wieder, trotz vielem Auf und Ab, auf die so bequeme Straße zurück. Der zweite Ausbruch erfolgt dann, als ich schon oben auf dem Berg die Häuser von Siena sehe. Ich steige in der Direttissima steil den Olivenhügel hinauf, indem ich die Friedhofsmauer anpeile, und stoße auf dem schnellsten Weg auf die Stadtanlage. Aber da oben ist fast nicht aus dem Ölberg herauszukommen: alles ist mit hohem Drahtgeflecht eingezäunt. Zuletzt muss ich darüber klettern und stehe auf einem Parkplatz.

Die Häuser von Siena. Aber wo bin ich? Wie frage ich mich durch? Ich kann mich nicht mehr an den Namen der Kirche erinnern, neben der das Haus der barmherzigen Schwestern steht. Ich weiß nicht mehr, wie deren Hospiz heißt. Ich bin in einem Quartier, das nicht von Touristen besucht wird, demzufolge gibt es auch nirgends einen Stadtplan zu kaufen, mit dem ich mich dann durchfragen könnte.

Endlich komme ich darauf, nach jener Piazza zu fragen, wo die Überlandbusse abfahren. So komme ich meinem Ziel näher. Es ist Abend, und so dünkt mich auch dieses letzte Stück Weg noch lang. Um halb acht bin ich aber im Santuario und bekomme ein Zimmer, wie gewünscht, mit Blick auf den Dom hinauf.

Die Schwester Giaginta ist zwar nicht am Empfang; morgen Vormittag wieder, sagen sie mir.

Ich bin an diesem Tag dreizehn Stunden auf den Beinen gewesen. Die Dusche ist eine Wonne und auch das weiche Bett.

Endlich um neun erreiche ich Verena wieder einmal am Telefon. Sie ist mit den Germanisten in Tübingen und Stuttgart gewesen, auf Hölderlins Spuren, und hat sich ganz in ihre Reise hinein gefunden.

Ja, es geht mir gut.

45 Siena

Schade, dass die Toskana schon bald vorbei ist. Noch wenige Tage, und ich bin in Umbrien.

Es ist schon später Vormittag, als ich aufstehe und nach allgemeiner Wäsche aus dem Santuario gehe. Die Schwester Giaginta ist auch 18 Jahre älter geworden seit dem letzten Mal, und es ist klar, an mich erinnert sie sich nicht mehr.

Flanieren in der Stadt. Das Baptisterium sehe ich zum ersten Mal, und bin doch schon so oft in Siena gewesen. Campo. Einen Becher Eis. Erinnerung an die Kinderchen, die hier auf dem Platz Tauben fütterten und Glace schleckten. Zum Dom. Aber dort ist mir die Schlange zu lang. Zimmer und Balkon genossen.

Wanderkarten gekauft vom Gebiet östlich von Siena, den Crete Sienese. Denn letztes Mal bin ich gegen Süden weiter gezogen, gegen Rom, diesmal möchte ich mehr ins Landesinnere und am Trasimenischen See vorbei kommen.

Es sind alle die schönen Städte Italiens von Touristen bevölkert, und das macht auch einen Teil ihres Reizes aus. All die Straßencafés, die Flanierenden tagsüber und abends, die von Gesundheit und Bräune strotzenden Menschen, von denen viele auch ganz anders Zeit zu haben scheinen als vermutlich in ihrem heimischen Alltag und eine gewisse Neugier auf Landsleute und Fremde aufbringen.

Aber Siena, diese schönste der italienischen Städte, ist bereits jetzt im Mai nicht nur bevölkert, sondern überflutet von Touristen.

Mich zieht’s weiter.

46 Crete Senese

Ich stehe um fünf auf, wandere durch die leeren Gassen des alten Siena und zum östlichen Tor hinaus. Schon um sechs ist im letzten Vorort eine Bar offen, und nun kann nichts mehr geschehen.

In Arbia finde ich den Wanderweg Nummer 2, eine Strada bianca, die über die Kuppe eines langgezogenen Hügels südwärts führt, zwischen saftigen Getreidefeldern und hohem Gras. Rechts in der Ferne, scheinbar immer in gleichem Abstand, die Silhouette von Siena. Immer so weiter.

Aber ich will nicht gegen Süden, wo der Wanderweg hin führt, bis Montalcino, sondern gegen Osten. Also von Isola d’Arbia aus wieder auf der Straße. Lange halte ich’s nicht aus. Nebenstraße zum Friedhof, dann ohne Schuhe durch die Furt eines Flüsschens, bis zu den Knien im Wasser, und auf weiten Feldwegen an einzelnen Bauernhöfen vorbei.

Beim Auswendiglernen meiner Hexametergeschichten (die ich in verkleinerten Kopien mit mir trage) gibt es immer wieder Stellen, die mich nicht ganz befriedigen. Wenn sie im Gedächtnis nicht haften bleiben wollen, dann kann das ein Zeichen sein dafür: das sitzt noch nicht ganz. Für das ‚Mittagessen im Garten’ finde ich heute eine Verbesserung.

oh, pardon, monsieur, j’ m’excus’, han i gmeint, dass sie wünschid
dussen im garte dîner. Il fait beau und es zwitsch’red di buchfink. -
zwischered? so? ja, dänn tüend sie vo mir us dusse serviere.

Auf und ab führen die Wege, meist oben auf den Kreten, und diese verlaufen leider Nord-Süd statt West-Ost, und so muss ich oftmals hinab steigen in die Täler zwischen den Hügeln und drüben wieder hinauf. Allerschönste Landschaft, Weizen, Gerste, Gras so weit das Auge reicht, unten dem Bachgraben entlang Wald mit Ginster und Gebüsch. Immer wieder die Nachtigallen. Fasane fliegen kreischend aus dem Gras auf und lassen dabei (weil sie Schiss haben) ihren Kot durch die Luft ab.

In Isola d’Arbia habe ich noch ein Brötchen gegessen und ein Fläschchen Mineral eingekauft. Hier aber ist stundenlang kein Mensch auszumachen. Die wenigen Behausungen am Weg sind verlassen, gelbe Tafeln warnen vor dem Betreten, wegen Einsturzgefahr.

Endlich am späten Nachmittag sichte ich oben auf dem Hügel ein Haus mit Tieren draußen auf dem Platz, mit Vorhängen an den Fenstern. Ich gehe die paar Schritte hinauf und rufe. Nach einiger Zeit zeigt sich oben auf dem Balkon eine Großmutter. Sie kann mir sagen, wo ich bin, damit ich mich auf meiner genauen Karte zurechtfinde. Herunterkommen würde sie nicht, sie unterhält sich nur von ihrem Balkon herab mit mir. Ich frage um Wasser. Sie zeigt auf den Brunnen, den ich aber nicht finde. Endlich verstehe ich, dass ich an einem kleinen Häuschen einen Laden aufmachen müsse. Wirklich, nun kann ich in die Zisterne hinunter sehen. Mit einem Kessel, der an einem langen Strick hält, ziehe ich Wasser herauf. Ich denke: Wenn sie es mir anbietet, werde ich es doch wohl trinken können. Es ist wirklich kühl und frisch. Ich nehme tiefe Schlücke und fülle mein Fläschchen wieder.

Ich bin nun doch schon weiter, als ich gedacht habe, und kann heute noch Asciano erreichen.

Später komme ich auf die Straße, und siehe da: ein Restaurant. Gibt es zu essen? Erst ab acht, sagt der Wirt, und wir haben alle Plätze vorbestellt. Nichts zu machen. Aber zu trinken hat er für einen einsamen Pilger. Er macht eine Flasche auf, er trinkt ein Glas Weißen mit mir und hat Zeit für einen Schwatz. Ich spreche ihn auf die leeren Häuser an, denen ich auf dem Weg begegnet bin. Ja, sagt er, als ich ein Bub war, so um 1945 herum, da gab es in der Kirche da oben noch 700 Christen; heute sind es vielleicht noch 15.

Um halb acht marschiere ich in Asciano ein. Ich frage einen alten Mann auf der Straße, wo ich essen könne, und er gibt mir ein Lokal an. „Mangia bene, spende poco.“ Diesen Spruch muss ich mir merken.

Nach dem Essen (es war so-la-la) bin ich zu müde, um mich noch nach einem Hotel durchzufragen. Dem Vernehmen nach gäbe es eins. Ich habe mich auf der Toilette frisch waschen können. Ich will am andern Morgen früh los. Was soll ich mich für die wenigen Stunden einquartieren. Kein unnötiger Schritt mehr. Dreizehn Stunden habe ich in den Knochen. Beim Sportplatz, mitten in der Stadt, findet sich hinter dem Lebhag ein Plätzchen im hohen Gras, wo mich niemand sieht und keiner hinkommt. Erst als ich eingepackt bin und es vollends dunkelt, stelle ich fest: Ich bin wieder mal unter eine Straßenlampe zu liegen gekommen, die wohl die ganze Nacht brennen wird.

Es geht dem Sommer entgegen. Der Schlafsack gibt mir, auch ohne Zeitungen, warm genug.

47 Sinalunga

Ich bin in einem Gebiet, wo Wanderwege bezeichnet sind. Allerdings sehr diskret. Man muss die rotweißen Zeichen suchen. Und es braucht die dazugehörige Karte, sonst sagen die Nummern nichts. Hier also ist es die Nummer 509.

Seit Siena trage ich einen Bambusstock mit mir. Es ist sehr leicht, aber etwas zu lang. Wie ich nun aus dem Dorf Asciano hinaus marschiere, höre ich ein Geräusch: Ist das nicht eine Fräse? Ich gehe dem Ton nach. Was wollen Sie da?, fragt mich ein Chef. Er sieht es gar nicht gern, dass ein Unbeteiligter auf der Baustelle herumsteht. Aber als er mein Anliegen hört, nimmt er meinen Stock, geht in den Neubau hinein und bringt ihn mir wieder zurück, verkürzt auf die gewünschte Länge.

Schöner Weg, heraus aus der Senke, hinauf auf die landwirtschaftlich genutzten Höhen. Nasses Gras auf dem Weg. Getreide, Fasane, Lerchen, ein Hase, Niemand. Bei einem leeren Haus mache ich Pause, lasse den Schlafsack austrocknen, spiele Flöte, und die Töne gehen durch die Fensterlöcher ins Haus hinein und machen dort Nachhall.

Der Wanderweg ist schön geführt. Kartenlesen. Später, im Wald, erwisch ich dann doch den falschen, die Nummern haben offenbar geändert, die Zeichen sind nicht durchgehend, und dann wieder nichts mehr. Der Weg führt mich an eine einsame alte Kirche mitten im Wald, Sant’Alberto. Im Innern eine Baustelle. Wie weiter? Mein Weg endet an der Kante der senkrechten Wand eines Steinbruchs. Abstieg durch den Wald. Ich bin froh, als ich auf eine Straße komme, und es bleibt Straße bis Sinalunga, noch 16 km. Selten mal ein Auto, und so ist es ein erträglicher Weg und zum Nachdenken ein ertragreicher.

Meine Geschichte von den Essstäbchen bekommt ein wenig eine andere Gestalt:
so, er hät s gse, de chinesischi bonz, hät s gse volle mitleid,
nimmt àbschíd vo de höll und suecht s himmelstor. wo-n-er achlopft,
wird s en moment lang still… mer füert en in saal, und was gset ër?
s sitzt s ganz volch a de tisch, da hät s alls druff, z essen und z trinke,
gnau so wie det i de höll, und ä da: essstäbli, wo z lang sind.
da aber händ all gnueg. und warum? s vis-e-vis a dim tisch zue
steckt dir s essen i s mul, so wie du ihm s essen i s mul stecksch.

Bei einer Abzweigung versuche ich auszuweichen: quer zur Richtung zu gehen während zehn Minuten und dann parallel zur Straße einen Weg zu finden. Diese Methode hat mich schon oft auf schöne Spuren geführt. Aber diesmal muss ich es damit erkaufen, dass es zu viel Natur gibt: Bachgräben, Dornen, mühsames Ab und Auf, gewundene Wege. Karges Land. Wald und Weide. Weite Blicke immer wieder.

Als ich zurück auf die Straße komme, ragt, wie im Märchen oder im Traum, eine Röhre aus dem Boden, ein Wasserhahn, und sie gibt wirklich Wasser. Es kommt gar ein Auto gefahren, der Mann lädt Kanister aus seinem Kofferraum und füllt sie damit auf.

Einmal zweigt ein gepflegtes Sträßchen ab, Zufahrt zu einem Hotel, draußen in der Einsamkeit. Ich leiste mir die paar Schritte und frage nach einer Unterkunft. Zwar ist es noch früh am Nachmittag, aber fragen kostet nichts. Ein Feudalhotel. Die Empfangsdame gibt mir freundlich Auskunft. Pferde zum Ausreiten wären auch zu haben. Alles zu stolzen Preisen. Doppelzimmer zu 600 Franken pro Tag für die Pension.

Wieder auf die Straße. Ich habe die Welt für mich allein und die Füße machen ihren Weg von selbst. Ich habe mich entschlossen, heute keine Eskapaden mehr zu machen und die leere Fahrbahn zu genießen.

Einmal kommt mir in gemächlicher Fahrt ein offenes Mercedes-Coupé mit deutschem Nummernschild entgegen. Sie halten an. Ein Geschäftsmann und seine Freundin oder Sekretärin auf Urlaub oder was man sich auf Grund vieler Filme so zusammenreimt. Sie fragen mich, ob das, was man am Horizont sehe, die Insel Elba sein könnte. Das ist es mit Sicherheit nicht. Aber darum geht es gar nicht. Sie brauchen eine Abwechslung in ihrem Tag, und da kommt ihnen so ein ausgefallener Fußgänger eben recht.

Sie erzählen mir, dass sie ein Reiseunternehmen für gleichgesinnte Kunden gründen wollen: Leute, die mit offenem Wagen die Toskana erkunden. Sie organisieren also Reisen, bei denen man, wie bei einer Hochzeitsfeier, mit seinem Auto in einer Kolonne durch diese Gegend fährt. Ich male mir im Weitergehen aus, wie ich ihnen noch Kassetten andrehen würde, auf denen Rössligebimmel zu hören wäre.

Um halb sechs komme ich in Sinalungo an und erquicke mich an der Bar. Es gibt ein Hotel, ein einziges, aber es befindet sich im neueren Teil unten an der Hauptstraße. Essen im großen Speisesaal, zusammen mit vielen anderen Gästen. Hotelgäste gibt es außer mir keine. Traditionsreiches Haus, aber in seiner Zeit stehen geblieben. Sehr günstiger Preis. Ich zahle fürs Essen 25 und fürs Zimmer 20 €.

Todmüde sinke ich ins Bett.

48 Zum Lago Trasimeno

Vor mir liegt flaches Land, Kulturland. Wie jeden Morgen die Frage: Finden sich heute Wege abseits der Autostraßen?

Diesmal gelingt’s, nachdem ich einmal die Ortschaft hinter mir gelassen habe. Ich kann dem Fluss nach, neben dem Hochwasserdamm, gehen. Eine begraste Traktorenspur.

Unvergesslich das folgende Bild, wie aus einem Traum: Die Fahrspur ist nach einiger Zeit kaum mehr zu sehen, so hoch steht hier das Gras, fast mannshoch. Ich presche mich durch die Halme. Meine Kleider sind voller Blütenstaub. Plötzlich kommt aus diesem Graswald eine Stoßstange auf mich zu, ich trete zur Zeit, und die Stoßstange gehört zu einem Fiat Punto. Der Bauer und seine Frau im Auto – sie mit Heugabel zwischen den Knien – sind ebenso überrascht über mich wie ich über sie und halten an. Woher und wohin? Und pflügen sich dann weiter mit ihrem Gefährtlein durchs Gras, das hinter ihnen plattgewalzt ist. Leider auf die falsche Seite.

Die 50’000er-Karte ist gut und zuverläßig. Ich finde schöne Wege auf Sträßchen und quer über die Ebene. Am Fluss, im Schatten, im hohen Gras liegend, einmal eine Stunde Siesta. Dann sanfte Hügel. Bauernland, Traktorenwege, Wiesen und Wälder. Im Dorf Cignano frage ich nach Wasser. Von wo ich sei. Angelo, einer der Angestellten auf dem Bauernhof, sagt, er sei in der Schweiz geboren, sie seien dort aber nur bis zu seinem ersten Lebensjahr geblieben. Er zeigt mir seine Identitätskarte, darauf steht ‚Geburtsort: Winterthur’.

Am frühen Abend endlich eine Bar, Gelato, etwas zu essen. Ich möchte noch bis zum See kommen, suche mir den Weg durch die Wälder, mit Hilfe der Karte, und stehe auf einmal vor einem hohen Drahtzaun: Fondo chiuso. Alles zurück, das ist die Frage. Oder dem Hag nach, nach links oder nach rechts? Das kann kilometerweit gehen.

Es geht aber nicht sehr weit, da findet sich ein Loch im Hag (nicht von mir herausgeschnitten!). Nun bin ich also im ‚fondo’ – ein Wort, das im Italienischen für vielerlei herhalten muss. Ich gehe durch diesen Fundus, zwischen den Bäumen, auf Wildwechseln, über steinige Wiesen, durch Ginstergebüsch, und komme neuerdings an einen hohen Zaun, oben stets mit Stacheldraht abgesichert. Diesmal findet sich nach kurzem Suchen ein Loch unter dem Hag durch, das von den Wildschweinen stammen könnte und mir ebenso dienlich ist. Nach einiger Zeit erreiche ich dann die Straße, die ich mit Hilfe der Karte schon lange vorausgesehen habe. Aber dass sich zwischen dem Wald und dieser Straße wieder ein hoher Drahtzaun befindet, davon hat die Karte nichts gewusst. Dieses dritte Mal aber findet sich keine undichte oder beschädigte Stelle. Ich muss, trotz Stacheldraht, über den Zaun klettern. Ich werde gelegentlich eine Anleitung für solche illegale Taten herausgeben. In diesem Fall helfen bereits einige starke Knebel, die auf Knie- und auf Hüfthöhe durchs Geflecht gestoßen und gleichzeitig auf dem Boden abgestützt sind. Mit ein bisschen Geschick und mit viel Geduld (wegen besagten Stacheldrahts) kann man auf diesen Bengeln in die Höhe steigen.

Nun wieder auf der Straße nähere ich mich dem Trasimenischen See und der Stadt Castiglione. Aber eine oder zwei Stunden wird es schon noch dauern. Und der Himmel verdüstert sich.

Immer wenn die Straße lang wird, verkürze ich mir die Zeit, indem ich meine Hexametergeschichten auswendig lerne, und heute habe ich alle laut aufgesagt, mit Ausnahme der beiden langen, n und y.

In Piana fängt es dann wirklich an zu regnen, mit großen Tropfen, und es sieht nach Gewitter aus. Bei einem der ersten Häuser ist ein Bub noch draußen. Ich rufe ihm durch das Gitter zu, ob ich nicht unterstehen könne. Das Haus hat eine Art Veranda, wie man sie in Vermount bei den früheren Bürgerhäusern sehen kann. Ja, er öffnet das Schiebetor, mit einer Vorrichtung im Hausgang, und ich kann hereinkommen. Der Vater wird herbeigeholt, die Mutter zeigt sich an der Türe. Ich werde eingeladen, Platz zu nehmen auf der Sitzbank vor dem Haus, unter dem Vordach, und unterhalte mich dann der Reihe nach mit allen, während der Regen zunimmt.

Das Bauernhaus ist von etlichen Hüttchen und Schöpfen umgeben, und ich wage die Frage, ob ich nicht in einem der Häuschen mit meinem Schlafsack Unterschlupf finden könne. Die Antwort bleibt vorläufig aus, die Beratung scheint im Haus stattzufinden. Daran bin ich gewöhnt.

Für mich ist es unverständlich, wie das ein Problem sein könnte, wenn ein Pilger eine Nacht lang in einer trockenen Ecke liegt. Es scheint mir, sie können sich nicht vorstellen, dass mir dies vollauf genügen würde. Vielleicht erfordert ihr Anstandsgefühl, dass sie mir, wenn schon, ein Bett anzubieten hätten. Dass aber dies wiederum eine allzu große Bitte wäre, ist mir klar.

Andererseits, wenn ich mir vorstelle, es käme einer aus Polen und würde bei unserem Nachbarn vor dem Regen unterstehen und ganz beiläufig fragen, ob er in der Scheune die Nacht verbringen dürfe, dann bin ich beinahe sicher, dass er mit dieser Bitte kein Gehör fände. Und sogar bei mir, der ich selber weitgereist bin und dabei widrigste Umstände erfahren habe, wäre es zweifelhaft, ob er unterkäme.

Jedenfalls bekomme ich nach einer halben Stunde vom Familienoberhaupt den Bescheid, er müsse ohnehin an diesem Abend noch in die Stadt fahren, da könne er mich mitnehmen und zu den Nonnen bringen, die dort eine Herberge führten.

Das Angebot kann ich nicht ausschlagen. Auf der Fahrt erzählt er mir von seinen Reben, die er pflege, seit vor einigen Jahren sein Vater gestorben sei. Bis dahin habe er bei der Polizei gearbeitet. Da es aber mit den Beförderungen nicht nach Wunsch geklappt habe, sei ihm der Abschied von der Truppe nicht schwer gefallen. Und jetzt habe er seine Ruhe mit den Reben.

Als ehemaliger Polizist, das wird mir jetzt deutlich, kann er nicht den Lapsus begehen, einen Unbekannten, der möglicherweise noch delinquiert, ungeprüft unter sein Dach zu nehmen. Pilger, das kann doch jeder sagen.

Ich lasse mich dann aber nicht bei den Nonnen abladen, sondern vor einem Hotel, denn die Bezahlung, sage ich ihm, sei nicht mein Problem.

Nachtessen im großen Speisesaal. Am Nebentisch eine Reisegruppe aus Neapel, gut zwanzig Leute, Freunde, die jedes Jahr miteinander eine Carreise unternehmen. Sie haben es sehr lustig. Irgendwie kommt dabei der einsam an einem Tischchen neben ihnen Essende ins Blickfeld. Einer beginnt mich auszufragen und verkündet dann mein Unternehmen über den ganzen Tisch. Ich bin eine Zeitlang im Mittelpunkt des Interesses und komme dabei an meine Grenzen, was die Beherrschung der Sprache anlangt, so vor der großen Zuhörerschaft. Mir scheint, wenn ich wollte, könnte ich in dieser Gesellschaft einen langen und lauten Zechabend verbringen.

Was, Sie wollen schon ins Bett, so früh?

49 Lago Trasimeno

Gibt es auf dem See eine Schiffsverbindung für mich? Als Pilger ist es ein ganz besonderes Vergnügen, am Geländer zu stehen und das ferne Ufer an sich vorbeigleiten zu sehen.

An der Réception sagen sie mir: Um 9:30 Uhr. Aber wohin? Mehr wissen sie nicht, ein Fahrplänchen liegt nicht auf. Heute ist zudem Samstag, ich gehe darum auf sicher, verlasse das Hotel früh, mache den Weg durch die erwachende Altstadt von Castiglione, oben auf dem Hügel, nehme dort meinen Kaffee, während in den Straßen die Kübel scheppern, und suche dann die Anlegestelle, unten am Ufer.

Das einzige Schiff am Vormittag fährt um 8:35 Uhr, nur leider in die entgegengesetzte Richtung, nämlich zur Isola Maggiore und dann nach Passignano. Am nördlichen Ende des Sees. Und ich will nach Süden.

Ich habe mir nun mal in den Kopf gesetzt, ein Stück weit mit dem Schiff zu fahren. Und ich setze auf Zufälle, die nur eintreten können, wenn man ihnen die Gelegenheit gibt. Vielleicht finde ich dort ein privates Bootsunternehmen, das mich über den See führt.

Pünktlich kommt das Motorboot angefahren. Ich bin wieder einmal der einzige Passagier. Kein Wunder, am Samstag Vormittag zu so früher Stunde. Kein Wunder, dass Schiffskurse abgeschafft werden.

Bei trübem Himmel und grauem See gleiten wir über zur Insel hinüber. Dort steigen zwei, drei andere ein, und kurz nach neun steige ich in Passignano an Land.

Schönes Städtchen mit Schloss in der Höhe. Wir haben einst an einem heißen Sommertag hier gebadet, als wir mit dem Chor hier in der Nähe, in Castèl Rigone, in einem Hotel wohnten. Werni und Edi waren damals in Passignano einquartiert und machten jeden Morgen den zweistündigen Weg hinauf zu uns zu Fuß.

Jetzt habe ich Zeit zur Besichtigung. Denn zum Südende des Sees gibt’s nur einen einzigen Bus, und der fährt um eins. Ich steige zur Burg hinauf, verbringe eine halbe Stunde flötenderweise. Ich steige wieder hinab und verweile eine weitere halbe Stunde in einem Coiffeursalon. Die Chefin selber legt Hand an und stutzt mir den Bart, kichernd, weil sie, wie sie sagt, solches zum ersten Mal tue. Eine weitere Stunde geht locker herum, weil ich in der Cartoleria eine NZZ gefunden habe, mit der ich mich draußen an der Sonne an ein Terrassentischchen setze. Dann mache ich mich daran, im Tabacco mein Busbillet zu erwerben, und frage zur Sicherheit nochmals nach, ob der Bus auch wirklich fahre am Samstag, d.h. ob Samstag ein giorno feriale sei, und das bestätigt mir die Dame. Nun schaltet sich aber ein Kunde ein und verneint dies. Er sei Bus-Chauffeur und müsse es wissen. Der nächste Bus fahre um halb drei.

Nun werden mir die Stunden zu lang, um noch weiter zu warten. Hab ich nicht von der Burg aus einen Zug in südöstlicher Richtung fahren sehen? Also, zum Bahnhof. Ja, in einer knappen halben Stunde soll ein Regionalzug nach Perugia kommen, mit dem ersten Halt in Magione. Diesen Ort finde ich auf der Karte am östlichen Ende des Sees. Besser als nichts. Ich löse ein Billet an der Bar.

Was mich dann überrascht: Der Zug verschwindet in einem Tunnel und kommt hinter dem Berg wieder ans Licht. Ich bin zwar etwas nach Südosten gekommen, habe aber einen Berg zwischen mir und dem See. Zu Fuß wär’s leichter gewesen.

Ich will vom Südende des Trasimenischen Sees Richtung Süden gehen, und nun habe ich bald den ganzen Tag damit zugebracht, auf Zufälle zu warten, und bin gar kein bisschen weiter gekommen. Eine Stunde Autostraße steht mir bevor, und das habe ich mir gar nicht so vorgestellt. Deshalb versuche ich’s per Autostopp, und siehe da, es hält einer an und nimmt den armen Pilger ein Stück weit mit. Dort, wo die Straße nach San Savino abzweigt, lasse ich mich abladen und setze nun – es ist bereits Nachmittag – meine Beine in Bewegung.

San Savino ist ein schönes, kleines Dorf rund um eine alte Burg mit langer Mauer. Überrascht stelle ich fest, dass ich wieder auf einem Wanderweg bin, auf der Nummer 1, und das sieht verheißungsvoll aus.

Tatsächlich werde ich nun von den Zeichen auf schönen Wegen über Bergrücken südwärts geführt und bin stundenlang unterwegs, ohne durch eine Siedlung zu kommen. Manchmal blicke ich auf eine weite umbrische Ebene hinab. Städte und Städtchen sind in der Ferne auszumachen, Perugia und San Martino in Colle und vielleicht sogar Assisi hinten im Dunst. Auf dem höchsten Punkt steht eine baufällige Kirche und ein schönes, bewohntes Schloss: Montali.

Ich bin erst drei oder vier Stunden unterwegs und will noch einige Stunden gehen, um die versäumte Zeit nachzuholen. Aber ein Schild ‚ristorante’ weckt alsobald meinen Hunger. Wie wär’s mit einem guten Nachtessen?

Auf dem Fahrweg kommt mir ein Autofahrer entgegen. Ich halte den Finger auf, um ihm eine Frage zu stellen. Er hält an und kurbelt die Scheibe herunter. (Diese Bereitwilligkeit, für eine Auskunft anzuhalten, erstaunt mich immer wieder.)

Ja, das sei ein gutes Restaurant, nicht billig, aber es sei die Preise wert. Gut, dann mache ich den Abstecher, einen Kilometer die Anhöhe hinauf, durch eine Zypressenallee.

Das Restaurant erweist sich als ein herrschaftliches Gut, und eine Messingtafel verspricht Gourmetküche. Ich wage den Schritt durchs Tor trotzdem und frage nach. Ja, aber erst in anderthalb Stunden, und sie hätten heute ein einziges Menu, ein Renaissance-Menu, aus Anlass der aktuellen Ausstellung in Perugia über den Perugino (den berühmten Maler und Lehrer von Raffael).

Ich melde mich also an, ohne nach dem Preis zu fragen – das schiene mir irgendwie nicht standesgemäß an einem solchen Ort, wo man Geld hat, aber nicht davon spricht – und das ist ein Fehler. Denn ich muss mich nun den ganzen Abend lang fragen, was für ein Schock mich am Ende wohl treffen wird.

Vorerst aber habe ich zu warten, und wer müde ist, wartet gerne. Ich verziehe mich in die Toilette, samt meinem Rucksack, und komme nach einer Viertelstunde wieder heraus, frisch gewaschen von oben bis unten und sauber angezogen. Ein schönes Gefühl, und nun brauche ich mich in der noblen Gesellschaft nicht mehr ausgeschlossen zu fühlen.

Ich bestelle mir meinen Aperitif, wie immer Campari Soda mit Pfirsichsaft und Eis, und setze mich draußen unter den alten Bäumen ans Tischchen auf dem Kiesplatz. Um halb acht erscheint der Chefkellner und lädt mich ein, im Saal Platz zu nehmen.

Zu bestellen gibt es nichts, außer dem Wein, und da stehen die Preise: stolze Preise. Mir graut. Aber nur nichts anmerken lassen. Ich vergegenwärtige mir mein Bankkonto. Keine Sorge, sage ich mir.

Es sitzt mir einfach noch tief in den Knochen, dieses Gefühl, mit Geld sei äußerst sorgsam umzugehen. Ich denke jetzt an meine erste Auslandreise, mit siebzehn, auf dem Velo, zusammen mit Heini Grundmann, nach Holland und Norddeutschland: Wir hatten vier Franken pro Tag zur Verfügung. Wir mussten uns in den Jugendherbergen die 70 Pfennige für die Miete eines Leintuchschlafsackes sparen, indem wir behaupteten, wir hätten einen dabei. Wir konnten uns den Eintritt ins berühmte Kunstmuseum in Den Haag nicht leisten. So absurd es auch ist, sparen zu wollen, wenn man auf Reisen ist: die Haltung ist fast nicht mehr auszutreiben. Hat er es nicht ganz richtig gesagt, dieser reiche Marquard: Geld sollen wir lieben, dann liebt es uns auch, und wir lieben es, indem wir es unter die Leute werfen.

Nun also sitze ich da an meinem Einertischchen. Nach und nach kommen andere herein, lauter Paare; sie haben vorbestellt und werden an ihren Tisch gewiesen. Leise tönt von der Decke Renaissancemusik. Die Dame des Hauses persönlich erläutert mir den ersten Gang. Sie spricht perfekt deutsch. Sie hat vorher am Tisch nebenan dasselbe auf englisch und drüben am andern Tisch auf französisch gesagt, und mit dem Personal spricht sie italienisch.

Jetzt wolle ich nur noch darauf warten, sage ich zu ihr, dass sie am nächsten Tisch lateinisch spreche, dann sei mein Erstaunen vollständig. Viel sei von ihrer Lateinmatur nicht mehr vorhanden, gibt sie zur Antwort. Ihr Mann hingegen habe seine Dissertation auf lateinisch abgefasst. Und deutsch spreche sie, weil sie Deutsche sei.

Dieser ihr Mann, der Herr des Hauses, bringt jetzt den ersten Gang persönlich, hoch über seiner Schulter auf den Fingern haltend. Für die feinen Gläser ist der Kellner zuständig und für den Wein; und der kleine Diener darf Brötchen reichen.

Der erste Gang, die Vorspeise, sei eine Kisch. Noch nie gehört, dieses Wort. Sie nennt auch die Kongredienzien: lauter Fremdwörter für mich, auch wenn sie deutsch spricht. Was dann auf dem großen Teller gebracht wird – jetzt versteh ich’s – ist eine Quiche, groß wie ein Zweifrankenstück. Fein! Das Problem stellt sich mir, der ich ohnehin ein schneller Esser bin, wie ich das Stück zeitlich in die Länge ziehe.

In diesem Sinn geht’s weiter. Alles vom Feinsten und vom Kleinsten. Fünf Gänge. Zum zweiten eine kalte Suppe. Dann drei winzige Stückchen vom Kaninchen, aber ganz vortrefflich. Auf dem nächsten Teller (und das immer nach einer halben Stunde) vier Stückchen Käse von verschiedener Sorte, jedes so groß wie ein Euro, und zu essen im Uhrzeigersinn. Und zuletzt folgt eine Schnitte Nusstorte mit dem Durchmesser von 4 cm, wundervoll.

Nach zweieinhalb Stunden ist das Programm vorbei. Ich möchte gehen, draußen ist es dunkel geworden. Was ich nicht geglaubt hätte: kein Hunger mehr. Ich verlange die Rechnung. Ich bin noch einmal überrascht: kein Grund zur Ohnmacht. Der Preis ist im Rahmen, ist für den besonderen Aufwand angemessen.

Beim Aufstehen stelle ich mir vor, was die Leute hier um mich herum dächten, wenn sie wüssten, wie ich jetzt dann unweit von hier im Gras mein Nachtlager aufschlagen werde.

Der Kellner holt mir meinen Rucksack, den man aus dem Blickfeld geschafft hat. Zufrieden verlasse ich das Haus.

Ich gehe die Allee hinab und steige bald darauf, im Licht des Mondes, übers Straßenbord hinauf in eine Olivenpflanzung. Einige Schritte vom Weg entfernt suche ich unter einem Baum ein flaches Plätzchen. Der Boden ist frisch gepflügt. Umziehen ist nicht einfach im Dunkeln und ohne dass die sauberen Kleider voll Erde werden. Es geht ein kühler Wind. Ich wickle mich gut in den Schlafsack.

Leider ist beim Handy die Batterie leer. Allzu gerne hätte ich mein Renaissance-Erlebnis noch mit Verena besprochen.

50 Pfingsten

Geschlafen habe ich gut. Als sich mein Kopf aus dem warmen Schlafsatz heraus schält, taucht am Horizont ganz rot die Sonne auf.

Das ist die schönste Zeit zum Gehen. Die Welt ist daran, Farbe zu bekommen. Der Kopf ist frisch, und der Bauch freut sich auf den Kaffee.

Die Wanderwegzeichen führen mich zunächst noch durch ein Seitental und über eine Krete, und weil sie so lückenlos sind, vertraue ich mich ihnen an. Es ist sicher nicht der schnellste, aber es ist ein schöner Weg.

Zwei Stunden. Um acht Uhr bin ich in Tavernelle. Ich frage in der Bar, ob ich mein Handy einstecken dürfe, labe mich an Capuccino und Brioches, setze mich draußen am Platz an die Sonne und suche heraus, was ich von den herumliegenden Zeitungen verstehen kann, aber viel ist das nicht.

Sonntagmorgen, Pfingsten. Auf der Piazza ist es ruhig. Ein Herr mit Hund holt seine neueste Zeitung. Einer verwickelt ihn in ein Gespräch. Eine Mutter mit Kindchen wird bestaunt. Einer holt sich frische Brötchen an der Bar, die zu einer Bäckerei gehört. Aber da kommt doch tatsächlich ein Lastwagen von einem Baugeschäft auf den Platz gefahren und bringt irgendwelches Material zu einer Baustelle. Ich bin der einzige, der das für ungewöhnlich hält.

Denn Sonntags ist’s, Pfingsten. Ich lasse meine Beine länger unter dem Tisch als gewöhnlich und genieße es. Ich darf ja auch warten wegen dem Handy.

Dann aber weiter. Vorn an der Hauptstraße, beim Kiosk, finde ich eine genauere Karte von Umbrien, auf der mein Wanderweg Nr. 1 von gestern und heute eingezeichnet ist. Es ist ein Weg vom Trasimenischen See zum Lago Bolsena.

Auf stillen Nebensträßchen geht’s durch die grüne Landschaft. Da kommt mir eine Frau auf dem Velo entgegen. Sie sitzt ganz tief und fährt im Schritttempo. Es ist offensichtlich: sie will etwas für ihr Gewicht tun.

Sie hält an. Kennen Sie mich nicht? Sie haben doch in der Bar Ihr Handy aufgeladen. Es ist mir peinlich, dass ich sie nicht wieder erkannt habe, und so sage ich: Ziehen Sie doch schnell Ihre Sonnenbrille ab. Ja, jetzt kenne ich Sie. (Das war einleuchtend!) Dann fragt sie mich nach dem Woher und Wohin. Nach Rom? Aber da sind Sie genau falsch, da müssen Sie in die entgegengesetzte Richtung gehen, so kommen Sie nicht nach Rom. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich solch einen kapitalen Fehler gemacht hätte. Ich packe meine Karte aus, lege sie mitten in der Straße ausgebreitet auf den Boden und zeige ihr, wie ich über Mansciano und Todi nach Rom gehen will. Da lässt sie sich überzeugen, dass Rom wirklich in dieser Richtung liegt.

Man kann es sich kaum denken, dass jemand von Marthalen nicht weiß, in welcher Richtung ungefähr Zürich oder Genf liegt. Aber wenn ich mir vorstelle, ich würde in Ellikon den Weg nach Zürich erfragen, so würden sie mich auch nach Marthalen schicken, obwohl das die entgegengesetzte Richtung ist, einfach darum, weil dies mit dem Auto der direkte Weg ist. Vielleicht ist unsere Raumorientierung im Gehirn wirklich so organisiert wie jener älteste, nämlich der römische Straßenplan der Schweiz, oder wie ein Streifenplan, wie er an der Innenseite im Zürcher Tram hängt: wir bewegen uns in einer geraden Linie vorwärts und nehmen die Kurven gar nicht als solche wahr, es sei denn, dass wir sie tatsächlich überblicken können.

Eine knappe Stunde später schon wieder ein Halt. Es ist Sonntag. Zudem ist der Schlafsack noch nicht ausgelüftet. Ein Platz unter Eichen, an einem Bächlein, da liegt sich’s gut.

Dann Aufstieg zum Dorf Castiglion Fosco. Telefon mit Verena, sie ist in der Kirche gewesen. Man hat sie gefragt, wie es mir gehe. Und nur Brigitte Arnold habe sie gefragt, wie es ihr gehe.

Dann weiter auf den Pien del Celle (ein Passübergang), von dort sehr schöner Wanderweg über den Bergrücken.

Ich komme in ein unbewohntes neu-altes Dorf: Eine Ferienwohnungssiedlung im antikisierenden Stil, mitten in einer gebirgigen Ginsterlandschaft, offenbar auf der Stelle eines ausgestorbenen Dorfes erstellt. Die neuen Häuser sind noch im Bau, die Ferien haben noch nicht begonnen, kein Mensch weit und breit. Doch, da vor einem Haus gackern ein paar Hühner und sitzen zwei Alte. Ich rufe Buon Giorno, und sie kommen neugierig an die Mauer. Ich lasse mich gern in ein Gespräch ein, und sie offensichtlich auch. Nach einiger Zeit laden sie mich ein hereinzukommen und bieten mir ein Glas Nostrano an. Wir sitzen in einem kellerartigen Raum ohne Möbel, das Licht kommt durch die offene Tür. Es ist kühl da drin.

Die beiden haben vor 32 Jahren, nachdem sie 50 Jahre hier gewohnt hatten, dieses Haus verlassen und sind zu ihren Kindern nach Perugia gezogen. Sie sind demnach 82jährig. Jede Woche zwei- oder dreimal fahren sie mit ihrem Ape (das ist die ‚Biene’, die Vespa mit Ladebrücke) hierher, immerhin etwa 30 Kilometer weit, um zu den Oliven und den Hühnern zu schauen. Der Mann erzählt vom Krieg. Das einzige Mal in seinem Leben, dass er weg war von hier.

Eine solche Begegnung wirkt beim Weitergehen nach. Die Worte werden in die Hand genommen, umgedreht, gedeutet, interpretiert. Es sind solche Stunden unterwegs, in denen ich italienisch lerne. In den Gesprächen selbst stehe ich immer an meinen Begrenzungen an. Auf dem Weg kann ich dann ihre Worte nachklingen lassen und meine eigenen Sätze in eine beredte Form bringen.

Gehen allein ist wohltuend. Nach einer so freudvollen Begegnung ist Gehen beglückend.

Der Weg mündet wieder in die Straße, aber es ist eine Strada bianca, und sie führt in schöner Anschmiegung ans Gelände über die Hügel. An ihrer höchsten Stelle steht ein allerkleinstes Städtchen, ein intaktes Dorf mit Kirche, die Mauern ineinander verschachtelt: Groppolischieta.

Es ist zurechtgemacht im alten Stil und in seiner äußeren Gestalt unverändert gelassen. Drei Familien wohnen noch hier. Das Ganze gehört einem reichen Besitzer, und vermietet werden die Wohnungen von einer Firma in Florenz. Die Frau, mit der ich spreche, erledigt die Angelegenheiten am Ort selber.

Der Ausblick auf alle Seiten ist berauschend. Der einzige Zugang ist die Kiesstraße, auf der ich jetzt hinabsteige. Ein pfingsthaft glücklicher Abstieg. Nachtigallengesang.

Einmal kommt mir ein Fiat Uno entgegen, in dem ein Mann und eine Frau sitzen. Sie halten an und plaudern mit mir, wie Wanderer, die sich über den Weg laufen.

Unten an der Hauptstraße das Städtchen Montegiore. In einem Circolo bekomme ich ein Bier und ein Glace. Aber Unterkunft gibt es nirgends hier, und das nächste Restaurant sei 30 km weit auf die eine und 8 km weit auf die andere Seite. Ich will aber weder auf die eine noch auf die andere Seite, sondern südwärts. Da gebe es keinen Weg, sagen sie mir. Ich sehe aber auf meiner Karte einen Weg und beharre auf meiner Frage. Sie können sich einfach nicht vorstellen, dass einer zu Fuß 15 km in Angriff nimmt. Aber dann geben sie, nach gemeinsamer Beratung, zu, dass es möglich sei, dort durchzukommen. Vielleicht ist einer von ihnen sogar schon einmal dort durchgefahren.

Es ist abends fünf Uhr, und wenn ich noch drei Stunden so weiter gehe, an diesem schönen Tag, dann kann ich gut über diese Einöde und auf die nächste Straße gelangen. Das Glace hat mir die nötigen Kalorien gegeben.

Umso mehr bin ich dann ausgangs Dorf überrascht, als ein Wanderweg bezeichnet ist, der genau in meine Richtung führt. Wald- und Weideland, Fahrwege. Weit weg von allem. Kein Empfang mit dem Handy. Eine Landschaft wie in Südfrankreich. Manchmal unsicher, fehlende Wegzeichen. Es zieht sich hin, ich spüre nun doch meine Beine. Aber schließlich komme ich auf die Autostraße. Hier ginge der Wanderweg weiter bis Ospedaletto, ich halte mich aber nach rechts und habe nun noch etwa 8 km Straße vor mir. Es ist eine abendlichtbeglänzte Höhe, und es kommen in den zwei Stunden drei Autos vorbei. Die Füße laufen und laufen.

Einmal halte ich ein Auto an – der aufgestreckte Finger genügt auch diesmal – um zu fragen, wo man da gut essen könne, und ich werde zum Agriturismo La Capretta geschickt, kurz vor der Ortschaft Parano.

Ich bekomme ein Zimmer. Ich bekomme ein Nachtessen. (Was möchten Sie denn essen?) Ich lasse mir raten zu Insalata, Ravioli funghi und Cinghiale.

Unterdessen dusche ich, ziehe mich um, mache ein paar Schritte ums Haus und den Pferdekoppeln entlang, warte bis die Sonne untergegangen ist, rot über den blauen Wäldern am Horizont, und begebe mich dann in den Speisesaal. Sehr gut gekocht.

51 Nach Orvieto

Am Morgen zeigt sich der Patron, Gianfranco. Bei ihm erkundige ich mich nach dem weiteren Weg nach Ficulle. Dieses Städtchen sieht man drüben über dem Tal an exponierter Stelle aufragen. Sie brauchen, sagt er, gar nicht nach Ficulle zu gehen, das liegt nicht am Weg. Aber ich halte daran fest. Also macht er mir ein Kroki und erklärt mir jede Abzweigung. Ich kann unmöglich all die Einzelheiten im Kopf behalten und will mich ans Kroki halten.

Der Weg führt hinab in den Bachgraben. Unten, das hat er mir vorausgesagt, muss ich die Schuhe ausziehen, um durchs Wasser zu waten. Bald verliere ich den Zusammenhang mit seinen Aufzeichnungen. Es ist immer dasselbe: Wer zeichnet, stellt sich alles genau vor, und wer es liest, weiß nicht, wie weit es von der einen zur andern Angabe etwa sein müsste. Aber der Weg stößt auf eine Strada bianca. Wenn ich nun nur wüsste, ob ich nach links oder rechts weitergehen soll. In diesem Fall mache ich wie so oft zweihundert Schritte in jene Richtung, die mich eher unwahrscheinlich dünkt, kehre dann um und mache dasselbe in die andere Richtung. Manchmal gibt der Verlauf des Weges Hinweise.

In diesem Fall aber kommt mir ein Lastwagen entgegen. Ich halte ihn an und frage, wie weit es nach Ficulla sei, und er sagt etwas von sehr weit, sieben Kilometer oder so. So ganz sicher ist er auch nicht. Ob er überhaupt von der Gegend ist?

Also in die andere Richtung. Tatsächlich, jetzt komme ich sogar auf einen Wanderwegweiser der vornehmsten Art, aus Aluminium, mit Stunden- und Kilometerangaben, nach Orvieto. Ficulla fällt aus meinem Plan heraus. Wenn ich einen Wanderweg habe, so bin ich heute sorgenfrei, was die Strecke angeht, und kann die Autostraßen meiden.

Hie und da der Straße entlang ein einsames Haus, meist unbewohnt. Ganz selten einmal ein Fahrzeug, das eine große Staubwolke hinter sich her zieht. Ich gehe während einiger Stunden neben einem Fluss, dem Wasserlauf entgegen. Das Tal verengt sich zusehends.

Am Rand aufgehängt ein Zettel, ein Wegweiser zu einer Kunstausstellung, Vernissage sei am Vortag gewesen. Ich mache den Abstecher, vielleicht einen Kilometer weit. Das Anwesen hat mit Pferden zu tun. Viele eingehegte Plätze. Parkierte Autos und Transporter. Ein vornehmes Entrée, eine Réception. Ich frage nach der Ausstellung. Die sei gestern gewesen, aber die Dame beeilt sich, die Künstlerin herbeizuholen, und da kommt sie schon: Allessia Angelucci mit Namen und fast noch Studentin vom Alter her, und sie freut sich, mich durch die Räume zu führen und ihre Terracotten zu zeigen: sehr stark stilisierte oder reduzierte naturalistische Studien. Mir gefällt’s. Sie fährt mich auch zum Nachbarhaus hinauf, dort hängen die fotogrammatischen Ölbilder ihres Kollegen Rotiroti.

Weiter auf dem Wanderweg. Die Straße ist mehr und mehr zu einem Feldweg geschrumpft, aber die Wegmarken sind zuverläßig. Dann merke ich, dass ich die höchste Stelle erreicht habe, weil die Bäche auf die andere Seite fließen, mit meiner Marschrichtung. Die Wege führen durchs Wasser, verzweigen sich, und gerade hier, wo sie am nötigsten wären, fehlen nun die rotweißen Zeichen. Da war doch eben noch ein Aluminiumwegweiser. Welche Spur ist jetzt die richtige? Ich kann ja nur der einen folgen. Ich entscheide mich für die, auf welcher frischere Hufspuren zu erkennen sind. Immer wieder muss ich meine Schuhe ausziehen, immer tiefer wird das Wasser im zugigen Bergbach. Zur Sicherheit versorge ich das Portmonnee mit den Ausweispapieren und Kreditkarten in der abschließbaren Hosentasche, dass es bei mir bleibt, falls ich weggeschwemmt werden sollte. Und dann kommt der Moment, wo der Weg vollständig aufhört. Ich schweife quer durchs Tal, durchs Gehölz, um doch noch auf einen allfälligen Weg zu treffen, ich kämpfe mich durchs Gewirr von Ästen und Unterholz, und immer wieder muss ich die Uferseite wechseln. Schließlich weiß ich: Durch dieses Tal komme ich nicht weiter. Zurück fünf Stunden weit, oder was sonst?

Aus meiner groben Karte ist ersichtlich, dass parallel zu diesem Tal in etwa fünf Kilometern Abstand eine Straße verläuft. Also steige ich, im rechten Winkel zu meinem bisherigen Weg, rechts aus dem Tal heraus, den Abhang hinauf, quer durchs Gehölz, mich an den stärkeren Stämmchen hochziehend, Rehweglein benützend. Nach einer halben Stunde stehe ich auf einer Krete und finde da oben sogar eine Fahrspur. Ich blicke hinab auf die andere Seite: da liegt wieder ein Tal und wieder ein Berg zwischen mir und der erhofften Straße. Nichts als Wälder. Ich blicke zurück ins Tal, aus dem ich gekommen bin, und sehe nun, aus der Vogelschau, dass am linken Rand des Tals, aus dem ich gekommen bin, als weißes Band jenes Sträßchen zu erkennen ist, das ich gesucht und wegen des dichten Unterholzes nicht gefunden habe.

Das wär’s. Also wieder hinab, noch einmal über den Fluss, über ein Maisfeld (von oben her angepeilt) und dann bin ich wieder auf meinem Weg Nummer 2e.

In den nächsten zwei Stunden wird der Weg zunehmend breiter und sicherer – und werden die Wegzeichen, jetzt wo man sie nicht mehr so sehr braucht, wieder zuverlässiger. Es geht durch den Wald, und wenn sich gelegentlich eine Lichtung auftut, ist es ein Acker, der brachliegt. Denn das Land entvölkert sich, die alten Häuser verfallen. Schon wachsen Sträucher aus den Fensterlöchern heraus, und der von den Menschen zurückgelassene Gerümpel, die verrosteten Heuwender und Fahrzeugwracks, das alles stört die Natur keineswegs: sie packt es mit Brombeergesträuch und anderem Kleingewächs ein. Nachtigallen richten sich ein, Fasane finden Unterschlupf und die Wildschweine halten sich einen tunnelartigen Pfad offen. Die Menschen haben sich in die Stadt begeben, wo sie auch hingehören, zu ihresgleichen. Ruhe ist eingekehrt und das gegenseitige Fressen und Gefressenwerden kommt wieder ins Gleichgewicht.

Noch einmal schmecke ich heute dieses Dickicht. Beim Überqueren einer Straße sehe ich einen Wegweiser, auf dem das letzte Stück bis Orvieto mit 2h15’ angegeben ist. Der Straße nach wäre es kürzer, aber ich liebe Wanderwege. Nur diesmal ist der Sentiero mehr und mehr von Brombeeren überwuchert und zuletzt kaum noch auffindbar, so dass ich es schließlich aufgebe, bei einem Haus im Grünen mit Rasen und Swimming Pool aus dem Wald trete, den Kiesweg nehme und beim Eingang über das fahrbare Tor steige. Von nun an hat’s Sträßchen bis Orvieto Stazione. Dort mit dem Funiculare hinauf in die Stadt, und nach einigem Durchfragen zum Hotel Italia, wo ich ein schönes Zimmer bekomme.

Diese Dusche ist redlich verdient.

52 Orvieto

Einen Tag widme ich der Stadt. Eine schöne Stadt. Nach dem Ausschlafen und Frühstücken in den Dom. Fassade, na ja. Innen aber schöne einfache Größe. Wenig verstellt mit Möblierung. Eine schöne Pietà. Eine bemerkenswerte Madonna mit Kind. Etwas Besonderes sind die Bas-Reliefs in der Fassade mit der Adam-und-Eva-Geschichte und einem Jüngsten Gericht. Und schön ist die Bronzetüre, für die ich später nochmals vorbei kommen will.

Man ist eingeladen, das Teatro zu besuchen: nicht eine Vorstellung, sondern einfach das Gebäude. Es erweist sich als ein überaus verspieltes neoklassizistisches Haus aus der aufstrebenden Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts, mit reizenden Säulchen, Wand- und Deckengemälden, einem nicht sehr großen Saal, der wie eine Kammeroper wirkt, und einem von allegorischen Figuren belebten Theatervorhang. Lauter Spielfreude.

Neben der Kirche steht das Museo Emilio Greco. Dieser Künstler, von dem ich bisher noch nie gehört habe, ist in meinem Lexikon vermerkt: „geboren 1913, italienischer Bildhauer, lebt in Rom; bewahrt in seinen Skulpturen (vor allem von badenden und tanzenden Mädchen) die Linie eines eleganten, manieristisch beeinflussten Klassizismus.“ Orvieto hat ihm zum Dank für die Bronzetüren, die er für den Dom geschaffen hat, hier ein Zentrum errichtet. Mich beeindrucken seine Zeichnungen, die im Strich entfernt an Picasso und an Hans Erni erinnern, aber sparsamer in den Andeutungen sind. Dazu kommen weitere Halbreliefs, in der Art der Bronzetüren am Dom, u.a. ein Denkmal für Johannes XXIII. Starke, kräftige Bildwerke. Ein Name, den man sich merken muss.

Einen ruhigen Tag will ich mir machen. Ich setze mich im Hotel auf die Dachterrasse, spiele Flöte, schreibe und lese.

Ich begebe mich in die Kirche Sant’Andrea, ganz in der Nähe meines Hotels, und spiele Flöte, vorn auf den Stufen zum Altar sitzend. Manchmal kommen ein paar Besucher in die Kirche, setzen sich sogar in die Bänke, um mir zuzuhören. Der Raum füllt sich schön mit den weichen Tönen der Altflöte.

Und gegen Abend gehe ich nochmals zu Emilio Greco und schreite die ganze Ausstellung ein zweites Mal ab.

Bei allen Werken der Kunst, überhaupt der menschlichen Gestaltung, stoßen wir stets auf das Gegensatzpaar von Kohärenz und Varietas. Töne mögen noch so vielfältig und phantasievoll sein, irgendwann läuft sich die Varietas (das heißt die Verschiedenheit) zu Tode, wenn unser Ohr nicht immer wieder auf Bekanntes trifft. Wiederholung des selben Musters schafft erst Prägnanz. Sogar die Nachtigall weiß, dass sie nach längerem Phantasieren ‚immer wieder’ ihr schmeichelndes Tjü tjü tjü einzufügen und damit unserem Ohr Wiedererkennung zu bieten hat. Kohärenz (das heißt Zusammenhang) wird geschaffen durch Wiederholung, aber auch durch Abwandlung des bereits Gehörten. Wenn wir aber auf der andern Seite die Wiederholung strapazieren, so stellt sich ebenso schnell Langeweile ein.

Irgendwo ist die Rede vom ‚Pozzo’, den man besichtigen sollte; ich kann mir nichts dabei vorstellen – um irgend etwas Geschichtliches muss es sich handeln – und lasse diese Sehenswürdigkeit fahren.

Gerne hätte ich den Abend mit dem Besuch einer Vorstellung beschlossen. Ich finde aber nichts, was die Menschen am Dienstag Abend zusammenführt. Dann also früh ins Bett.

53 Civitello – Graffignano

Früh auf. Durch die leeren Straßen zum westlichen Tor hinaus und hinab. Nur ein Mopedfahrer ist schon auf den Beinen, stellt sein Gefährt ab und sucht am Straßenbord… was sucht er? Er sagt es mir, ich habe den Namen des Kräutleins schon wieder vergessen. Ein Gewürz für die Pasta. Jäger und Sammler mit Moped im 21. Jahrhundert.

Ich habe mir, vom Ausblick aus der Stadt her, eine Straße vorgenommen, die auf der andern Seite den Hügel hinan geht. Aber jetzt, wo ich unten im Tal stehe und die Wegweiser lese, muss ich mich korrigieren und eine halbe Stunde auf der Umfahrungsstraße ostwärts gehen, in der Hoffnung auf eine spätere Abzweigung über die Hügel.

Für den Bau der Straße haben sie ein großes altes Bauwerk durchbrechen müssen, das quer durchs Tal führt. Ein Aquadukt. Er hat, nehme ich an, das Wasser der Hügel zur Stadt geführt. Ich kann jedoch nicht verstehen, was ihnen dieses Wasser, da unten am Fuß des Berges, genützt haben mag.

Endlich ein Pfeil. Die Straße führt mich zu La Badia. Eine romanische Klosteranlage. Edle Linien. Kann ich sie ansehen? Die Gebäulichkeiten sind zu einem Viersternhotel umgebaut worden. An der Réception ist sogar bereits eine Signorina vorhanden, so früh am Tag. Ob ich die Kirche besichtigen könne? Sie gibt mir den Schlüssel. Im Innern erweist sich der Kirchenraum (der keineswegs mehr als Kirche benützt wird) als höhleliges Tonnengewölbe. Enttäuschend. Ich bringe den Schlüssel zurück. Ob ich hier zu einem Caffè kommen könne? Die Bar sei nur für Hotelgäste zu benützen. Basta.

Etwas später zweigt von der Nebenstraße eine schmalere Nebenstraße ab. Man weiß nie recht: Ist es bloß die Zufahrt zu einem Gehöft, oder handelt es sich um eine durchgehende Straße? Zum Glück kommt einer gegangen, den ich fragen kann. Ja, er kenne sich aus, er sei aus Orvieto und er sei Fußgänger seit dreißig Jahren. Hausarzt oder Künstler oder Privatier oder alles gleichzeitig.

Ob ich den Pozzo gesehen habe, fragt er. Nein, ich wisse nicht, was das sei. Und er erklärt mir, dass es sich dabei um einen in den Tufffels gehauenen Gang handle, der schraubenförmig hinab in den Berg führe und auf dem früher die Maultiere hinab geführt worden seien, um das frische Wasser in die Stadt hinauf zu tragen. Da Erstaunliche aber sei: ein zweiter Gang für den Aufstieg sei in die Spirale des Abgangs so verschlungen, dass sich die beiden Gänge nicht in die Quere kämen. Die Tiere konnten demnach im Einbahnverkehr in die Tiefe und wieder hinauf geführt werden. Nun wird mir der Zusammenhang mit dem Aquadukt klar.

Diesen ‚Arzt’ frage ich nach passenden Wegen, nach einer Strada bianca. Er gibt mir erschöpfend Auskunft und begleitet mich noch einen Kilometer weit. Bei einem Brunnen kehrt er wieder um.

Nun habe ich eine stille Straße, zwar asphaltiert, durch liebliches Bauernland, und im Dorf Canale Nuovo gibt’s dann endlich eine Bar mit Kaffee und Marmeladegipfeln. Nach dem Dorf aber beginnt dann die versprochene Strada bianca, die sie ‚Strada delle Macchie’ nennen, und sie erweist sich als Traumweg. Sanft auf und ab und dem Gelände angepasst durch Wälder und Wiesenland, und immer wieder Nachtigallen.

Ich gehe auf einer Hochebene, in welche tiefe Täler eingeschnitten sind. Die Abhänge sind steile Sandabbrüche. Und so kommt es dann, dass auch ich einmal hinab muss, weil das Plateau zu Ende ist. In einem Dorf, vorn auf dem Sporn, erkundige ich mich, wie es weiter geht. Alle schicken mich zurück. Es gebe keinen Weg hinab ins Tal. Ich will es nicht glauben, solange ich es nicht selber gesehen habe. Für sie gibt es nur Wege, die mindestens Vespa-tauglich sind.

Und ich sehe doch selber einen Weg, vorbei am letzten Haus und dann in Kehren den steilen Hang hinab. Aber nach einer Viertelstunde stelle ich fest, dass er im Sumpf endet. Ich muss umkehren und wieder zum Dorf hinauf steigen. Es gibt noch einen zweiten Weg. Kaum bin ich aus dem Dorf hinaus, ist er mit einem Viehhag abgesperrt. Die Männer in der Bar haben von diesem Cancello gesprochen. Es ist ein Tor der einfachsten Art nach einem Prinzip, wie ich es oft und in vielen Ländern gesehen habe: Das Drahtgitter ist an einem Pfahl befestigt, der nicht im Boden, sondern in einer Drahtschlinge steckt, die unten um den nächsten Pfahl gewickelt ist; und am oberen Ende hängt das Pfahlstück mit dem Drahtgitter ebenfalls an einer Schlinge, die darüber gestülpt ist und nur dank der Anspannung festhält. Man kann also die obere Drahtschlinge wegheben, dann den Pfahl mit dem Drahtgitter aus der unteren Schlinge heraus heben und so den Durchgang öffnen.

Nun befinde ich mich auf der Weide. Der Weg verliert sich bald, umso mehr Trampelpfade hat es von den Kühen gegeben. Ich steige hinab bis zum Bach. Da unten ist dichtes Gestrüpp. Ich komme nur über Kuhweglein vorwärts. Sie sind manchmal an nassen Stellen so grundlos, dass die Kühe bis zu den Knien eingesunken sind. Ich muss meinen Weg suchen, auf und ab, mich durch dorniges Gebüsch drücken. Aber schließlich finde ich zur Weide hinaus und komme auf kultiviertes Land.

Vor mir sehe ich schon lange eine Stadt auf dem Berg, auf die ich zu steure. Eine Straße. Soll ich links oder rechts? Da ist ein Auto parkiert. Der Besitzer muss doch in der Nähe sein. Wirklich, unten am Fluss steht ein Fischer. Er kann mir einen Weg zeigen, der auf der andern Seite des Tales hinaufführt.

Wieder auf einer Fahrspur, nach stundenlangem Bücken und Durchzwängen. Ein einsames Haus. Ich läute und frage weiter. Richtig, wieder hinab und auf der andern Seite hinauf. Unterdessen regnet es. Es ist ein Erdweg, und meine Sohlen haben wenig Profil. Der Boden ist so glitschig, wie wenn ich auf Eis ginge. Ich muss neben dem Weg im hohen Gras den Hang hinunter steigen, wenn ich nicht auf dem Hosenboden zu Tal fahren will.

Dann komme ich auf ein Sträßchen, das horizontal dem Hang nach unter der Stadt verläuft. Niemand ist da, der mir sagen kann, auf welche Seite ich gehen soll. Und weil es mir nicht mehr weit scheint, krieche ich quer zum Weg durchs Gebüsch hinauf, ziehe mich an den Wurzeln und Bäumchen hoch, klettere über die oberste Böschung und stehe schließlich, an Händen und Knien verdreckt, beim ersten Haus.

Eine alte Frau ist daran, Fensterläden zu waschen. Ich frage sie, ob ich an ihrem Wasserhahn meine Hände und Schuhe waschen dürfe. Sie will mir sogar ein Handtuch holen und kann es nicht verstehen, dass es auch ohne warmes Wasser gehen soll. Als ich sauber bin, fragt sie, ob ich einen Lemoncello nehme, führt mich in ihre Stube und holt die Flasche aus dem Kasten. Den Lemoncello habe sie selber angesetzt. Ich trinke diesen Zitronenlikör zum ersten Mal, und ich muss ihn mir merken.

Sie erzählt von ihrem Mann, der vor sieben Jahren gestorben sei. Ich bin, das merke ich, eine willkommene Abwechslung in ihrem einsamen Tag. Und dann mache ich einen kapitalen Fehler: Um zu zeigen, wie gut mir der Likör schmeckt, bitte ich sie um ein zweites Gläschen. Das kommt sehr schlecht an. Mit steinernem Gesicht schenkt sie mir nach.

Das Städtchen heißt Civitello. Es ist schön hergerichtet und wird, wie ich vernehme, von einer Künstlergruppe bekannt gemacht und gefördert. Ich treffe auch wirklich an allen Ecken zeichnende Kunststudentinnen. Sie kommen aus Würzburg und Nürnberg, und sie verbringen hier elf Tage in einer Art Fachwoche.

Der Altstadt oben auf dem Berg ist eine Art Unterburg angegliedert, ein neueres Quartier, wo die Busse ihren Kehrplatz haben, wo sich die Bar befindet und die Männer herumsitzen oder herumstehen. Dort frage ich nach dem weiteren Weg. Es folgt eine längere Beratung, nachdem sie mein Anliegen (‚abseits der Verkehrsstraße’) verstanden haben, und dann geben sie mir eine genaue Beschreibung.

Ich komme auf schönen Wegen – aber unterdessen unter dem Schirm – nach Graffignano, beeile mich, eine Unterkunft zu finden, und werde ins Albergo im Nachbarhaus geschickt. Der Wirt aber führt keine Zimmer mehr. Er tut sich um. Er telefoniert mit dem Priester, dessen Aufgabe es doch sei, einen Pilger zu beherbergen, aber dieser – das höre ich nur schon aus den Antworten heraus – tut sich schwer damit und empfiehlt, mich ins nächste Dorf zu schicken, wo es doch ein Albergo gebe.

Zunächst will ich mich einmal ausruhen und will essen. Ich ziehe mich um und genieße die Cena, während es draußen regnet. Vom Priester bin ich nicht enttäuscht; es wäre das erste Mal gewesen, dass sich die katholische Kirche mir gegenüber gastfreundlich erwiesen hätte.

Nach dem Essen führt mich der Freund des Wirts, ein Gast im Restaurant, zu besagtem Albergo, was nicht nur unten an der Hauptdurchgangstraße, sondern auch etwa 4 km rückwärts zu meinem Weg liegt, und setzt mich dort ab. Ich danke, gehe ins Lokal hinein und vernehme, dass alles besetzt ist.

Ich stehe also wieder draußen. Unterdessen hat es zu regnen aufgehört, aber der Himmel verspricht freundliche Nässe. Vor dem Hotel rasen die Autos durch, etwas weiter draußen brausen die Schnellzüge Rom – Mailand vorbei. Was soll ich tun? Unterdessen ist es halb acht geworden.

Bei einer kleinen Einfahrt steige ich hoch und komme vor ein großes Gittertor. Leise setze ich die Schritte. Die Hunde brauchen nicht geweckt zu werden. Dem Tor gegenüber liegen ein paar ältere Ökonomiegebäude. Vielleicht findet sich dort ein trockener Platz. Die Scheunen sind abgeriegelt. Aber ein kleines Häuschen: das muss ein alter Backofen sein. Der offene, gedeckte Raum vor der Feuerstelle ist gerade groß genug, dass ich mich hinlegen kann. Was brauche ich mehr! Gegessen und getrunken habe ich, ein Dach über mir habe ich. Fledermäuse ziehen ihre zackigen Kurven vor dem eindunkelnden Himmel und Nachtigallen singen ihre neuen Melodien im nahen Gebüsch.

54 Orte

Es hat sich gelohnt, einen trockenen Platz zu haben. In der Nacht ist ein währschaftes Gewitter losgegangen. Schön, so im warmen Schlafsack zu liegen, den Regen neben sich strömen zu hören, die Augen wieder zumachen und unbesorgt weiter schlafen zu können.

Es regnet immer noch ein wenig, als ich über die Ebene gehe, von der Hauptstraße weg, unter den beiden Schienensträngen der Staatsbahn hindurch – auf dem einen fahren die Züge gegen Süden, auf dem andern, hundert Meter entfernt, gegen Norden, und die Frage des Kleinen Prinzen, wo sie hin wollen, diese Hundertscharen in den Waggons, drängt sich auf. Im Dorf auf der linken Talseite dann, Gott sei gelobt, hat’s eine Bar. Ich restauriere mich (jetzt ist das Wort angebracht) und wärme mich auf.

Nach einer Stunde (gggggg, das heißt ‚guet gschlafe guet ggesse guet gschisse’) geht’s in südlicher Richtung, auf ruhigerer Straße, weiter. Das Wetter hellt auf.

Beim Bahnhof Attigliano frage ich zwei Männer nach einer Strada bianca für den weiteren Weg, und nach hartnäckigem Beharren wissen sie mir eine. Das Wort ‚strada’ (das aus dem lateinischen ‚via strata’, also befestigter Weg, herkommt, wird im Italienischen, wie ich unterdessen festgestellt habe, in einem viel weiteren Sinn gebraucht als die ‚Straße’ im Deutschen: was hier kurz nach dem Bahnübergang von der Autostraße abzweigt und mich gemächlich dem Hang nach führt, ist höchstens ein Feldweg. Die tief eingefahrenen Spuren liegen voll Wasser nach dem nächtlichen Regen. Für mich als Fußgänger ist die weiche Fahrspur ein ideales Fortkommen. Und neben mir auf den Feldern glüht das leuchtende Rot des Mohns aus dem hellen Grün der Gerste heraus, in jedem Feld wieder neu verteilt in der Intensität.

Was so schön angefangen hat, hört auch wieder einmal auf, diesmal bei einem einsamen Gehöft. Hunde wollen mich weghaben. Hühner gackern ums Haus. Ich rufe, ich gehe um die Ecke. Niemand. Oder niemand öffnet. Vielleicht wäre ein Schleichweg weiter gegangen. Ich muss umkehren, finde aber bald ein Sträßchen hinauf, das in die Höhe führt, und komme in ein Städtchen, ähnlich wie Civitella, nur kleiner. Zeit wieder für ein Bier, ein Dreiecklein, eine Glace.

Die Fortsetzung besteht leider aus 10 km Asphalt.

Plötzlich erscheint in der Ferne eine große Stadt auf dem Berg: Orte. Eindrücklich im Entgegenschreiten. Steiler Aufstieg. Rundgang. Hier im Innern aber bejammernswerter Zustand. Durchwegs feuchte Mauern. Abbröckelnder Verputz. Grünspan. Alles renovierungsbedürftig. Das öffentliche WC geschlossen, guasto. Die Leute geben mir kurzangebundene Auskünfte.

Einige Restaurants gibt es, aber keine Unterkunft. Rundgang durch die Stadt. Zu oberst ein Platz mit Bänklein unter den Bäumen, mit Weitsicht. An einem öffentlichen Wasserhahn wasche ich mich, hinter der Mauerecke ziehe ich mich um. Lesen, schreiben, sitzen, schauen.

Die Hotels befinden sich unten in der Ebene, bei der Autobahnausfahrt und beim Bahnhof. Ja, das tätige Leben scheint einen Bogen um diese Stadt gemacht zu haben, oder vielmehr den Bogen da hinauf auf den Berg hat es sich geschenkt. Ich blicke vom historischen Ausguck hinunter auf den geschäftigen Verkehrsstrom auf der Autobahn.

Ich entschließe mich, mit einem Taxi hinab zu einem Hotel zu fahren, ein Zimmer zu nehmen und für das Abendessen nachher wieder hier hinauf zurückzufahren. Als ich dann aber sehe, wie weit es ist bis hinaus zu diesem Autobahnkreuz, gewiss zehn Kilometer, gebe ich diesen Plan auf. Der Taxichauffeur bringt mich hinein an die Réception, auch wenn ich meinen Rucksack gut selber tragen kann. Eine Hand wäscht die andere, er braucht auch wieder Kunden.

Meinem Handy geht die Batterie aus, und als ich es im Zimmer an die Steckdose hängen will, muss ich feststellen, dass das Ladegerät nirgends zu finden ist. Ich habe es in Orvieto stecken lassen. Das bedeutet: Rückreise mit der Bahn, hin und zurück einen ganzen Tag. Ohne mein Handy kann ich nicht weiter reisen. An der Réception frage ich nach der Telefonnummer des Hotels Italia und erzähle von meinem Missgeschick. Der Concierge fragt: Ist es ein Nokia? Er zieht eine Schublade und reicht mir ein Ladegerät, das ein anderer Gast hier stecken gelassen hat.

Das Nachtessen findet im großen Speisesaal statt, inmitten von Lastwagenchauffeuren, die hier übernachten. Entsprechend der Kundschaft ist der Service: speditiv und effizient, routiniert. Gute Küche.

Bis noch spät in die Nacht hinein fahren Chauffeure mit ihren Lastern und Anhängern vor und rangieren die Ungetüme vor dem Haus. Voll Bewunderung schaue ich eine Weile von meinem Balkon aus diesen Meistern der Fahrkunst zu.

55 Lazio

Frühstück an der Hotelbar. Der Mann hinter der Theke ist sehr hilfreich und verständig und zeichnet mir ein genaues Kroki, wie ich auf abgelegenen Wegen weiter komme. Ich muss staunen, wie schnell ich mich von diesem Strang der Verkehrsströme entfernen kann.

Aufstieg nach Guadamello. Bar in San Vito. Wieder hinab ins nächste Tal. Da gibt es in der Ebene sogar ein privates kleines Flugfeld und einen Hangar. Klaus hätte seine Freude. Dann wieder in die Höhe, hinauf in das Städtchen Otrícoli. Sogar eine Bank findet sich da. Aber der Bancomat gibt kein Geld heraus. Ich will am Schalter reklamieren. Nein, der Automat sei nicht für ausländische Karten eingerichtet. Die Signorina gibt mir größere Ortschaften bekannt, wo es funktioniere. Aber so lange kann ich nicht warten, sie sind nicht an meinem Weg und viel zu weit weg. Was jetzt? Schließlich findet sie, mit Hilfe ihres Chefs, eine Möglichkeit heraus, mir auf meine Kreditkarte Geld zu geben. Mir scheint, sie wickle dieses Geschäft zum ersten Mal ab. Aber ich komme zu meinen 300 €, wenn auch mit großer Kommission, und die Weiterreise ist gesichert.

Ich überblicke ein weites, hügeliges Gebiet. Ich versuche es auf eigene Faust, nur in der allgemeinen Richtung den vorliegenden Wegen folgenden, auf und ab, einmal mehr nach links, dann wieder mehr nach rechts, und es geht gut, ohne Hindernisse.

Calvi ist so ein herausragendes Ziel. Eine Kirche ist im Bau. Santa Maria Assunta. Ich trete ein, ich spreche mit einem leitenden Ingenieur. Barock. Es könnte schön werden.

Es gäbe auch ein Hotel. Aber mir ist es noch zu früh. Die sieben Kilometer bis zum nächsten größeren Ort sind heute noch gut zu machen. Unterwegs am Rand der Straße eine große Tafel: Ich überschreite eine Provinzgrenze und bin im Lazium. (Wenn ich auf der Karte nachschaue, so habe ich diese Grenze zwischen Umbrien und Lazium in beiden Richtungen schon mehrmals passiert, ohne es zu merken.)

Im nächsten Ort gibt es keine Unterkunft. Weiter. Nochmals drei Kilometer. Aber es lohnt sich. Nach einiger Zeit sehe ich vor mir, wiederum auf einem Burghügel, ein schönes, in sich geschlossenes Städtchen. Vielleicht finde ich da etwas.

Die Straße führt am Städtchen vorbei. Bei der Abzweigung, gleich vor dem Tor, gibt es eine Bar, die sich auch diesmal wieder als beste Informationszentrale erweist. Meine Frage nach einer Unterkunft führt zu einer regen Diskussion zwischen dem Wirt und einigen Männern: Er könnte doch bei Celestini unterkommen. Sie geben mir eine Telefonnummer, ich rufe an und kann reservieren. Ein Bed&Breakfast.

Das Haus liegt etwas unterhalb der Stadt. Gepflegte Einfahrt, Hinweisschild. Ich bin froh, dass ich bereits angemeldet bin. Als ich läute, kommt ein Mann und hinter ihm her gleich seine Frau. Sie begrüßen mich herzlich. Das Zimmer ist in einem separaten Gebäude, umgeben von einer Liegewiese mit Gartenmöbeln, und wenn ich hinaufschaue, steht hoch über mir die Mauer der Stadt, gebildet von den einzelnen Häusern, wie in Regensberg.

Die beiden laden mich zu einem Begrüßungsaperitif. Wir kommen schnell und angeregt ins Gespräch. Sie heißt Anna Maria Celestini und ist, wenn ich sie richtig verstehe, in diesem Haus aufgewachsen. Sie ist Latein- und Französischlehrerin an einer Scuola media in der Nähe. Was denn er sei, frage ich. Ein pensionierter Bauer, sagt er lachend. Ich vernehme dann aber, dass er bis vor einem Jahr als Agronom für die Regierung gearbeitet habe, jetzt aber pensioniert sei und für eine Non Goverment Organisation ein Entwicklungsprojekt in Tunesien leite, nämlich die Ansiedelung von Kaninchen. Auf seiner Visitenkarte steht Dottore Ugo Francia.

Vielleicht könnten wir uns leichter auf englisch unterhalten, aber das ist nicht die Sprache seiner Frau, und so bleiben wir im Italienischen. Ich hätte schon, sage ich, von Projekten gehört, Kleintiere wie z.B. das Haushuhn in Afrika zu fördern, weil dieses Tier mit wenig Kapital anzuschaffen und zu halten sei. Daraufhin erklärt er mir den Vorzug seines Kaninchenprojektes. Das Huhn stehe in seiner Nahrungsbeschaffung in Konkurrenz zum Menschen. Es lohne sich ernährungsökonomisch nicht, die Körner zuerst dem Huhn zu füttern und dann die Eier und das Fleisch zu verwerten. Das Kaninchen dagegen ernähre sich von Gras, und das könne der Mensch nicht als Nahrung direkt verwerten.

Anna Maria hat ein Buch über Tarano und seine Geschichte geschrieben, und sie legt mir nahe, die Stadt anzusehen. Ich habe dazu genügend Zeit. Es ist ein besonderes Gefühl, den Weg hinauf und in diese Altstadt hinein zu machen ohne Rucksack. Ich fühle mich wie ein Ferientourist, auf leichten Sohlen den kühlen Abend genießend.

Sie werde ich zum Frühstück wieder sehen, aber er wird dann nicht dabei sein. So verabschiede ich mich schon jetzt von ihm und bitte ihn, seinen Namen in mein Reisebuch einzutragen, und er schreibt dazu: „È stato un immenso piacere recevarla e trascor un qualche momento insieme, speriamo di reincontrarci.“

Für das Nachtessen begebe ich mich wieder in die Bar, wo ich so gut beraten worden bin. Es ist Freitag, ich lasse mich zu Fisch überreden: eine Pasta mit Meeresfrüchten. Ein wenig enttäuscht ist der Kellner, der sich so sehr für mein Wohl einsetzt, dass ich mich im übrigen mit Salat begnüge.

Zufrieden und gesättigt kehre ich zu meinem Pavillon und zu meinem privaten Pärklein zurück. Von oben leuchten die Lichter herab, im Gras leuchten die Glühwürmchen, und die Stille der Umgebung, vor der Silhouette der überragenden Stadt, gibt eine einzigartige Kulisse ab für meine Flötentöne. Wenn ich pausiere, machen die Nachtigallen allein weiter.

56 Santa Maria in Vescovia und Abbazia Farfa

Anna Maria macht mir Frühstück mit warmen Brioches und den unumgänglichen Zwiebäcklein genannt Biscotte. Sie empfiehlt mir, auf meinem Weg auf keinen Fall die Kirche Santa Maria in Vescovía auszulassen. Von Ugo habe ich mir am Vorabend sagen lassen, dass es die Fußwege, die er in seiner Jugend noch gekannt und begangen habe, nicht mehr gebe. Überwuchert.

Nach zwei Stunden Straße bin ich dort. Eine schöne Anlage, etwas abseits von der Straße. Davor ein Pärklein mit Pinien. Die Kirche selber eine schöne Basilica. Fresken. Einige junge Leute sind damit beschäftigt, die Kirche auszuschmücken. Eine Hochzeitsfeier steht bevor.

Ich spiele Flöte. Es klingt gut. Ich spreche mit dem Parocco, einem Brasilianer. Er zeigt mir den Rundgang um die Apsis. Er macht mich darauf aufmerksam, dass die Kirche eine wichtige Station sei auf dem Pilgerweg von Assisi nach Rom und dass daher viele Engländer und Deutsche hier vorbei kämen.

Weitere Angaben erhalte ich in der Bar vorn an der Straße. Dort kann ich mir ein Büchlein erstehen, in dem dieser genannte Pilgerweg genauestens beschrieben ist, allerdings auf holländisch.

Darum geht's nun ein Stück weit nach Handbuch weiter. Rom habe ich mir ja unterdessen aus dem Kopf geschlagen. Dafür gibt es zwei Gründe:

Wie ich aus der Zeitung lese, ist für den Tag, da ich in Rom ankäme, dort gerade der Besuch vom Tubeljuu Bush angesagt; ich habe Verständnis dafür, wenn Berlusconi diesen Tag von langer Hand in seiner Agenda besetzt hält und daher keine Zeit hat, mich zu empfangen. Und ehrlich gesagt erspart mir diese Datenkollision die Unannehmlichkeit, ihm in die Augen schauen zu müssen.

Zweitens bin ich vor 18 Jahren schon einmal in Rom einmarschiert, und ich weiß, dass diese Stadt nicht mit drei kurzen Tagen abgetan werden könnte. Daher lieber den Umweg über die östlichen Hügel.

Auf Nebensträßchen, gemäß Handbuch, auf und ab, nach Poggio Mirteto hinauf, einer sehr stark erneuerten Siedlung. In einer Bar, nach einigem Hin und Her, Entschluss zum Pranzo, weil ich hinten im Sälchen die Tafelnden höre, sehe und rieche, und ich erhalte ein wundervoll zubereitetes Primo: Gnocci mit Muscheln und Broccoli.

Die Fortsetzung des Weges wieder auf eigene Faust. Von oben sehe ich in der Ferne, am Abhang des gegenüberliegenden Berges, mitten in den Wäldern, das Kloster von Farfa. Bis dorthin will ich noch gelangen. Quer die Oliven hinab ins Tal, dann auf der Straße hinauf zur Abbadia.

Ankunft etwa um halb sieben. Die Kirche ist sehr berühmt. Touristen gehen aus ein und ein. Rundum Kiosk, Souvenirladen, Bar. Aber der Raum ist für mein Empfinden überladen mit Bildwerk. Ich kann es auch stilistisch nicht einordnen. Schwere Farben, überladener Glanz. Um sieben eine gesungene Vesper, gesungen von den Mönchen. Es kann mich nicht richtig erreichen. Warum, wird mir nicht klar. Vielleicht liegt's auch an der Plage der Lautsprecher.

In der Bar frage ich nach Unterkunftsmöglichkeiten, und ich werde ans Casa Suore de Santa Brigida, in einem der klösterlichen Gebäude, verwiesen. Ja, ich bekomme noch ein schönes Einzelzimmer. Das Haus ist ziemlich voll. Andere Gäste sind da wegen eines Theaterevents. Ich komme ins Gespräch mit einer Dame aus Rom. Sie bietet sich an, mich im Auto mitzunehmen. Aber ich bin erst angekommen, muss mich noch duschen und umziehen, und lehne daher dankend ab. Aber so ein Theater würde mich schon interessieren. Um acht soll es beginnen, in einer umgebauten Kirche, etwa drei Kilometer von hier.

Um acht bin ich dann so weit und mache mich nun doch noch auf den Weg. Vorn an der Straße lädt mich einer auf und bringt mich hin. Ich reihe mich in die Leute ein, die plaudernd herum stehen, mit einem Glas in der Hand. Es hat noch längst nicht angefangen. Ich gehe umher und werde von den Leuten, mit denen ich im Kloster gesprochen habe, erkannt und angesprochen. Die eine der Damen mit Namen Gabriela nimmt mich unter ihre Fittiche, erklärt mir alles und fordert mich auf, am Buffet zuzugreifen.

Gewisse Kreis um eine Kunstschule in Rom haben die Kirche –eine Ruine – erworben und nun umgebaut zu einem Haus für Experimentiertheater. Rund ums Gebäude sind Außenschauplätze. Heute ist der Eröffnungsabend für geladene Gäste, vielleicht etwa 200 Leute, ich auch. Zunächst gibt’s zu essen. Risotto, Brötchen, Oliven. Packen Sie zu. Wein aus großen Flaschen wird ausgeschenkt.

Dann gegen halb zehn kommt ein Schauspieler auf hohen Stelzen und treibt das Volk auf die Ostseite der Kirche, wo Stühle bereitstehen. Man nimmt Platz, und eine klamaukartige Vorstellung beginnt. Gabriela erklärt mir, was die Magd rede, sei neapolitanischer Dialekt. Das Ganze wirkt sehr improvisiert und puppenspielartig. Ich verstehe natürlich das wenigste, und so kommt es mir auch ein wenig lang vor. Aber schön ist auch der Blick über die Bühne hinweg und hinauf über die Wälder, hinüber an die Stadtsilhouette von Tóffia und hinauf an den eingedunkelten Nachthimmel.

Das Spiel ist aus, und das Publikum bewegt sich wieder frei im Gelände. Nach einer Weile ruft der Stelzenmann die zweite Nummer aus, welche in einem offenen Untergeschoß spielt. Wir stehen rund um die Spielfläche und schauen von oben her aufs Geschehen hinunter. Diesmal wird eine Sage gespielt, etwas Märchenhaftes, mit viel Pantomime, in farbigen Kostümen und mit großen Bewegungen.

Es steht noch Vieles auf dem Programm. Aber der Abend ist lang geworden, vor allem auch durch Zwischenprogrammatisches. Ich will auch das schöne Zimmer bei den frommen Schwestern Santa Brigida ausnützen und verabschiede mich daher kurz und bündig von den neuen Bekannten. Der Heimweg auf der Straße durch den Wald ist dunkel. Im Zweifelsfall habe ich ein bisschen Licht vom Handy. Unangenehm sind die Scheinwerfer entgegenkommender Autos. Um halb zwölf bin ich im Bett.

57 Scandriglia

Ich schlafe bis acht, frühstücke ausgiebig und spiele Flöte in der Pieve, die ich ganz für mich allein habe.

Um zehn geht’s weiter. Die Straße nach Tóffia kenne ich bereits. Wieder so ein Städtchen auf dem Berg. Caffè, Rundgang, kurzer Blick in die Kirche auf dem Berg, wo gerade der Sonntagsgottesdienst zu Ende gegangen ist und ein paar Alte die Treppe herab kommen. Weiter auf der Straße. Zwei Männer frage ich nach einem Weg. Es gebe nichts anderes als die Straße. Sie sei bequem. Immer wieder höre ich in diesem Zusammenhang das Verb ‚conviene’, welches ich übersetze mit ‚es geziemt sich’, ‚Sie müssen’. Ich will nicht von ihnen hören, was man von mir erwartet; ich will sachliche Information, ich frage darnach, was sie wissen, nicht was sich gehört.

Als ich auf ‚anderen’ Wegen beharre, kommt ihnen dann doch noch einiges in den Sinn, und sie zeichnen mir ein schönes Kroki auf meine Straßenkarte; draußen im blauen Meer ist Platz genug. Bei der ‚madonnina’ soll ich abzweigen: tatsächlich finde ich neben der Straße ein Bildstöcklein, woran ich erkenne, dass ich richtig bin. Oder später stoße ich, nach einem Marsch übers Land, auf die Madonna della Quercia, die ‚Muttergottes bei der Eiche’: da kann ich wieder in die Seitenstraße einbiegen. Hinkend. Beim Überqueren einer Hecke an der Grenze zwischen zwei Olivengärten bin ich nämlich so tief in einen Dorn getreten, dass dieser die Sohle meines Turnschuhs durchstochen und meinen Fuß an den Schuh genagelt hat. Ich habe den Schuh aufschnüren müssen, um den Fuß überhaupt aus dem Graben ziehen zu können, und den Schuh nachher aus dem Dorn gezogen. Nun liegt ein Papiertaschentuch zwischen meiner Fußsohle und dem Turnschuh.

Zwischen weitläufigen Olivenpflanzungen verläuft eine schöne Strada bianca, leicht aufsteigend. Kreuzungen, Gabelungen, keinerlei Wegweiser. Weit oben am Berg sehe ich die Stadt, die mein nächstes Ziel ist, Scandriglia. Aber mein Weg könnte weiter oben ebenso gut zu weit nach links führen, und dann wäre wieder ein tiefes Tal zwischen mir und meinem Ziel. Wie nur soll ich wissen, ob ich an der Kreuzung die richtige Straße gewählt habe?

Bei einer Abzweigung hängt ein schlaffer Ballon. Da muss in der Nähe gestern ein Fest gewesen sein, also wohnen da Leute. Ich mache den Abstecher, um zu fragen. Ein Landhaus, große Bäume, darunter junges Volk, eine Art Kindergeburtstagsgesellschaft. Ich trete auf einen jüngeren Mann zu und frage nach dem Weg. Wollen Sie ein Glas Wein? Kommen Sie herein? Wo kommen Sie her? Er hat auf englisch umgestellt. (Ausländer, das hört man: also englisch.)

Er führt mich auf die Veranda. Die ganze Familie strömt herbei, die Nonna (die hier wohnt), der Sohn mit Frau und zwei Kindern (die immer noch vom gestrigen Fest her auf Besuch sind), die Tochter mit zwei Kindern. Man spricht abwechslungsweise englisch, italienisch, deutsch. Es ist eine allgemeine Freude über den Besuch. Sie stellen mir Guiches auf, die noch vom Fest übrig sind, wollen sie sogar aufwärmen. Die alte Dame erzählt von den Einquartierungen im letzten Krieg in diesem Haus. Wie schon bei früheren Gelegenheiten spüre ich, dass die deutschen Offiziere damals hier bei den Italienern, die ja lange ihre Verbündeten waren, einen guten Eindruck hinterlassen haben.

Dann aber ist die Zeit gekommen, dass ich es schicklich finde, mich wieder zu verabschieden. Ja, ich sei auf dem richtigen Weg. Nur weiter so.

In einem steilen Aufstieg durch die Gärten gelange ich in die Stadt hinauf: wiederum eine schöne Anlage vorn auf dem Sporn des Berges; die neueren Häuser des 19. und 20. Jahrhunderts sind auch hier hinten im Sattel angefügt, von ferne nicht sichtbar. Dort befinden sich die Läden, Tankstellen, Freizeitparks.

Ich gehe durch die engen Gassen der alten Stadt, trete in die schattige Bar, lasse mich nach dem strengen Aufstieg auskühlen und frage gelegentlich nach einer Unterkunft. An Mauerecken finden sich auch Wanderwegzeichen – mein Auge ist nun mal darauf fokussiert – aber niemand scheint sie bisher bemerkt zu haben und kann mir sagen, wo sie hinführen sollen.

So folge ich einem der Wege ein Stück weit zur Ortschaft hinaus, in der Hoffnung, es komme ein Wegweiser oder es lasse sich eine allgemeine Richtung des weiteren Verlaufs erahnen. Wirklich treffe ich nach einiger Zeit eine Abzweigung hinauf auf den Berg, und das will ich eigentlich nicht. Mir ist nicht nach umwegreichen Gesundheits- oder Erlebnispfaden zu tun.

Ich kehre in die Stadt zurück und frage in einem Tabacco-Laden wiederum nach einer Unterkunft. Der Mann empfiehlt mir ein Agriturismo draußen im Land. Er hält sich nicht lange mit Wegbeschreibungen auf, sondern bittet einen Kunden, der eben hereinkommt, dass der ihm den Laden für fünf Minuten hüte, komplimentiert mich zu seinem Fiat Uno vor der Tür und führt mich kurzerhand zu Hassan. Er übernimmt es auch, für mich nach einem Zimmer zu fragen, und als das klappt, gibt er mir zum Abschied kurz die Hand und ist schon davon. Aldo heißt er.

Das Haus liegt in den Oliven, am langgezogenen Abhang. Mein Blick reicht bis weit in die Ebene hinaus. Die nähere Umgebung ist wie eine amerikanische Ranch gestaltet. Ein gigantischer rustikaler Torbogen mit der Bezeichnung ‚Raggi di Sole’ am Eingang. Eine Terrasse, wo ich zunächst einen Aperitif nehme und sitze und schaue.

Nach einiger Zeit ist es offenbar so weit, dass das Bett angezogen ist. Eine junge Frau führt mich Treppchen hinunter zu einer Reihe von Häuschen: ein Zimmer am andern, wie in einem Motel im Mittleren Westen.

Es ist noch früh am Tag. Die Sonne geht, nach einem schönen Tag, in der Ferne unter. Ich setze mich etwas abseits in die Oliven und horche darauf, wie meine Flötentöne hier resonnieren. Dann übersiedle ich in den Speisesaal.

Es ist Sonntag, ich darf mir ein ganzes Menu leisten. Hassan empfiehlt, und ich bestelle: als Antipasto kaltes Fleisch; als Primo Fetuccine, was sich als ganz feine Nudeln herausstellt; als Secondo vielerlei Fleisch, was vom Poulet über Rind zu Schwein und möglicherweise auch Strauß reicht, von jedem ein rechtes Stück, mit Pommes frites als Beilage; als Dessert ein Tiramisù; dazu einen halben Roten; und als Digestivo einen Lemoncello.

Die junge Frau, die mir das Zimmer gezeigt hat und jetzt serviert, sagt, sie sei ‚auch eine Ausländerin’. Sie ist Polin und seit einem Jahr da. Heimweh?

Hassan lebt schon lange in Italien. Er hat vor einigen Jahren diese Farm, die er zuvor als Pächter bewirtschaftet hat, kaufen können. Er ist Marokkaner und freut sich, mit mir französisch sprechen zu können. Er ist verheiratet mit einer Italienerin, die hier in der Nähe als Lehrerin unterrichtet. Er schreibt mir seinen Namen in unserer und in arabischer Schrift in mein Reisebuch.

Um sechs will ich auf sein. Das Frühstück wird bereit sein, kein Problem, sagt Hassan.

58 Langer Weg in den Hügeln

Ich stehe rechtzeitig vor dem Speisesaal, aber die Tür ist abgeschlossen. Eine halbe Stunde später kommt Hassan. Il est désolé. Verschlafen. Frühstück mit den unausweichlichen Bisquits.

Dann zurück nach Scandriglia hinauf. Leider ist das Tabacco von Aldo noch geschlossen, ich hätte mich gern bedankt.

Vor mir liegen 14 km Asphaltstraße über den Berg bis Orvino. Aber es ist eine leere Straße, abgelegen, durch eine schöne Landschaft in den Hügeln. Der Vormittag geht vorüber, die Straße steigt sanft an, in weiten Kurven. Ich wechsle von selbst auf jene Straßenseite, auf die der Schatten der Bäume fällt. Manchmal Kühe oder Pferde, selten mal ein Bauernhaus. Weite Blicke. Auf der andern Seite des Berges, im Abstieg, eine Kirche auf einer Kuppe. Leider verschlossen. Einmal im Jahr, scheint es mir, haben sie einen Nachtgottesdienst da oben: längs des Fußweges hinunter zur Straße liegt ein Kabel am Boden, mit Fassungen für Birnchen.

Um die Mittagszeit komme ich nach Orvinio hinunter. Pranzo in der Bar. Informationen für die Fortsetzung meines Weges: Der Wirt ruft einen Bekannten herbei, der mir ein Kroki zeichnet und genaue Angaben macht. Lesen, ruhen.

Um eins mache ich mich auf den Weg, mit meinen Notizen in der Hand. Manchmal ist es nicht eindeutig, ob das nun eine Abzweigung ist oder nicht. Vor allem über die Verwendung des Wortes ‚Strada’ muss ich mich immer wieder wundern.

Nach einer halben Stunde stimmt nichts mehr mit den Beschreibungen überein, aber wie dem auch sei, es geht vorwärts, hügelauf und hügelab, und eine weitere halbe Stunde später sehe ich einen Friedhof (das sind hier ausgedehnte Bauwerke, richtige Totenstädte) und dahinter ein Dorf oder Städtchen. Zwei Frauen am Weg frage ich, wie das Dorf heiße, wo ich sei, und sie sagen: Orvinio.

Tatsächlich bin ich über eine Stunde im Kreis gegangen, ohne es zu merken, komme wieder an den Ausgangspunkt… und versuche es ein zweites Mal mit meinem Kroki. Die bewusste Abzweigung war eben doch nicht die gemeinte, und diesmal erwische ich ein schmales, steiniges Fußweglein durchs Gebüsch: das ist jene Strada, die er gemeint hat. Diesmal gelingt’s. Immer auf Feldwegen und Traktorenspuren, zwischen Weideland und Gebüsch. Um halb vier erblicke ich den Agriturismo delle Colle von Mario. Unten im Tal liegt das Anwesen und ich gehe darauf zu. Ich rufe ihn heraus, und er erklärt mir genauestens den weiteren Weg über die Hügel. Nichts kann mehr schief gehen, denke ich, denn ich sehe in der Ferne den aufsteigenden Weg als weißes Band zwischen den Bäumen. Noch zwei Stunden gehe es bis Valinfredda.

Doch bereits beim nächsten Bachgraben teilt sich die Spur, und ich weiß nicht, welcher ich folgen soll. Beim Hin und Her verliere ich den Weg ganz und gehe die Weide hinauf. Die Krete am Horizont ist ja zu sehen, denke ich. Aber je näher ich komme, desto mehr wird mir klar, dass die Strecke viel weiter ist, als sie geschienen hat. Mario hat sie wohl noch nie zu Fuß machen und dabei noch den Weg auch noch suchen müssen.

Das Sträßchen wäre ideal zum Wandern, aber der Abend rückt näher. Die Beine sind müde. Der Weg geht in weiten Kurven hinein in jedes Seitental. Der Passübergang, den ich schon lange sehe, will und will nicht näher kommen. Die Sonne ist schon untergegangen. Häuser oder auch nur Scheunen sind keine vorhanden, und die weidenden Pferde, die vor mir her auf dem Weg davon traben, scheinen hier für Wochen ausgesetzt zu sein.

Endlich bin ich auf der Krete und blicke hinab ins andere Tal, und da kommt auch eine Wanderwegbezeichnung, die mir Gewissheit gibt, dass ich nicht aus der Welt gefallen bin.

Ich trete von oben her ins Dorf. Beim ersten Haus ist einer in seiner Garage am Reparieren eines Mähbalkens. Ich frage nach einem Laden, einem Restaurant. Alles geschlossen heute, immer am Montag Nachmittag in unserem Dorf, sagt er. Leider nichts zu machen. Nochmals eine oder zwei Stunden bis ins nächste Dorf?

Wahrscheinlich sieht er mir meinen Zustand an und erfasst die Situation. Soll ich dich mit dem Auto schnell hinfahren? Das lass ich mir gerne bieten. Er macht noch seine Arbeit fertig, und dann kann ich in seinen Wagen steigen. Meine Füße sind elf Stunden weit gegangen und fühlen sich sehr erleichtert.

Er bringt mich zum Albergo Villa Celeste. Wir trinken dort ein Bier miteinander. Er heißt Mario. Ich versuche herauszufinden, was er arbeitet. Aber ich verstehe seine Sprache nur mühsam. Fahrer beim Abfallwesen oder ähnlich.

Das Hotel hat schon bessere Tage erlebt, vielleicht wartet es auch dieses Jahr noch auf die Saison. Es ist schön gelegen, etwas abseits des Dorfes hinter einem Gehölz, aber die ganze Umgebung strotzt von Unordnung, von Aufgebeigtem und Herumgestandenem. Ich werde zu essen bekommen, alles klar, heißt es, aber mir wird nicht klar, wer hier bedient, wer befiehlt, wer hier zur Familie gehört und wer bloß herumlungert. Aber was soll’s, ich habe Zeit, ich habe ein Zimmer, ich habe geduscht, ich strecke meine Beine unter einen Tisch, und zuletzt bekomme ich tatsächlich auch etwas Gutes auf den Teller.

Die Rechnung begleiche ich noch am Abend, denn an ein Frühstück in diesem Etablissement glaube ich nicht.

59 Cervara

Wie ich nun am andern Morgen früh auf der Straße stehe vor dem Hotel, zu dem ich am Abend mit einem Auto hingeführt worden bin, fällt es mir schwer, mich zu orientieren. Aber da kommt einer mit Hund daher. Den frage ich, und er scheint mein Anliegen zu verstehen. Ein ‚mulattiere’ nennt er mir, der bei einem bestimmten Haus abzweige, und fröhlich mache ich mich auf den Weg. Es zweigt tatsächlich ein Fußweg ab und geht den Berg hoch, ein schmales Wald- und Wiesenweglein. Um sieben Uhr bin ich denn auch auf dem Rücken des Berges. Aber der Weg ist zu Ende, und auf der andern Seite schaue ich 300 Höhenmeter tief und steil hinunter, auf Dorf und Autobahn. Ein Abstieg quer durch den Wald, zwischen Felsen und Ginster, auf steilen Wiesenstücken, nein, das kommt doch nicht in Frage. Ich folge einer Rehspur, komme seitwärts wieder hinab, nehme stets den breitesten Pfad und bin eine weitere Stunde später wieder unten beim Dorf, dort wo der Mulattiere begonnen hat. Und nun sehe ich eine andere Abzweigung, den mein Informant gemeint haben könnte. Ich versuch’s. Ein Fahrweg. Nach einiger Zeit geht auch der wieder aus. Ich steige den Kastanienwald hinab (Kastanienwälder sind aus der Zeit, als man noch Kastanien sammelte, mit unzähligen Zickzackweglein durchzogen) und komme endlich auf ein Sträßchen, sogar eines mit Wanderwegzeichen. Gewiss drei Stunden habe ich gebraucht für eine Distanz, die auf dem Wegweiser mit dreißig Minuten angegeben ist.

Der Ort, den ich von oben bereits ausführlich angeschaut habe, heißt Arsoli, und hier gibt’s endlich Frühstück. Ich schlendere durch den alten Teil des Städtchens, setze mich noch in eine zweite Bar, als auf einmal in einem orangen Overall Mario auftaucht, mein Freund von gestern. Er sammelt hier die Abfallkübel ein und leert sie in sein Gefährt. Und er legt mir ans Herz, den Weg über Cervara di Roma zu nehmen.

Das bedeutet acht Kilometer Aufstieg auf kurviger Straße. Ich kann es von der Terrasse aus überblicken. Also nochmals über einen Berg. Auf seinem Rücken soll es einen Wanderweg geben.

Die Straße zieht sich in die Länge. Aber es gibt ganz wenig Verkehr. Der Hang ist steil und bewaldet, Abkürzungen sind nicht denkbar, ich muss die Kurven ‚auskosten’.

Cervara, ein Dorf auf dem Felsen. Auf Treppen und engen Gässchen steige ich zur Piazza hinauf. Die Häuser stehen eins über dem anderen, wie an den Felsen geklebt. Alles geschlossen, auch die einzige Bar hat an diesem Tag zu. Ich bin aber an einer Tür vorbei gekommen, an der ein handgeschriebenes Schild hing: ‚aperto bussare’, wer zu essen wolle, solle laut klopfen.

Das tue ich, ein junger Mann macht auf und schaut erstaunt. Er führt mich hinein, eine Treppe hinunter in den untern Stock, wo der Speisesaal ist: drei Tische. Was ich zu essen wünsche, fragt er. Was es denn gebe, frage ich. Was ich wolle. Ich bestelle also Ravioli und Salat, und er ruft die Bestellung seiner ‚Mamma!’ in die Küche hinaus.

Er interessiert sich sehr für mich und mein Vorhaben. Er kann mit dem besten Willen nicht verstehen, warum ich das machen wolle. Perche fai questo? Er schüttelt den Kopf. Warum ich nicht wenigstens ein ‚bici’ nehme. (Ein Wort übrigens, das ich vor 18 Jahren noch nicht gehört habe.) Aber irgendwie ist er fasziniert.

Was machen die Leute hier? Womit verdienen sie ihr Geld?, möchte ich von ihm wissen. Fast alles alte Leute, sagt er, die von der Pension leben. Ein Altersheim.

Er rät mir dringend ab von den Wanderwegen oben auf dem Berg. Die seien nicht zu finden. Das Gras stehe im Moment viel zu hoch. Die Zeichen könne man nicht sehen.

Das bedeutet noch einmal einige Stunden Straße heute Nachmittag. 18 km sind es bis Subiaco, der nächsten größeren Stadt.

Das Essen ist wirklich so wie bei Mamma. Der Aufstieg hat sich dafür gelohnt.

Unterhalb des Ortes steht auf einem Sporn ein einsames Kirchlein. Dort mache ich meine Siesta im Schatten des Waldrandes. Um halb vier ziehe ich weiter. Manchmal finden sich Pfade, mit denen sich die weiten Kehren abschneiden lassen. Aber im Ganzen zieht sich der Weg in die Länge. Ohne Pause gehe ich den ganzen Weg und bin um sechs in der Stadt. Ein Bancomat. Ein Schuhgeschäft, wo ich mir neue Schuhe erstehe, scarpe di tennis. Das Hotel führt keine Zimmer mehr, so bleibt die Unterkunft im Kloster: hinten im Tal die Abtei Santa Scolastica. Ein Taxi gibt es nicht. Müde mache ich mich auf den Weg, hinauf zum Kloster.

Ja, es gibt noch ein Zimmer. Die Herberge ist keineswegs mit dem Kloster verbunden, ist eher ein Hotel der nobleren Klasse. Eine Gesellschaft von Engländern nimmt draußen vor dem Haus, bei der untergehenden Sonne, den Aperitif. Weil ich meine, das sei ein Angebot des Hauses, greife ich auch zu und merke erst mit der Zeit, dass es sich um eine Bestellung dieser Gruppe handelt. Mit vornehmer englischer Reserve wird mein Faux-pas ignoriert.

Oberhalb des Hauses weiden Kühe, man hört Glocken. Ich mache ein paar Schritte und spreche mit dem Bauern, der eben sein Pferd herein geholt hat, über die Wanderwege. Es gibt nämlich an der Hausecke ein rot-weißes Zeichen. Er lässt sich sehr abfällig über die Angestellten des Naturparks aus, die diese Wanderwege eingerichtet hätten. Erstens seien sie, die Hirten, nicht angefragt worden, und wüssten doch am besten über den Verlauf der Wege Bescheid. Und zweitens könne man nicht einfach Zeichen hinpinseln und dann den Weg sich selber überlassen. Nach wenigen Jahren seien die Wege nicht mehr aufzufinden, wenn sie nicht ständig ausgeholzt und ausgebessert würden. Wie recht er doch hat.

Ein langer Tag. Viel Asphalt in den Knochen. Ein gutes Bett. Der Schlaf kommt bald.

60 Das Tal des heiligen Benedikt

Etwas später als gewöhnlich mache ich mich aus den Federn. Die Sonne scheint schon hell zum Fenster herein. Das Hotelfrühstück à l’italienne ist schnell eingenommen. Ein Besuch in der klassizistischen Kirche (Prunk durch Masse) bleibt kurz. Um neun gehe ich los.

Der junge Mann an der Réception, den ich nach der Straße nach Ienne frage, schickt mich bergab bis zur entsprechenden Abzweigung, was mir nicht recht einleuchtet, bin ich doch gestern Abend da hinauf gekommen und habe nichts von einer solchen bemerkt. Aber er besteht darauf.

Nach einer Viertelstunde, als nichts von einer solchen Abzweigung zu sehen ist, will ich’s doch noch einmal wissen und halte einen Autofahrer an. Es ist ein Mönch aus dem Kloster, der zur Arbeit fährt. Nein, ich müsse vom Kloster aus einfach weiter in die Höhe der Straße nach.

Also gehe ich zurück und steige dann die vielen Kehren hoch, wie tags zuvor gegen Cervara hinauf.

Wie ich einmal auf einem Mäuerchen etwas ausruhe, hält ein Lastwagenfahrer an und fragt mich, ob ich mitfahren wolle. Das geht zwar gegen mein Prinzip, aber in diesem Fall lasse ich mich gern ein Stück weit führen. Es bringt aber dem gutherzigen Menschen kein Glück. Zwei Kilometer weiter stottert sein Motor, stellt ab und lässt sich nicht mehr in Gang setzen. Am Benzin liegt’s nicht, und was Motoren anbelangt, so versteht er nicht mehr davon als ich. Da stehen wir am Straßenrand. Was tun? Er telefoniert einen Kollegen herbei, und nach einer Weile kommt der angefahren, kann aber auch nicht mehr als mit den Schultern zucken.

Ich verabschiede mich und gehe zu Fuß weiter. Zwei Stunden später hat er mich noch nicht eingeholt – ich hätte ihn sehen müssen -, als ich, kurz vor zwölf, Ienne erreiche.

Das ganze Waldgebiet bergseits der Straße ist als Naturpark ausgeschieden. Die Administration dieses Parks unterhält in Ienne ein Büro, eine Art Touristeninformation. Da trete ich nun ein und werde von einem Mitarbeiter – der selber für Gruppen Wanderungen organisiert und deshalb die Wege kennt – bestens orientiert. Es sollte also möglich sein, in der nächsten Zeit mehr oder weniger die Autostraßen zu meiden.

In der Bar verpflege ich mich und steige dann auf dem Wanderweg hinab ins Tal. Es wäre möglich gewesen, von Subiaco aus auf einem Sträßchen alles dem Fluss nach zu gehen. Zu dumm, dass mir der Concierge dort keine richtige Auskunft hat geben können.

Auf dem steinigen Abstieg treffe ich auf die Gruppe Engländer von gestern. Sie sind mit dem Car nach Ienne hochgefahren und wandern jetzt auf dem besagten Weg zurück nach Subiaco. Ich wechsle ein paar Worte mit den hintersten, spüre aber keinerlei Interesse an einem weiteren Gespräch. Es ist jeder damit beschäftigt, seine Beziehungen innerhalb der Gruppe zu pflegen; für Fremdbeziehung ist kein Raum.

Wir haben vor Jahren einmal mit unseren Kindern dieses Tal durchwandert. Wenn ich mich richtig erinnere, hat hier in den Hängen irgendwo der Klostergründer Benedikt eine Zeit lang seine einsame Zelle gehabt.

Unten am Fluss mache ich Rast und tauche ins Wasser. Dann geht’s bequem auf dem besagten Sträßchen südwärts, bis ich auf die Straße stoße. Diese überquert den Fluss, folgt ihm eine Zeit lang und wechselt dann wieder die Seite. Ich aber bleibe am rechten Ufer (von mir aus gesehen), wandere einige hundert Meter auf den Weiden dem Wasser nach und finde dann den (nicht bezeichneten) Weg den Wald hinauf gegen Altipiani. Damit kann ich einen viele Kilometer langen Umweg abschneiden. Aber mein so sicher scheinender Weg verliert sich dann doch im Gehölz, ich muss meine Tritte quer durch den Wald suchen, steil den Hang hinauf. Ich habe aber Glück und stoße auf eine alte, überwachsene Straße, und das muss der Wanderweg sein, den mir der Parkführer in Ienne angegeben hat. Der ausgedienten und vergessenen Straße ist in der Zwischenzeit eine Wasserleitung in die Quere gekommen. Niemand hat darauf geachtet, den dadurch unterbrochenen Wanderweg umzuleiten oder wenigstens anzuzeigen, wo er weiter gehen könnte. Ich verliere mich wieder im Gesträuch. Ich steige den letzten Hang steil empor, komme an ein mannshohes Drahtgeflecht und benütze meine unterdessen erworbene Fähigkeit, um darüber zu steigen. Ich stehe in einem Gemüsegarten und gehe sorgsam auf den Weglein zum Haus und auf den Hofplatz. Dieser ist gegen die Straße abgesperrt mit einem Cancello. Aber da steht ja die Frau des Hauses, und ich frage sie, ob sie mir das Tor öffne, damit ich hinaus könne. Sie tut aber sehr erstaunt und erbost. Wie ich denn hinein gekommen sei. Sie fürchtet wahrscheinlich, dass jetzt ihr Hag beschädigt ist, und will mich in eine Auseinandersetzung verwickeln. Darauf gehe ich nicht ein, bitte sie nochmals recht resolut, mir das Tor aufzutun, und sage dann, von draußen, sie sei die erste, die ich hier in Italien angetroffen hätte, die mit mir geschimpft habe.

Nun bin ich schneller als erwartet in Altipiani angekommen, aber schweißgebadet. Ein paar Schritte ins Zentrum, zur Straßenkreuzung, wo die Bar ist. Ich setze mich mit meinem Getränk an ein Tischchen und lasse die Füße baumeln.

Die jungen Männer, die an den andern Tischchen sitzen, nehmen mich scheinbar nicht zur Kenntnis. Dann aber spricht mich einer, unerwartet für mich, an, und alle sind wenden sich mir zu. Sie sind begierig zu erfahren, was für ein Exot ich sei. Spielst du Schach?, fragt mich einer. Ich tu ihm den Gefallen und spiele eine Partie, mache aber eine ganz klägliche Figur dabei.

Der nächste größere Ort heißt Fiuggi. Aber auf halbem Weg dorthin entschließe ich mich, heute im Freien zu schlafen, schlage mich seitwärts in die Büsche oder vielmehr ins hohe Gras, suche mir einen geschützten Platz im Meer der Wiesenblumen, auf einem Punkt, von wo aus der Sonnenuntergang schön zu sehen ist, und breite meinen Schlafsack aus.

Kaum ist die Sonne verschwunden, kühlt es rasch ab. Ich kuschle mich in die warme Decke, stelle den Wecker am Handy und hoffe auf baldigen Schlaf.

Leider habe ich nicht bemerkt, dass der Platz, wo ich liege, von einem Fahrweg weiter oben einsehbar ist. Und dort hält nun ein Auto an und steigen zwei Männer die Wiese hinab zu mir. Ich ‚schlafe’. Der eine bleibt zurück, der andere nähert sich mir, spricht mich an, und ich schaue auf. Polizei. Was ich hier wolle. Ausweiskontrolle. Ich lache und kann es gelassen nehmen. Die Polizei habe mich schon kontrolliert.

Es sei gefährlich, hier zu schlafen. Wildschweine. Ich muss noch einmal lachen. Es sei auch nicht erlaubt, hier zu schlafen. Privat. Sie geben mir einen Ort an, innerhalb der Klostermauern in Fiuggi, wo ich ungestraft draußen schlafen dürfe.

Also nehme ich meine Sachen zusammen und mache mich davon. Die beiden auch.

Noch dreihundert Meter auf der Straße weiter, dann gehe ich auf die andere Seite, stapfe durchs hohe Gras und suche mir diesmal, in ebenso schöner Blumenpracht, einen Ort, der besser gegen Blicke geschützt ist. Und schlafe ungestört ein.

61 Alatri

Ich muss den Wecker jeden Tag früher stellen, wenn ich bei Sonnenaufgang unterwegs sein will. Ich räume meine Sachen zusammen, nehme meine Schuhe an die Hand und wate barfuß durchs nasse Gras auf die Straße zurück.

Eine Stunde später bin ich in Fiuggi, wo wie erwartet und erhofft die Bar offen ist. Ausgiebig gebe ich mir dem Frühstück hin. Unterdessen sind die Marktfahrer nebenan damit beschäftigt, ihre Stände aufzustellen. Ich schlendere auch durch die Auslagen und kaufe mir ein neues Hemd und frische Unterwäsche.

Wo nur haben wir vor 15 Jahren, als wir mit der Familie hier, auch im Juni, mit dem Hund durch die Gegend wanderten, die schönen Wege angetroffen? Ich kann mich nicht mehr erinnern. Vor mir liegen Straßenstücke.

Ich wähle aber eine Nebenstraße, die dem Lago di Canterno folgt. Rast im Restaurant am See, Siesta am Ufer. Schöner Weg durch den Wald, dem westlichen Ufer nach gegen Süden. Nebensträßchen südwärts, der Nase nach. Rechts oben erblicke ich ein markantes Städtchen, das die Bergkuppe krönt, dessen Campanile aber von einem Ungetüm von Sendeturm konkurrenziert wird, was das ganze Bild verunstaltet: Fumone.

In großer Hitze nähere ich mich der Stadt Alatri, während ich meine Geschichte ‚n’ auswendig lerne, die eine der beiden längsten, und das verkürzt mir den Weg durch den Nachmittag.

Um drei bin ich im Vorort, lösche meinen Durst in der Bar und steige dann in die Stadt hinauf. Ein schöner Ort. Stattliche Häuser an den Gassen. Die Kirche bei der Piazza, ein romanischer Bau, ist leider noch geschlossen. Um halb fünf gehe sie auf, sagt man mir.

Rundgang. Beim Coiffeur lasse ich mir den Bart stutzen und den Hals rasieren. Angenehmes Gespräch.

Haben Sie die Acropolis schon gesehen? Das dürfen Sie nicht verpassen. Er kommt mit mir auf die Gasse hinaus, führt mich um die Ecke, von wo aus ich an die Mauern der alten Burg sehen kann.

Ich frage, ob ich meinen Rucksack bei ihm einstellen könne. Und dann gehe ich wie empfohlen zu der Sehenswürdigkeit hinauf. Es ist tatsächlich sehr eindrücklich. Die Mauer ist aus gigantischen Steinblöcken aufgebaut, die sicher 150 cm breit und 100 cm hoch sind und ohne Mörtel aufeinander liegen, gewiss zehn Meter hoch, leicht schräg nach innen, aber ganz fein und genau gearbeitet. Man nennt sie hier ‚muri ciclopi’, in der Annahme, dass für solch ein Werk menschliche Kraft nicht ausgereicht haben konnte und es daher von den Zyklopen erstellt worden sei. Wie ich später erfahre, sind diese Bauten tatsächlich von den italischen Völkern erstellt worden, lange bevor sie unter römische Herrschaft geraten sind.

Das Plateau, das durch dieses Mauerwerk entstanden ist, erhebt sich über die ganze Stadt und ist wohl so groß wie zwei Fußballfelder. Die Kathedrale dominiert da oben, versteht sich, im übrigen geben große Bäume dem Platz Schatten und bietet eine Freiluftwirtschaft den Passanten etwas gegen den Durst.

Die erhöhte Stelle ermöglicht einen Blick weit hinaus in die Ebene. In der Ferne ist Frosinone, die Provinzhauptstadt, auszumachen. Etwas näher, auf einem Sporn, ragt Véroli empor, und schätzungsweise etwa eine Stunde entfernt liegt am gegenüberliegenden Hang das Kloster San Sebastian. Die Fortsetzung meines Weges scheint mir vor den Füßen zu liegen, und ich glaube an diesem Abend ohne Mühe noch Véroli erreichen zu können.

Ich verlasse den Platz auf der Südseite durch ein Tor, das von ebenso großen, behauenen Steinquadern gebildet ist, umschreite die ganze Mauer und kehre zur Piazza zurück. Die romanische Kirche dort ist immer noch geschlossen. Schade.

Der Coiffeur freut sich, dass mich die Acropolis so beeindruckt hat. Ich nehme meinen Rucksack und suche mir den Weg hinab und hinaus aus der Stadt, gegen Südosten.

Was von oben übersichtlich da lag, erweist sich, wenn man wie eine Ameise in der Gegend selber steht, als eine kleinräumige, hügelige Landschaft, in der ich mich nicht so ohne weiteres orientieren kann. Aber das Kloster San Sebastian finde ich nach einiger Zeit, oben am Hang.

Ich komme an, als es im schönsten Abendlicht steht, mitten in den Oliven- und Obstkulturen. Beim Brunnen vor dem Tor kühle ich mein Gesicht, und dann frage ich die beiden Männer, die dort stehen und offenbar dabei sind, von der Landarbeit nach Hause zu gehen, ob es eine Möglichkeit gebe, die Kirche zu besichtigen.

Das Kloster sei im Besitz eines Amerikaners, der sich kaum je zeige. Und vom Verwalter sei auch kein Schlüssel zu erhalten. Zur Zeit sei ohnehin niemand da.

So muss ich mich damit begnügen, die Anlage von außen gesehen zu haben.

Auf meine Frage nach dem Weg hinauf nach Véroli gehen sie nicht recht ein, nicken zustimmend mit dem Kopf, zucken die Achseln oder was weiß ich. Ich steige wohlgemut den Berg hinan, eigentlich weiß ich ja den Weg, habe ihn von der Zinne aus gesehen. Der Weg zieht sich hin durch Weide- und Waldgebiet und steigt stetig an. Die allgemeine Richtung ist mir bekannt, und so weit kann es gar nicht mehr sein.

Als ich hoch oben am Berg stehe, auf blumiger Wiese, mit Blick hinab in die weite Ebene hinaus gegen Frosinone, und mein Pfad immer schmaler wird: plötzlich erkenne ich, dass wir da vor 18 Jahren zusammen mit Klaus und Johannes gewandert sind. Aber der Weg verliert sich in der Weide. Die Pferde können mir auch nicht weiterhelfen. Ich irre im lichten Gehölz umher, steige auf eine Krete, meine, ich müsste schon längst die Stadt Véroli sehen können und komme immer mehr in die Wildnis.

Zuletzt rechne ich damit, den ganzen Hang hinunter in die Ebene steigen zu müssen. Die Sonne ist nächstens am Untergehen. Wieder einmal bin ich froh, in meinem Rucksack einen Schlafsack zu wissen. Ich könnte mich jederzeit hinlegen und ohne Not da draußen übernachten.

Ich steige vorerst ein wenig ab, vertraue mich dann wieder einem Weglein an, dem Hang entlang, komme endlich auf ein Sträßchen, und das führt mich dann hinab in besiedeltes Gebiet.

Oben auf der Krete steht die alte Stadt: die eng aneinander gebauten Häuser, die Türme der Kirchen. Unten breiten sich die modernen Gebäude aus, die Straßen, die Industrie. Bei einer Einmündung mit Stoppstraße halte ich einen Vespafahrer an, mit aufgestrecktem Zeigefinger, und frage ihn nach einem Hotel. Da unten gibt es ein Hotel, sagt er. Aber ich rate Ihnen zum schönsten Hotel, dem Palazzo Filonardi. Sagen Sie nur, ich hätte Sie geschickt, der Dottore … Ich bin Chirurg (und weil er meint, ich verstünde das Wort nicht, macht er die Gebärde des Schneidens mit dem Messer), und ich bin Kandidat für den Sindaco. Er hebt den Sattel seiner Vespa auf und entnimmt dem Handschuhfach ein Flugblatt mit seinem Bild und seinem Namen. Welcher Partei gehören Sie denn an?, frage ich. Der Berlusconi-Partei.

Trotz müder Beine geht es also noch einmal in die Höhe. Es sei aber gar nicht weit, hat mein Vespafahrer gesagt.

Zu oberst auf dem Hügel steht die Ruine von Schloss und Turm, und gleich daneben gibt es ein kleines Kirchlein. Der Platz davor ist gerade groß genug, dass ein Auto wenden kann. Denn in die Stadt hinein kommen nur kleinere Gefährte. Der Platz ist von einem Mäuerchen umgeben, und von dort aus schaue ich zurück. Im dunstigen Licht kann ich knapp die Stadt Alatri erkennen. Der Weg hat sich als viel weiter erwiesen, als ich gemeint habe. Sogleich wird die Sonne untergehen.

Ein Mann spricht mich an. Antonio heißt er und ist Restaurator in alten Kirchen. Er macht mich auf das Kirchlein aufmerksam, San Leucio, dessen Türen offen stehen. Ich trete ein in einen archaischen Raum mit unverputzten Mauern, einem offenen Dachstuhl aus schwarzem Kastanienholz. Ich packe meine Flöte aus, setze mich in eine Kirchenbank, lasse die Füße hängen und spiele Töne, die ein ‚Ave Maria’ sein können.

Gemeinsam schauen wir, Antonio und ich, dem Sonnenuntergang zu. Der Palazzo Filonardi, ja, ein gutes Haus. Er hat in der Kapelle dort auch Bilder restauriert.

Ich nehme also meinen Rucksack auf und mache mich auf den Weg, die Stadt hinab. Der Weg ist eine Treppe, wobei zu beiden Seiten für die Reifen eines Kleinwagens Fahrspuren aufgemauert sind. Aber für mehr wäre nicht Platz in der Breite. Die Häuser sind gepflegt und zeigen sich in reichem Blumenschmuck.

Ich muss mehrmals nach dem Weg fragen. Zuletzt stehe ich vor dem Palazzo. Ich trete ein und frage nach einem Zimmer, nicht ohne den Dottore zu erwähnen, und werde in den oberen Stock geführt. Ein großer Raum, mit Blick in einen Innenhof, hinaus auf Bäume. Bad, Komfort, neue Frische.

Dann Nachtessen unten im Hof, unter großem Sonnendach. Der Kellner ist nur für mich da und noch für ein Paar an einem weiteren Tischchen. Vorzügliche Küche. Durchwegs erlebe ich die Kunst der Gastronomie.

Ich lege mich ins Bett. Großes Wohlbehagen. Ich habe damit aufgehört, Marschstunden zu zählen.

62 Casamari

Am andern Morgen schlafe ich bis um sieben. Das Frühstück ist draußen, oben auf der Terrasse, mit Blick hinaus ins weite Land.

Dann lasse ich die Sachen noch im Zimmer und mache einen Rundgang in der Stadt. Postkarten. Leider keine genaue Landkarte. Zurück ins Hotel.

Um zehn Abmarsch. Ein älterer Herr erklärt mir Wege nach Casamari. Es sind aber lediglich Nebenstraßen, nichts von Feldwegen. Immerhin kann ich dem Hauptverkehr ausweichen.

Die letzten vier Kilometer – wie bereits damals – an den Rand einer vielbefahrenen Straße gedrückt. Und dann stehe ich vor dem Kloster, an dem ich das erste Mal vor achtzehn Jahren spätabends ans Tor geklopft und nach Don Benedetto gefragt habe.

Es ist diesmal Mittagszeit, Siesta, alles geschlossen bis um vier. Das ist mir auch recht. Ganz in der Nähe, beim großen Besucherparkplatz, führt eine Treppe hinab, dort finde ich eine einfache Wirtschaft. Ich setze mich an einen der einfachen Holztische und bestelle das Übliche.

Es ist nicht Saison. Außer mir sitzt noch, am Nebentisch, eine Handwerkergruppe im Lokal: der Chef und zwei Angestellte, Spengler, aber am meisten gibt ihnen zu tun, wie ich vernehme, das blühende Geschäft mit den Eisentoren. Das habe ich allerdings auch schon gemerkt: Wenn einer ein Häuschen baut, so ist es das erste, dass er sich zwei Betonpfosten an den Eingang seines Grundstücks pflastert, dann wird das schwere Cancello montiert, dann das Geländer, und erst dann können sie mit dem Aushub und dem Fundament anfangen.

Nach dem Essen geht es noch fast zwei Stunden, bis die Kirche aufmacht. Das ist mir auch recht. Ich suche mir ein Plätzchen etwas abseits im Schatten der großen Pinien, ziehe meine Schuhe und Socken aus, stelle meinen Handy-Wecker, lege mich ins Gras und mache mein Schläfchen.

Um vier stehen die Tore weit offen. Ich trete in den hohen, kühlen Raum und bin neu wieder überwältigt von der Erhabenheit dieses romanischen Kirchenschiffs. Es herrscht ein stilles, aber emsiges Treiben. Junge Leute knien am Boden und legen mit Zweigen, Föhrennadeln, Blumen und Moosen ein Bild, das den ganzen langen Gang zwischen den Bankreihen bedeckt. Mit Kreide sind ornamentartige Linien auf den Stein gezeichnet, die nun mit Natur ausgefüllt und überdeckt werden. Obwohl ich nicht allein bin, packe ich doch meine Flöte aus, setze mich in ein Seitenschiff und beginne zu spielen. Die andern lassen sich davon nicht ablenken.

Ein Pater schwebt vorbei, schaut hin und gibt da und dort eine Anweisung. Ich wende mich an ihn – und im Augenblick, als ich ihn anspreche, erkenne ich ihn: es ist Don Benedetto – und erkundige mich, ob sein Mitbruder und mein Bekannter, Don Consiglio, noch am Leben sei, er müsse jetzt gewiss etwa 92 sein. Ich sei vor 18 Jahren ein paar Tage hier im Kloster gewesen – natürlich vermag er sich nicht mehr an mich zu erinnern – und hätte ihn damals etwas näher kennen gelernt. Er weiß, wen ich meine. Aber er heißt nicht Consiglio, sondern Gerardo, und er ist nicht 92, sondern 84. Man wird ihn rufen.

Ein junger Mönch führt mich durch eine Seitentür in einen langen Gang des Klosters, öffnet eine seitliche Tür und lässt mich in ein Besucherzimmerchen eintreten. Ich sitze in einem Lehnstuhl, betrachte im dämmrigen Licht die Gemälde an der Wand, schaue zum Fenster hinaus, horche in die Stille hinein… und warte. Warte lange. Hat man mich vergessen?

Dann tritt er ein, Don Gerardo. Wir erkennen einander sogleich. Er kommt freudig auf mich zu. Er spricht wie eh und je sein unverständliches Gemisch aus Französisch und Italienisch, das ich so schwer verstehe, und er gibt mir zu verstehen, dass er, weil es gleich vier sei, zur None gerufen werde, aber nachher Zeit für mich habe. Ich frage, ob ich am Stundengebet teilnehmen dürfe, was sich gut machen lässt. Aber meine gesangliche Teilnahme, ich muss es sagen, ist sehr spärlich. Zu lange liegt meine Beschäftigung mit der Gregorianik zurück. Dennoch werde ich zur Kenntnis genommen; sogar der Abt begrüßt mich und drückt mir die Hand.

Danach führt er mich durch die Gänge. Wir setzen uns auf eine Bank und unterhalten uns. Er erinnert sich genauestens an die drei Tage, als ich im Kloster Gast war, und weiß noch, wie ich ihm die Musik, die in seinem Kopf war, zu Papier brachte. Ach, sagt er, sie haben mir hier einfach mein Talent nicht zugestanden. All die Musik, die ich zum Lobe Gottes hätte komponieren können. Aber das Leben im Kloster ist hektisch: stets diese Unterbrechungen durch die Stundengebete…

Guter Freund, denke ich, du bist wie der Antonio Tusa, der begnadete Cellist im Stadtorchester Winterthur, der ein Leben lang von einer Karriere als Dirigent und Komponist geträumt hat.

Er erinnert sich an seinen Besuch bei uns in der Schweiz, und ich erzähle ihm, dass ich an jenem Tag, nachdem er abgereist war nach Hauterive (mit seiner schwarzen Kutte, die ihm die Reise per Daumen so leicht machte), vom Kirschbaum gefallen und dabei fast umgekommen war.

Nicht zu lange will ich den alten Mann hinhalten. Es ist mein dritter und diesmal wohl letzter Besuch bei ihm. Ich nehme Abschied.

Vom langen Asphaltmarsch vor dem Mittag habe ich genug, und das gibt mir den Mut, quer durch Wein- und Olivenplantagen meinen Weg zu nehmen, immer Richtung fünf Uhr. (Gemeint ist, dass beim Kompass oben, wo Norden angezeigt wird, die Ziffer 12 steht.) So komme ich auf kleinen Sträßchen zielstrebig voran, berücksichtige jede Bar am Weg zu einem Trunk und frage mich kopfschüttelnd, warum ich es nicht immer so gemacht habe. Bei Sonnenuntergang aber biegt das Sträßchen scharf ab und führt mich wieder rückwärts. Ich finde keine passende Abzweigung, frage daher einen Bauern am Weg, und der sagt mir, dass hier kein Weiterkommen sei wegen eines Stausees. Ich muss zurück und einer langen Mauer um ein scharf bewachtes Militärgelände herum gehen. Schade um die schöne Abendstunde.

Es dunkelt bereits. Eine Einfahrt zu einem Friedhof hilft mir, die Straße, die hier wieder überaus verkehrsreich ist, zu verlassen. Ein schmales Weglein geht hinauf in die Höhe, am Haus vorbei gelingt’s mir, keinen Hund aufzuwecken, und etwas weiter oben, in den alten Oliven, im hohen Gras, finde ich einen abgeschirmten, ruhigen Platz zum Schlafen.

63 Cassino

Meine Bekanntschaft mit dem Kloster von Casamari ist eine Geschichte für sich.

Auf meinem Weg nach Rom, vor achtzehn Jahren, kam ich in der zweiten Woche an der Certosa di Pavia vorbei und habe dort vom Mönchschor das Mittagsgebet singen gehört. Weil ich kurz zuvor beim Pater Roman Bannwart die Gregorianik studiert hatte, war ich besonders interessiert und suchte das Gespräch mit den drei Mönchen, als sie vom Chor der Kirche zurück zu den Klosterräumlichkeiten wandelten. Auf meine Frage nach der Art dieser Gesänge gaben sie mir zu verstehen, dass sie nur ein sehr dürftiges Beispiel seien. Aber wenn ich mehr erfahren wolle, so möge ich mich doch nach Casamari begeben. Sie rieten mir, mich an Don Benedetto zu wenden, den Chormeister. Der eine schrieb mir sogar diesen Namen in mein Reisebuch und gab mir zu verstehen, Casamari liege nicht weit südlich von Rom.

Als ich dann in Rom angekommen war, wollte ich die Gelegenheit wahrnehmen und in Casamari vorbeigehen. Ich konnte nicht ausfindig machen, wo dieser Ort liegt, aber am Billetschalter erklärten sie mir, ich solle nach Frosinone fahren und dort in den Bus umsteigen. Das Billet kostete etwas über 7000 Lire, aber ich hatte nicht mit italienischen Billetpreisen gerechnet und musste von den Mitreisenden ständig beruhigt werden, Frosinone komme noch lange nicht. Es war dann bereits abends gegen neun, als ich ankam, und bis der Bus fuhr, dauerte es eine weitere halbe Stunde. So war es dunkle Nacht, als ich vor dem Kloster stand.

Ich hätte ja gut draußen schlafen können. Aber so weit in der Fremde darf man sich eher über gewisse Anstandsregeln hinwegsetzen. Ich läutete also am Tor, und als jemand kam – es war der Bruder Apotheker – fragte ich nach Don Benedetto. So ein Name wirkt Wunder. Es durfte mit Recht so aussehen, dass ich ein guter Bekannter von Don Benedetto sei, wenn ich so spät abends nach ihm verlangte.

Man hieß mich warten. Don Benedetto habe gerade jetzt während des Nachtessens die Lesung zu halten. Aber ich wartete gern. Niemand hatte gesagt: Läuten Sie morgen wieder.

Als er dann erschien, hatte er nicht viel Zeit. Offensichtlich war er eine hohe Charge im Kloster. Aber mir wurde ein Gästezimmer mit weißbezogenem Bett zugewiesen, und in der Folge blieb ich drei Tage im Kloster, nahm an allen Mahlzeiten der Mönche teil und sang in ihren Stundengebeten mit. Einmal spielte ich sogar in einem Gottesdienst einen Sonatensatz, den Don Benedetto auf der Orgel begleitete. Ich erinnere mich nur noch, dass meine Flöte zu tief gestimmt und ich während des ganzen Stücks gezwungen war, den Ton zu drücken.

Aber mehr Zeit für mich hatte der pensionierte Französischlehrer Don Gerardo, der sich auch von meiner reformierten Konfession nicht davon abhalten ließ, mir seine volle Zuneigung zu schenken. Noch heute trage ich die kleine Münze mit dem Marienbild, das er mir beim Abschied ans Herz gelegt hatte, in meinem Portmonnee (in der Gesäßtasche) mit mir.

*

Der Tag beginnt mit einem zweistündigen Straßenmarsch bis Arce. Die Stadt liegt auf dem Berg, aber mich zieht’s vorwärts, ich bleibe unten.

Den ersten Kaffee habe ich bereits in Fontanaliri bekommen, zusammen mit einem Zug Soldaten, die dann auf einen Lastwagen verladen wurden. Ich bin also auf der andern Seite der besagten Militäranlage.

Fontanaliri ist im übrigen auch – das lese ich überall – der Geburtsort von Maestranni.

Von Arce aus suche ich wieder Nebenstraßen. Sie führen durch Wälder und leider nicht in der gewünschten Richtung. Aber ich komme ohne Mühe ins hohe fis hinauf. (Ich habe von einem meiner Schüler eine zwei Zentimeter lange Maulorgel geschenkt bekommen, mit der ich mir die lange Zeit in Italien vertreiben soll. An ihr kann ich Maß nehmen für meine Tonhöhen.)

An einer Bar – endlich, bei der Hitze! – geben sie mir den Rat, auf die andere Seite der Hauptstraße, die hier ‚Casalina’ heißt, hinüber zu wechseln. Das lohnt sich.

Bei der nächsten Bar spreche ich mit zwei Carabinieris. Wie kann man in Italien ein Auto mieten? Denn in einigen Tagen erwarte ich Verena für eine Woche, und ich überlege mir schon die ganze Zeit, was wir dann unternehmen wollen. Sie geben mir eine Adresse von Avis in Cassino an.

Im Lauf des Nachmittags wird es noch heißer. Alles ist ausgestorben. Ich bin der einzige Mensch auf der Welt. Zudem ist mir das Wasser ausgegangen. Bei einem einsamen Haus klopfe ich an die Türe, an den Fensterladen. Nach einiger Zeit ruft jemand. Ich rufe auch etwas, auf deutsch. Dann geht irgendwann ein Fensterladen auf. Es hat gedauert. Sie mussten erwachen. Aber jetzt sind sie sehr freundlich und gesprächig.

Nun habe ich Wasser, und somit fehlt mir nichts dazu, dass auch ich jetzt Siesta mache. Bei einem Teich, im Schatten hoher Bäume, schlafe ich ein Stündchen und warte auf kühlere Abendstunden.

Der weitere Weg ist eine breite, aber fast leere Straße bis Piedimonte San Germano. Es wären noch 6 km auf der Casalina bis Cassino. Aber es findet sich, dank einer guten Auskunft von zwei jungen Männern, ein gemächliches Sträßchen am Rand der Ebene, immer dem Abhang entlang. Um halb neun komme ich in Cassino an und finde im Hotel Alba ein schönes Zimmer und draußen auf der Terrasse, im eindunkelnden Abend, ein vorzügliches Nachtessen.

64 Monte Cassino

Im Frühstückszimmer sitzt am übernächsten Tisch eine Dame. Nach kurzer Zeit sagt sie: Do you speak english? Sie ist aus Neuseeland und ist mit ihrer Familie hier auf Reisen. Sie machen Wanderungen in Italien, und sie schwärmt von Wanderwegen in Neuseeland. Da müssen Sie auch einmal vorbei kommen, sagt sie. Sie sind aber auch hier in Cassino, um den neuseeländischen Soldatenfriedhof zu besuchen. Es gibt auch einen polnischen und einen englischen und einen amerikanischen Soldatenfriedhof in der Umgebung. Stadt der Militärfriedhöfe.

Nach einiger Zeit kommt dann nach und nach der Rest ihrer Familie zum Frühstück, samt Schwiegertochter und Enkelkind.

Der Tag, der vor mir liegt, ist ein Sonntag. Ich will mich um ein Mietauto oder einen Roller kümmern, für die Tage, die Verena mit mir verbringt. Es ist schwierig. Das Hotel kann mir nicht weiter helfen. Die von den Carabinieri angegebene Adresse liegt weit draußen im Vorort. Die Büros sind alle geschlossen. Ich entschließe mich, das Geschäft aufzusuchen: manchmal lässt sich am Ort selber mehr ausrichten.

Das Fortkommen als Fußgänger in dieser vom Auto dominierten Welt ist eine mühselige Sache. Lärm, Gestank, ständiges Wechseln der Straßenseite, vielfach fehlende Hausnummern und Straßenschilder. Ich finde das Büro nicht.

So entschließe ich mich, Montecassino zu besuchen, und kehre ins Hotel zurück. Einen Mann auf der Straße in meinem Alter frage ich, ob es einen Fußweg hinauf auf den Berg gebe. Ja, sagt er, als Buben sind wir jeweils dort hinauf gestiegen. Und er sagt mir, wie ich ihn vielleicht finden könnte. Die Straße führt in einer kilometerweiten Zickzacklinie, in mäßiger Steigung, in die Höhe. Das sehe ich auf dem Stadtplan, aber ich kann es auch von Auge erkennen, wenn ich hinauf schaue.

Im Hotel höre ich, wie ein Gast, ein Deutscher, sich erkundigt, ob es einen Fußweg hinauf nach Montecassino gebe. Nein, ist die Antwort.

Es ist ein heißer Tag. Ich nehme nur das Nötigste mit und mache mich auf den Weg. Gehen ohne Gepäck, es ist wie Spazieren. Zunächst, im Gebiet der Wohnhäuser am Abhang, gibt es nichts anderes als die Straße. Immer wieder versuche ich die abzweigenden Wege aus, aber alle führen nur zu einem Gartentor oder hören im Dickicht auf.

Endlich, bei einer der scharfen Kehren, beginnt ein Fahrweg und geht den Berg hoch. Ein Haus steht verlassen mitten in einem Gestrüpp, das einmal Garten gewesen ist, und dann verändert sich mein Weg: er wird schmaler, aber er ist mit flachen Steinplatten gepflästert. Zu beiden Seiten wuchert das Gewächs herein. Es findet vor allem dort Grund, wo sich die Steinplatten verschoben haben. Da nimmt es sich seinen Raum, so dass ich kaum durchkomme. Dann wieder liegt der Weg schön vor mir.

Weiter oben ist er beim Bau der Straße zerschnitten und unterbrochen worden. Ich muss lange suchen, bis ich auf der andern Seite der Straße seine Fortsetzung finde. Aber ich komme dennoch weiter und überquere die Straße mehrmals. Einmal gelingt es mir nicht, aber weil ich von der Straße aus, nicht weit über mir, bereits wieder das nächste Teilstück dieses Zickzackweges sehen kann, versuche ich, durchs Gestrüpp hochzuklettern, und dabei bekomme ich zu spüren, wie mühsam es ist ohne einen gebahnten Weg. Es ist fast kein Durchkommen.

Im letzten Stück treffe ich wieder auf meinen Weg. Er ist aber fast völlig eingewachsen und stößt zuletzt auf ein Drahtgeflecht. Davon will ich mich aber nicht aufhalten lassen und steige darüber. Ich komme auf eine breite Straße, die in der Art gepflästert ist wie mein Fußweg. Vielleicht stammt sie noch aus der Römerzeit, denke ich. Ich folge ihr, bis sie sich bei einem steilen Bord verliert. Oben sehe ich ein Eisengeländer: dort fängt der Parkplatz des Klosters an. Durch Brennnesseln und Brombeerranken kämpfe ich mich Schritt um Schritt in die Höhe und stehe dann mit zerkratzten Beinen beim Besucherparkplatz, wo zwei Wächter den Verkehr regeln und die Autos einweisen. Aber ich stehe außerhalb des Geländers. Eine kurze Weile stehe ich dort, immer noch vom Gebüsch verdeckt, und überlege, was ich jetzt tun soll. Es gibt nichts anderes. Ich klimme an den Eisenstäben hoch, setze vorsichtig meine Füße zwischen die scharfen Spitzen und lasse mich dann auf der inneren Seite hinab gleiten. Die beiden Wächter nehmen mich nicht zur Kenntnis. Offenbar ist dieser Fall in ihrem Pflichtenheft nicht vorgesehen.

Ich bin völlig verschwitzt. In der öffentlichen Toilette wasche ich mich gründlich. Die Socken fliegen in den Abfallkübel. Dann trete ich fit und frisch wieder ins Freie.

Montecassino ist eines der wichtigsten Benediktinerklöster. Das Mutterkloster des abendländischen Mönchstums, 529 von Benedikt von Nursia gegründet, sagt mein Lexikon. Ich reihe mich in den Besucherstrom ein und schreite auf die breite Treppe zu. Dort aber werde ich bestimmt und unerbittlich von einem Uniformierten zurückgehalten und weggeschickt, mit Hinweis auf meine Shorts. Wenigstens kann er mir sagen, wo der Ausgang aus diesem riesigen Parkplatz ist.

Wütend gehe ich die Straße hinab. Der einzige Besucher, der da hinauf nicht gekarrt, sondern gepilgert ist, wird abgewiesen. Was für eine verschrobene Welt. Und einmal mehr kann ich über diese Kirche nur den Kopf schütteln. Denn über die modischen Gepflogenheiten im Palästina zu Jesu Zeiten dürften zuverläßige Kenntnisse fehlen.

Da kommt mir ein alter Benediktiner auf der Straße entgegen. Ihn spreche ich an und fasse mein Befremden in Worte. Ich spreche auch mein Bedauern darüber aus, dass ein historischer Weg zu diesem geschichtsträchtigen Ort in so armseliger Weise vernachläßigt wird, und das von einem Orden, der in der Nachfolge Jesu stehen wolle, und Jesus sei doch ein Fußgänger gewesen. Auch wenn meine Klage alles andere als eloquent ausfällt, der Mönch versteht mich, und er gibt mir recht. Er spricht von der Mauer, neben der wir stehen, und die aus der Zeit der Italer stamme, als noch nicht die Römer hier das Sagen hatten. Er erzählt mir, wie er als Junge die Bombardierungen von 1944 erlebt hat, jene Schlacht, die in den sechs Monaten ihrer Dauer Hunderttausenden von Menschen das Leben gekostet hat; die das ganze Kloster dem Erdboden gleichgemacht hätten – und sehen Sie hier, die 'muri ciclopi' stehen noch. Auch ihn schmerzt es, dass die reichen Zeugen der Vergangenheit nicht die richtige Beachtung haben.

Was aber meine Wut darüber, dass man mir den Zugang verweigert hat, anbelangt, so zitiert er mir die Regel des Benedikt, dass die Beine bekleidet sein sollen. Punkt. In diesem Fall gelten Argumente gar nichts und nur die Autorität der Überlieferung. Status ante Renaissance. Dennoch, das Gespräch mit dem alten Herrn hat mir gut getan. Es wiegt mir das ganze Montecassino auf. Der Gang da hinauf hat sich gelohnt.

Nun steht mir die Rückkehr in die Stadt hinunter noch bevor. Nicht nur der befestigte Berg rund um dieses Kloster wurde zusammengebombt, auch die ganze Stadt Cassino war darnach eine einzige Steinwüste, und wenn man heute, sechzig Jahre später, von da oben hinab blickt, so sieht es aus, wie wenn ein Zauberer mit magnetischen Riesenfingern einfach nur diese Trümmer in die Höhe gezogen und notdürftig wieder aufgestellt hätte. Eine amorphe Masse.

Acht Kilometer misst der Weg auf der Straße bis in die Stadt hinunter, fast zwei Stunden. Dort wo vom polnischen Friedhof her eine Straße einmündet, stehe ich und winke dem nächsten Auto. Ein Landrover, von einem Fischer gefahren, auf der Heimkehr nach gehabtem Sonntagsvergnügen, hält an. Ich kann mitfahren.

Im Hotel angekommen, schreibe ich den folgenden Brief:

Cassino

13. Juni 2004

Sehr geehrte Herren

Ich bin heute Nachmittag – nachdem ich während zwei Monaten von zu Hause aus (Marthalen, Kanton Zürich, Schweiz) zu Fuß nach Cassino gepilgert bin – nach Monte Cassino hinauf gestiegen. Ich suchte dabei nach einem Fußweg. Denn die Autostraße, diese 8 km lange Piste oder Rampe, ist eine Zumutung für einen Fußgänger. Und es fand sich, wenn auch mit viel Mühe, ein Fußweg. Zweifellos wissen Sie um seine Existenz. Dennoch lege ich Ihnen einen Plan bei, in dem ich die gefundenen Wegstücke einzeichne… Der völlig überwucherte Weg muss einmal ein gepflegter Weg mit Steinplatten gewesen sein.

In den Beschreibungen von Monte Cassino lese ich, dass Sie den Grundsätzen von St. Benedikt verpflichtet sind. Gerade darum kann ich es nicht verstehen, dass Sie die Pflege dieses Fußweges derart vernachläßigen. In einer Welt, die so sehr vom Automobil dominiert ist, dass die Menschen körperlich und seelisch degenerieren, weil sie sich nur noch in sitzender Form weiterbewegen, wäre es dringend notwendig (not-wendig), die meditative Kraft, die in der Bewegung des Gehens liegt, und ganz besonders des Aufstiegs zu einem so kulturträchtigen Ort, wieder neu zu beleben. Da fahren Kolonnen von Vehikeln auf diesen Berg, lassen sich Gruppen kollektiv die Sehenswürdigkeiten erklären, und der Fußweg, der eine echte Annäherung ermöglichte, wird von Brombeeren überwuchert und verwildert.

Ich bin, fast zu oberst, neben dem exponierten Kruzifix, auf eine alte Straße gestoßen: sie muss aus römischer oder noch älterer Zeit stammen. Bald ist nichts mehr von ihr zu sehen, wenn nichts gegen das Einwachsen unternommen wird.

Nach allem, was ich von den Ordensgründern (St. Benedikt, St. Franziskus, Kolumban) weiß, waren sie vom Weg erfüllte Fußgänger – und man darf sicher auch sagen, in wahrer Nachfolge von Jesus.

Heute Morgen hörte ich einen Hotelgast an der Réception fragen: Gibt es einen Fußweg hinauf nach Monte Cassino? Glauben Sie mir: es gibt Menschen, die die Möglichkeit wahrnehmen würden, sich dem Werk, dem Sie verpflichtet sind, zu Fuß (das heißt im ‚passo d’uomo’) anzunähern.

Wie weit Sie im übrigen die von Benedikt von Nursia begründete Kultur weiter pflegen, konnte ich leider nicht sehen. Denn mir, dem Fußgänger (der zu oberst sogar, ähnlich einem Zacharias, über das Geländer klettern musste, weil es keinen andern Zugang gibt), mir wurde dann der Zugang zu den Klosteranlagen verwehrt, weil meine Hosen zehn Zentimeter zu wenig lang waren. Die Hosenlänge von St. Benedikt dürfte eher der meinigen als der der andern Besucher entsprochen haben.

Ein Gespräch mit einem sehr freundlichen Pater auf dem Abstieg entschädigte mich vollständig für die entgangenen kulturellen Genüsse. Ihre Antwort, um die ich sehr bitte (und ich verstehe genügend italienisch), mögen Sie an meine Heimatadresse senden.

Mit freundlichen Grüßen

Alfred Vogel

An der Réception tun sie mir jeden Gefallen: sie machen mir eine Fotokopie meines Briefes und verhelfen mir zu Briefumschlag und Briefmarke. Sie geben mir auch die richtige Postadresse für mein Anliegen. Also wird mein Schreiben zum Versand fertig gemacht, damit ich es morgen vor der Weiterreise einwerfen kann. Ich bin ja gespannt auf die Antwort der hohen Herren.

Nach einem vorzüglichen Abendessen draußen auf der Terrasse, im eindämmernden Licht, sehe ich an einem der Tische im Speisesaal jenen deutschen Gast, der sich am Morgen nach einem Fußweg nach Montecassino erkundigt hatte. Ich spreche ihn darauf an. Er hat den Weg auch gefunden, ist allerdings im obersten Stück anders gegangen als ich und ist schließlich beim polnischen Friedhof angekommen, ebenfalls an einem Drahtzaun. Er hat den Weg von einer Begehung in früheren Jahren gekannt, hat aber auch Mühe gehabt, ihn wieder zu finden.

Meine mühsame Suche nach einem Mietfahrzeug ist hinfällig geworden. Ich habe Verena vorgeschlagen, dass ich ein Stück weit zurück reise, ihr entgegen, und dass wir einige Tage im schönsten Hotel verbringen, das ich auf meiner bisherigen Wanderung kennen gelernt habe. Morgen ist es so weit. Sie kommt um die Mittagszeit in Frosinone an.

65 Wieder in Véroli

Um acht fährt mein Zug von Cassino zurück nach Frosinone. Ich habe auf den Abend ein Zimmer im Palazzo Filonardi bestellt. Das ging nicht so einfach, wie ich mir dachte. Man sagte mir, das Hotel sei einige Tage geschlossen. Als ich aber erzählte, ich sei vor kurzem dort gewesen und wolle nun meiner Frau das Hotel zeigen, machte es die junge Dame am andern Ende der Leitung möglich und reservierte uns ein Zimmer.

Ich komme wieder in diesem Bahnhof an, der mir durch jene geisterhafte Ankunft vor 18 Jahren unvergesslich ist, weil ich damals völlig ahnungslos war, wo ich mich befand, und mich einfach mit dem mir unbekannten Namen ‚Casamari’ durchfragte.

Ich habe noch drei Stunden vor mir, bis Verenas Zug eintrifft. Zunächst will ich versuchen, in dieser Provinzhauptstadt genauere Karten zu erwerben. Wo ist überhaupt die Stadt, das Zentrum, das Geschäftsviertel?

Ich fahre mit dem städtischen Bus ‚in die Stadt’. Überall Häuser, aber wo ist die Gegend, wo ich eine Buchhandlung finde? Ich steige aus, ich suche eine Bar, ich trinke einen Aperitif und lege dann dem Mann mein Anliegen vor. Warten Sie, sagt er, bald kommen meine Freunde vom Forstamt hier zum Kaffee vorbei, die können Ihnen helfen.

Sie kommen aber nicht, und so gibt er mir seine Visitenkarte mit und schickt mich ins Forstamt, zwei Straßen weiter. Dort frage ich mich durch. Der ‚Freund’ ist gerade nicht da, aber ein anderer hört sich an, was ich will. Verschiedene Leute bemühen sich redlich, aber ich muss feststellen: auch das Forstamt der Provinz Frosinone hat keine genauen Karten greifbar. Zuletzt machen sie mir eine Fotokopie von einer Kopie von einem kleinen Gebietszipfel im Süden von Cassino, das mir vielleicht in ein paar Tagen weiterhilft, wenn ich dort meine Reise fortsetze.

Die alte Stadt Frosinone, merke ich jetzt, liegt nicht da, wo ich aus dem Bus gestiegen, sondern oben auf dem Berg. Die gesuchte Karte habe ich eigentlich immer noch nicht gefunden. Und einen allgemeinen Eindruck von der Stadt möchte ich mir doch auch noch verschaffen, in der verbleibenden Zeit. Es gelingt mir, ein Taxi zu ergattern. Ich lasse mich durch die Stadt führen und die vorbeischwebenden Sehenswürdigkeiten erklären, in einem eigenartigen Englisch – es bringt mir eigentlich gar nichts – und dann zum Bahnhof zurückbringen.

Um 11:50 Uhr soll Verena ankommen. Der Zug kommt an, aber irgendetwas hat nicht geklappt, sie steigt nirgends aus. Was nun? In diesem Moment tritt sie hinter einer Säule hervor und lacht mich an. Da hätten wir uns also wieder.

Mit dem nächsten Bus fahren wir hinauf nach Véroli, gehen zum Palazzo Filonardi und bekommen ein helles, geräumiges Zimmer zugewiesen, mit Balkon, gegen Osten ausgerichtet. Ich habe es getroffen: auch Verena genießt das Hotel, die Aussicht, die Stadt.

Gegen Abend Rundgang. Aufstieg zum Kirchlein San Leucio, das diesmal geschlossen ist. Aber wir treffen Antonio wieder, und er organisiert uns die Schlüssel.

Das Hotelrestaurant ist an diesem Abend geschlossen, wir müssen uns daher einen andern Ort zum Nachtessen suchen. Unten im andern Hotel, im ‚Miravalle’, bekommen wir ein recht durchschnittliches Mahl. Im übrigen ist die ganze Belegschaft samt Kundschaft mit dem am Fernsehen übertragenen Länderspiel absorbiert.

Abendspaziergang hinauf in die Stadt.

66 Alatri zum zweiten Mal

Tu Deinem Leib etwas Gutes,
damit die Seele Lust hat,
darin zu wohnen.

Frühstück wiederum auf der schönen Terrasse mit Blick in die Weite.

Dann wandern wir auf dem Weg, den ich vor einigen Tagen gemacht habe, zurück nach Alatri, über die Pferdeweide, wo ich mich an jenem Abend irrend herumgetrieben habe. Das schmale Weglein, das wir vor Jahren schon mit den Kindern und dem Hund Fiuggi gegangen sind, geht durch eine blühende Blumenpracht. Den Abstieg aber zum Kloster San Sebastian finde ich nicht mehr, und sicherheitshalber nehmen wir die Fahrstraße. Schade.

Alatri ist auch zum zweiten Mal eine schöne Stadt. Akropolis, muri ciclopi. Diesmal ist die Kirche an der Piazza offen: Santa Maria Maggiore. Wirklich lohnend. Ich gebe ihr drei Sterne. Sie klingt auch gut. Essen in einem Lokal namens ‚Gallo nero’, einem Kellergewölbe. Rückfahrt mit dem Bus über Frosinone.

Im Bahnhof Frosinone am Schalter wollen wir Plätze vorbestellen für Verenas Rückfahrt: Couchette von Rom bis Zürich. Der Mann am Computer müht sich ab, sein Kollege vom andern Schalter kommt ihm zu Hilfe, uns scheint, sie machen diesen Geschäftsgang zum ersten Mal, und das Ergebnis ist immerzu: Kein Platz mehr frei. Wir können es nicht glauben; im Hinweg war es für Verena ein Leichtes, und sie konnte erst noch unter mehreren Möglichkeiten auswählen. Es ist nicht Hauptreisezeit, es ist nicht Wochenende. Wir glauben es nicht. Aber da ist nichts zu machen.

Abends essen wir im Lichthof des Hotels. Die Küche ist wirklich vorzüglich, aber viel zu fettig und schwer für Verenas Geschmack.

67 Fontana fratta

Ausschlafen, ausgiebiges Frühstück. Wir sind die einzigen Gäste. Nur für uns ist das ganze Personal aufgeboten.

Flötenspiel in der Hotelkapelle. Ganz für mich allein.

Um elf fahren wir mit dem Bus Richtung Sora hinaus bis Fontana fratta. Der Chauffeur lässt uns auf freiem Feld aussteigen, auf dem höchsten Punkt. Wir finden einen Weg von der Straße ab. Wir stoßen auf einen Bauernhof. Der Bauer zeigt uns Scheune und Stall, die er vor einigen Jahren selber erstellt hat. Zur Zeit hat er die Kühe weiter oben in den Hügeln. Er hat soeben die Milch geholt: zwei Pferde haben die Milchkannen da hinunter getragen. Der Stall, der jetzt leer steht, sei im Winter voll. Ums Haus herum lagern 200 Ballen Heu.

Dem Hügel entlang wandern wir durch die Wälder und auch über offenes Feld, an mehreren Dörfern vorbei, zurück nach Véroli. Hohe Bäume säumen das Sträßchen und geben uns Schatten. Einmal ein Laden, eine Bar. Zwischenverpflegung.

Um sechs sind wir zurück im Hotel. Es war ein langer, gemächlicher Spaziergang.

Ich fahre allein nochmals nach Frosinone mit dem Bus und will es wegen der Reservation noch einmal wissen. Unterdessen habe ich mit Johannes telefoniert, er hat sich im Internet erkundigt: es ist undenkbar, dass es keine Plätze mehr geben soll.

Und tatsächlich. Am Schalter bestehe ich diesmal darauf: es hat noch Plätze. Und so ist es auch. Diesmal gelingt’s. Der Mann hat zu viele Kriterien in die Suche eingegeben, und so kam eben die Antwort ‚keine Plätze verfügbar’.

Nachtessen im Hotel. Verena sprengt es fast den Bauch. Wir müssen uns für die Zukunft nach leichterer Kost umsehen.

68 Ferentino

Heute regnet es. Frühstück drinnen. Flötenspiel in der Hotelkapelle.

Busfahrt über Frosinone nach Ferentino. Dort drei (!) bedeutende Kirchen:

Tore im Zyklopenmauerwerk. Leichter Fieselregen. Gang durch die Stadt, viel Auf und Ab.

Busreise zurück.

69 Trisulti

Schon mehrmals ist mir der Name Trisulti genannt worden. Ein Kloster, das man gesehen haben muss. Nur dass uns niemand sagen kann, wie man dorthin gelangt. Alle Touristen haben ein Auto, nur wir nicht.

Nach dem Frühstück lassen wir uns ein Taxi kommen und uns damit nach Civita fahren. (Später stellen wir fest, dass es auch, einmal am Tag, einen Bus gegeben hätte.)

Weit hinein in die hügelige Landschaft führt die Straße. Es ist vom bequemen Sitz aus im Fond des Wagens wirklich kaum vorstellbar, dass wir das alles hätten gehen können. Aber nach dem Kilometerstand zu berechnen wäre es eine Sache von zwei Stunden gewesen, also gut zu machen an einem sonnigen Vormittag.

Das letzte Stück machen wir zu Fuß, obwohl uns der Fahrer warnt, das sei noch sehr weit. Es geht hinab in die Schlucht, teilweise auf rutschigen Abkürzungen, zu einem ursprünglichen, rauschenden Flüsschen, und auf der anderen Seite wieder den Wald hinauf. Um Viertel nach zwölf stehen wir vor dem Kloster, dessen Türme wir schon längere Zeit haben aus den Tannen ragen sehen, und können am Anschlagbrett lesen, dass es von 12 bis 15:30 Uhr geschlossen ist.

Gut, ein wenig abseits, auf einer flachen Wiese, im Schatten eines riesigen Baumes, breiten wir uns für die Siesta aus. Wir genießen die Kühle, die Stille, die lange Zeit. Was sind schon drei Stunden, wenn man zu lesen hat, wenn man eine Flöte dabei hat.

Besichtigung der Abtei. Kräutergarten mit Buchseinfassungen. Kirche in einem unbestimmten Stil, seltsam, eindrücklich. Wir sind sieben Leute (auch mein deutscher Rucksackfreund von Cassino ist wieder da), die vom wortgewaltigen Zisterzienserpater mit Gebet eingestimmt, mit Erklärungen versehen und mit Anekdoten eingedeckt werden. Bemerkenswert ist auch die alte Apotheke mit lustigen heidnischen und weltlichen Bebildereien an der Wand.

Dann Abstieg gegen Collebardo hinunter, auf Wanderwegen. Straße durch Ginsterlandschaft. Ein Stück weit werden wir mitgenommen von zwei Leuten, die mit uns zusammen an der Führung teilgenommen haben. Der deutsche Wanderer ist auch auf dem Weg, lehnt es aber ab, zuzusteigen.

In Collebardo, einem schönen Städtchen auf halber Höhe, können wir endlich unseren Hunger stillen und kaufen prompt zu viel ein. Essen am Dorfausgang auf einem Mäuerchen. Dann weitläufiger Abstieg auf der kurvenreichen, aber verkehrsfreien Straße.

Unten im Tal angekommen, sehen wir rechts oben Alatri von hinten: die Totenstadt, nämlich ein ausgedehntes Friedhofsgelände. Es wäre wohl noch eine Stunde auf der Straße zu gehen bis dorthin, und dann könnten wir mit dem Bus, wiederum über Frosinone, zurück ins Hotel fahren. Andererseits sehen wir links oben den Pass, hinter dem sich Véroli befinden muss. Es ist erst sieben Uhr, und Verena drängt darauf, dass wir zu Fuß heimkehren. Ich rechne mit drei Stunden für diesen Weg, auch wenn es nicht so weit aussieht. Also gut, gehen wir zu Fuß. Vielleicht kann uns auch jemand ein Stück weit mitnehmen.

Ein zweites Mal komme ich an San Sebastian vorbei, und wir wollen diesmal den richtigen Weg finden und wieder über das schmale Weglein hoch über der Ebene heimkehren. Glänzender Sonnenuntergang.

Das kleine Weglein lässt sich aber nicht auf Anhieb finden. Und ich weiß, wie schnell es dunkel wird, nachdem die Sonne nicht mehr scheint. Wir kehren daher auf die Straße zurück. Es will und will nicht werden, bis wir auf der Passhöhe anlangen. Aber Verena hat eine unbändige Energie, ich weiß nicht, wo sie die hernimmt. Um halb zehn – es ist Nacht geworden – sind wir dann im ‚Montevalli’ zum Nachtessen. Um Viertel nach elf kommen wir im Zimmer an und sinken todmüde ins Bett.

70 Abreise

Das ist unser letzter gemeinsamer Tag. Am Abend und in der Nacht reist Verena in die Schweiz zurück.

Wir lassen den Tag untätig vorübergehen. Wir schlafen lange, geben uns ausgiebig dem Frühstück hin, zahlen die Hotelrechnung (sie fällt mit € 550.—mäßig aus) und begeben uns dann, oberhalb an der Stadt, auf dem Hügel bei San Leucio, zu einem Schattenplätzchen. Da liegen wir, hören auf das Zirpen, verschieben uns zusammen mit dem Schatten und ziehen die Zeit in die Länge.

Um vier fährt der Bus von Véroli mit uns ab, und in Frosinone nehmen wir wieder Abschied für ein paar Wochen. Mit dem Handy (falls alle die Bedingungen erfüllt sind) haben wir Verbindung miteinander.

Eine halbe Stunde, nachdem sie weggefahren ist, fährt auch mein Zug, in der entgegengesetzten Richtung, zurück nach Cassino.

Nun kommt die Kopie aus dem Forstamt zum Zug. Aber die Straßen stimmen nicht mehr mit dem Kartenbild überein. Cassino ist gewachsen. Am Rand der Stadt sind riesige Industriekomplexe entstanden. Mauern, Zutrittsverbote, automatische Tore.

Es beginnt bald zu dunkeln. Ich möchte noch so weit kommen, dass ich die große Autobahn, die ,Strada del Sole’, überquert habe. Ich gehe auf der linken Seite, wie es sich gehört, damit ich die Autos, die mir entgegenkommen, im Blick habe. Eine halbe Stunde will ich so noch gehen und mich dann seitwärts ins Grüne schlagen und meinen Schlafsack auspacken.

Da winkt mir einer, der am andern Straßenrand seinen kleinen Fiat angehalten hat. Was tust du da?, fragt er. Woher, wohin, wozu? Er will alles wissen. Vielleicht hätte ich in einem andern Fall gefragt, was ihn das angehe, aber jetzt nehme ich jede Gelegenheit wahr, mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Allein sein und mich meinen Gedanken hingeben kann ich genug. Schließlich fragt er, wo ich denn schlafe, und als ich sage, ich wisse es noch nicht, sagt er: Steig ein. Du kommst jetzt zu mir nach Hause.

Giuseppe ist sein Name. Er fährt einige Kilometer, steigt mit mir unterwegs am Fluss bei einer Gedenkstätte aus, die vor zwei Monaten eingeweiht worden ist: Hier fand vor genau sechzig Jahren jene denkwürdige Schlacht statt zwischen den vorrückenden Alliierten und den Deutschen, die sich auf Montecassino eingegraben und an dieser dominanten Stelle für den Widerstand eingerichtet hatten. Immer wieder und von verschiedensten Seiten ist mir in diesen Tagen dieses grauenvolle Morden und Zerstören begegnet.

Dann fährt er mich in sein Dorf, nach Sant’Angelo in Theodice, zum Haus seiner Eltern, wo er wohnt. Er stellt mich ihnen vor, zeigt mir eine Kammer mit einem Bett, wo ich schlafen, und das Badezimmer, wo ich duschen kann, und sagt, dass er mich anschließend zu einem Geburtstagsfest mitnehme, wo das ganze Dorf eingeladen sei. Einer der Bauern feiere seinen Fünfzigsten.

Giuseppes Vater ist Bauer und pflanzt Mais an, nichts anderes als Futtermais. An der Wand in der Stube hängen Fotos. Wir kommen auf seine Jugendzeit zu sprechen und damit auch auf die ‚vier Schlachten’, nämlich die sechs Monate Kampf um die ‚Linie Gustav’. Er hat als Sechzehnjähriger damals bei den Alliierten in der Küche geholfen. Er hat gesehen, wie die Leichen seiner englischen und amerikanischen Kameraden im Fluss angeschwommen kamen. Sie waren den Deutschen ins Maschinengewehrfeuer gelaufen.

Dann gehen wir in eines der Nachbarhäuser ans Fest. Der Jubilar heißt auch Giuseppe. Er ist Schweinemäster. Er hat vor seinem Haus mehrere Festtische aufgestellt. In der Scheune ist das Buffet. Mein Gastgeber nimmt mich ins Schlepptau, stellt mich, der von der Schweiz aus bis hierher zu Fuß gekommen sei, der Gesellschaft vor, und ich bin eine Zeitlang im Zentrum des Interesses. Aber auch das gibt sich. Dann gibt es vom Buffet Antipasti von allen Sorten, Salate, es gibt Pasta und Braten, es gibt Dessert, und – wenn ich hier vorgreifen darf – am Schluss wird jedem zum Abschied noch ein eingepacktes Panino mit Schinken aus hauseigener Produktion in die Hand gedrückt.

Ich sitze also mitten unter den Männern an einem Tisch. Die Frauen stehen anderswo zusammen und die jungen Mädchen wieder an einer andern Ecke. Um mich herum wird heftig parliert, gestikuliert, gelacht und repliziert, aber alles in einer Mundart, von der ich kaum was verstehe. Sobald sie aber das Wort an mich richten, sprechen sie italienisch. Auch dann komme ich nicht umhin, manchmal zu Dingen zu nicken, die ich nicht verstanden habe.

Mein Sitznachbar erzählt mir einen Witz, und ich schreibe ihn hier auf, weil ich ganz stolz bin, dass ich ihn erfasst habe:

Sagt einer: Nenn mir drei Tiere, die ganz winzige Böppeli scheißen. „Ziege, Vögelchen, Mücke.“ Und nun drei Tiere, die große Haufen scheißen. „Kuh, Pferd, Elefant.“ Und nun nenn mir einen berühmten chinesischen Psychologen. „Weiß ich nicht.“ Habe ich mir gedacht, dass man mit dir bloß reden kann über Scheißdreck.

Um Mitternacht kehren wir nach Hause zurück. Die Nacht ist angenehm kühl, keineswegs kalt. In der Stube sitzen wir noch eine Weile zusammen, auch mit Giuseppes Eltern.

71 Ans Meer

Giuseppe lässt es sich am andern Morgen nicht nehmen, mir ein anständiges Frühstück zu bieten. Dazu fährt er mich im Nachbardorf zu einer Bar. Da gibt’s für ihn und für mich einen Cappuccino und eine Brioche. Keine Frage, das nimmt man.

Dann macht er sich auf den Weg zu einem Freund am Meer und will mich gleich mitnehmen. Und er kann es nur schwer verstehen, dass ich sein Angebot ablehne, dass ich mich beim nächsten Dorf absetzen lasse und zu Fuß weitergehen will. Das ist in Sant’Apollinare.

Es gibt einen Tag vieler Schritte. Zunächst folgt die Straße dem Fluss, der das Wasser dieser ganzen Ebene ins Meer leitet. Mehr und mehr verbreitert sich die Straße. Die Ruine eines Hotelkastens einmal am Rand. Ein Schwimmbad mit gutem Zuspruch. Mehrere Hotels bei einer Schwefelquelle, die offenbar einmal große Konjunktur gehabt hat. Nach einigen Stunden wechsle ich bei einer Brücke auf die andere Flussseite, in der Hoffnung auf weniger Verkehr. Dann nehme ich die Abzweigung hinauf auf die Hügel, komme durch große Obst- und Rebkulturen und erlabe mich an richtig süßen Aprikosen. Weithin klingt Blasmusik. Da oben im Dorf muss ein Fest sein. In der Hoffnung, noch etwas vom Auftritt zu sehen, beschleunige ich meine Schritte, und ich werde belohnt: die ‚banda’ spielt immer noch, als ich eine halbe Stunde später ins Dorf einmarschiere. Das gute Dutzend Musikanten, auch junge Frauen sind dabei, marschiert durch die Gassen, hinter sich herziehend die Honoratioren des Dorfes in feierlichem kirchlichem Gewand, dazu den Priester, und dann tragen einige junge Männer den hölzernen Heiligen auf einem Gestell, und die Frauen und kleinen Mädchen werfen vom ersten Stock Blumen auf ihn herab. Das Ganze eher ungezwungen, ohne rechten Ernst oder rechte Freudigkeit, eher mit einer gelassenen Routine.

Ich schließe mich dem Zug an, und als es bei der Bar einen Halt gibt, frage ich einen jungen Mann nach der Bewandtnis des Anlasses. Es handelt sich um den Jahrestag des heiligen Sant’Antonio von Padua, und es ist die eine von zwei jährlichen Prozessionen in diesem Dorf; die andere ist dem Kirchenpatron gewidmet.

Gestärkt nicht vom Heiligen, sondern von der Bar, ziehe ich weiter. Draußen in den Olivenhügeln, durch die meine Straße in vielen Kurven, aber unterdessen auf gleicher Höhe verbleibend, geht, stehen vereinzelte Leute am Straßenrand, wie wenn sie auf etwas warteten. Ich lasse mich nicht aufhalten. Plötzlich ein lauter Knall in der Luft, wie ein Böllerschuss. Später noch einer. Und dann in immer engerer Kadenz beginnt ein Geböller und Geknalle, und im blauen Himmel hinter mir ziehen weiße Wölklein davon. Eine halbe Stunde lang feiert der ganze Hang samt dem Himmel darüber seinen Heiligen.

Das wär’s wieder einmal gewesen für ein Jahr. Ich bin längst weiter gezogen. Aber jetzt wird’s für mich Zeit für eine längere Ruhepause. Oberhalb der Straße suche ich mir, im Schatten eines Baumes, ein Plätzchen in hohen Blumen, mache es mir bequem und schlafe ein halbes Stündchen.

Plötzlich läutet in meinem Rucksack das Telefonino. „Ist da der Kaiser von China?“ Franz und Edith erkundigen sich nach meinem Wohlergehen, wollen hören von meiner Reise… und überhaupt. Ja, das wärmt mir das Herz.

Unterdessen ist die größte Hitze vorüber. Aber es bleibt heiß, und ich bin schon lange auf den Beinen. Jede Stunde ein Dorf, jedes mit einer Bar, zu meinem Glück. Nach der Stadt Sessa wird es langsam kühler. Ich möchte eigentlich an diesem Abend am Meer schlafen, aber bis dort sind es noch zehn Kilometer. Ich wäre sogar bereit, das letzte Stück per Autostopp hinter mich zu bringen – die diesbezüglichen Versuche scheitern kläglich – oder ein Taxi zu nehmen. In Piedimonte hilft mir die junge Frau an der Bar beim Telefonieren. Aber der einzige Taxiunternehmer, zwanzig Kilometer weit weg, will die Fahrt nicht machen, ohne Sicherheit, dass da wirklich einer steht.

Gut, obwohl die Sonne untergegangen ist, mache ich die zwei Stunden noch zu Fuß. Zu schön ist die Vorstellung, in den Sanddünen zu schlafen und am Morgen mit Blick aufs blaue Meer zu erwachen.

Das letzte Stück ist sehr mühsam. Die Straße ist schmal. Die Autos blenden, und niemand erwartet am Straßenrand diesen dummen Fußgänger. Dann endlich mündet meine Straße in die Via Domiziane, das ist die Hauptstraße, die dem Meer nach bis Neapel führt. Sie ist derart verstopft, dass ich zu Fuß schneller bin als die Fahrzeuge in der stehenden Kolonne.

Nun gibt’s aber am Rand eine Pizzeria, ein großes Abfertigungslokal. Ich bekomme selbst hier eine gute Pasta und ein vorzügliches Stück Lamm. (Es ist nämlich Sonntag.) Einzig der lampige Salat zeugt vom Charakter des Großbetriebs.

Mit Hilfe der Taschenlampe finde ich einen Weg durch die Gemüsebeete, übersteige einen Hag, komme hinaus in die Dünen und finde auch wirklich den erhofften (stillen und weichen) Schlafplatz.

Ich habe heute 30 Kilometer Luftlinie zurückgelegt und bin 13 Stunden gegangen. Es hat sich gelohnt. Ich höre das Meer rauschen.

72 Dem Lido entlang

Draußen das tiefblaue Meer. Gegen den Strand rollen die Wellen und überschlagen sich mit weißen Schaumkrönchen. Im Norden, hinter mir, erheben sich Küstenberge.

Ich lerne das Gehen am Ufer. Im Sand sinke ich bei jedem Schritt ein. Mühsam. Aber auf dem Streifen, der von den auslaufenden Wellen überspült wird und dann wieder im Trockenen liegt, kann ich gehen wie auf einem harten Teppich. Die Schuhe habe ich auf den Rucksack gebunden, die Füße werden im Takt des atmenden Meeres genässt und gekühlt. Wunderbar.

Nach einer Stunde meldet sich der Hunger und die Lust auf einen Cappuccino. Ich gehe auf die Damitiana zurück, auf der vierspurig der Verkehr in die Stadt Mondragone hinein und hinaus braust. Ich bekomme, was alle andern um diese Zeit auch wollen: Kaffee und Cornetti.

Zurück auf einer Querstraße an den Lido und dann stundenlang dem Strand entlang gegen Süden. Die umfassende Ausstellung italienischer Körper ist im Preis inbegriffen.

Fast alle (ein wenig oder ein bisschen viel) zu dick. PizzaPastaDolci. Schon die Kinder sind fast ausnahmslos fettleibig, mit Bäuchen und Ärschen.

Am Nachmittag nähere ich mich, stets am Ufer, der Stadt Castèl Volturno. Die Mündung des Flusses Volturno zwingt mich, den Strand zu verlassen und zur Hauptstraße zurückzukehren, die etwas weiter im Landinnern verlaufen muss. Ich komme durch Quartiere des billigsten Wohnungsbaus. Die Gassen sind nicht vernetzt, immer wieder gerate ich in Stichstraßen hinein, die einfach aufhören. Immer wieder Haufen, ja Berge von nicht entsorgten Abfallsäcken. Und das schmöckt! Neue Gebäude, die bald wieder Ruinen sind. Entsprechend verwahrlost sehen die wenigen Menschen aus, die ich im Freien sehe.

Schon seit Stunden wandere ich auf dem Gemeindegebiet von Castèl Volturno. Ich vermute, dass diese Stadt mit Nachbargemeinden fusioniert hat. Riesengemeinden, die von ihren Aufgaben überfordert sind, scheint es mir; Verwaltungen, welche ganze Teile einfach sich selbst überlassen und andererseits ihre Gelder in Prunkanlagen an der Piazza und am neuen Lido verpflästern.

Bei dieser Gelegenheit wird es mir bewusst, dass ich eigentlich bisher, im ganzen nördlichen Italien, keine solchen Verhältnisse mehr angetroffen habe. Bei meiner Reise vor 18 Jahren waren noch Stinkberge zu sehen, offizielle offene Deponien von Kehrichtsäcken, auf denen Traxe herumfuhren und das Ganze übereinander schichteten, und Feuer motteten, die langsam den Abfall zu stinkendem Rauch und Asche verwandelten; nun steht vor jedem Haus ein Container, der regelmäßig geleert wird. Darf man behaupten, dass Europa und europäische Normen doch eine Wirkung gezeitigt haben?

Ich muss einige Kilometer nordwärts, also rückwärts gehen, weil es keine andere Verbindung zur Hauptstraße gibt.

Kaum bin ich auf der Damitiana über die Brücke gekommen, suche ich wieder den Zugang zum Strand. Und als mir das gelungen ist, geht es stundenlang auf dem ausgelegten Teppich südwärts. Wenn ich zurück blicke, sehe ich weit in der Ferne die blauen Küstengebirge, bei denen ich am Morgen aufgebrochen bin.

Wieder ein Fluss, der Regi Lagni. Es ist Abend geworden. Wieder im Hinterland, an der Straße, bekomme ich ein Zimmer im Albergo Scaletta. Ein 0815-Bau. Jedes Zimmer identisch, alle mit Balkon gegen Westen, mit Blick auf ein bisschen Meer.

Spaziergang dem Fluss nach auf der andern Seite des Flusses nochmals ans Meer. Sonnenuntergang. Zurück und Nachtessen in einer Pizzeria an der Straße.

73 Lido zweiter Teil

Wiederum die Straße: vier Spuren breit, aber unstrukturiert, keine Linien, kein Rand. Die Fußgänger, wenn es einmal welche gibt, bewegen sich auf dem Sandstreifen links oder rechts der Straße (je nach Sonnenstand links oder rechts).

Später will ich wieder dem Meer nach wandern. Aber vorerst will ich frühstücken, will Briefmarken kaufen und einen Briefeinwurf finden. Das gibt es am Strand nicht. Es gibt es auch hier nicht, an diesem mit vielerlei Geschäften gesäumten Verkehrsweg. Occasionsautos gibt es, Topf- und Gartenpflanzen, Hobbygerätschaften, Sport- und Fischereiartikel, Bauteile. Aber für meine elitären Bedürfnisse beispielsweise nach einem Briefumschlag müsste ich in die Stadt. Wo ist die Stadt? Nach meiner Karte bin ich schon längst in der Stadt.

Kaffee und Cornetti bekomme ich. Das andere lasse ich bleiben und gehe wieder auf einer Querstraße zum Lido.

Weiter auf dem Teppich. Links von mir alle Grade von menschlicher Schönheit. Rechts von mir das tiefblaue Meer und darüber die gleißende Sonne.

Einmal zwei ins Meer mündende Kanäle, mit schwarzer Brühe angefüllt, trüben die Freude. Sie müssen auf weitem Umweg umgangen werden.

Danach eine zwei, drei Kilometer lange Uferstrecke mit vereinzelten Männern, die mit eindeutigen Gesten Kontakt aufnehmen. Wie ein merkwürdiger Gespenstertraum.

Ich komme erstaunlich schnell vorwärts. Kein Auf und Ab, keine gewundenen Wege. Schon am Mittag befinde ich mich auf der Höhe von Neapel. Vor mir besiedelte Hügel: das Gebiet des Monte di Prócida, und wenn ich rechts daran vorbei blicke, sehe ich draußen im Meer die gebirgige Insel Prócida (was sie hier wie ‚Proscida’ aussprechen).

Eine Bahnlinie, ihr entlang eine halbe Stunde Asphaltstraße, und dann bin ich bei der Station Torregáteva, die an einer Rundbahnstrecke liegt, welche Neapel mit dieser vorgelagerten Halbinsel verbindet.

Schon von weitem habe ich im Näherkommen einen Fußweg ins Auge gefasst, der vom Fuß des Berges (wo die genannte Station liegt) steil hinauf in die Höhe führt und von wo ich gegen die andere Seite hinab Neapel glaube sehen zu können. Ich finde den Anfang, aber es ist kein öffentlicher Weg. Was soll’s, ich übersteige eine verfallene Mauer und steige den schmalen Pfad hinauf. Zu beiden Seiten ist das Erdreich abgespült: links und rechts abschüssiges Geröll. Weiter oben ein Gitter, ein Drahtzaun. Es ist nicht leicht zu überwinden, aber es ist. Bei einem vergessenen Baum süße Aprikosen.

Dann bin ich oben in den Häusern. Auf einer Hotelterrasse habe ich die erwünschten Ausblicke. Neapel allerdings ist noch nicht zu sehen, es liegt hinter einem weiteren Landvorsprung. Dafür kommt draußen auf dem Meer eine weitere Insel zum Vorschein, nämlich Ischia (welches hier wie ‚Isc-chia’ ausgesprochen wird).

Das Straßengewirr ist da oben schwierig zu übersehen. Endlich aber gerate ich auf eine Piazza, und dann warte ich lange auf einen städtischen Bus, mit dem ich nach Pozzuoli fahren will. Ich habe mir nämlich in den Kopf gesetzt, von dort auf die Insel Ischia hinaus zu fahren und dort zwei, drei Tage zu bleiben.

Der Bus fährt dorthin, wo ich schon war, zur Station Torregáteva, und von dort muss ich in den Zug umsteigen. Eingezwängt im Gedränge des Feierabendverkehrs fahre ich zum Hafen von Pozzuoli und komme in ein emsiges städtisches Treiben. Ladengassen, Straßenverkäufer, teure Boutiquen, eine Piazza.

Eine Fähre nach Ischia sehe ich soeben davon fahren. Die nächste und letzte an diesem Tag geht um zehn vor sieben. Ich habe noch eine gute Stunde Zeit für meine Geschäfte, die sich nur in einer Stadt besorgen lassen: Das Telefonino wieder mit Kredit aufladen; beim Bancomaten ‚Zehrung’ für die nächsten Tage beziehen. Immer noch hoffe ich ein leeres Reisebuch zu finden, aber ohne Erfolg. Außer Schulheften und Glückwunschkarten gibt es nichts Papieriges.

Dann ist es Zeit, dass die Fähre bestiegen wird. Ich bin beinahe der einzige Fußgänger. Vespas und Motorräder stehen in der Kolonne, Personenwagen, vor allem aber Ungetüme von Lastern, die nun langsam und mit bewundernswertem Können, manche auch rückwärts, gar mit Anhänger, über die Ladeplanken eingeführt werden.

Das Schiff legt ab. Wir kommen an der Halbinsel vom Monte Prócida vorbei, wo ich vorher herumgeschlendert bin. Markant ragen die Steilufer in die Höhe und sind mit Türmen, mit Burgen gekrönt.

Eine knappe Stunde später nähern wir uns der Insel Ischia. Das Ufer ist bis weit hinauf in die grünen Hänge verbaut. Ein Häusermeer. Darüber Wald, der Berggipfel genannt Monte Epomeo. Ich schaue nach Wanderwegen aus. Vom Schiff aus ist nichts zu erkennen.

Man landet im Hafen von Casamicciola. Ich schnappe mir das erste der dort wartenden Taxis und sage dem Fahrer genau, welche Art von Hotel ich mir wünsche. Er weiß mir eines in Ischia Porto und fährt mich hin. Ein kleines, familiäres Hotel am Meer: Rivamare. Habe ich gute Arbeit gemacht?, fragt er, und er erhält ein anständiges Trinkgeld. Er vergisst nicht, bei der Réception seine Visitenkarte abzugeben; eine Hand wäscht die andere.

Es ist ein billiges Zimmer, ein dunkles Loch im Untergeschoß mit Blick an die Hinterseite eines Lebensmittelladens. Ich habe nicht im Sinn, viel Zeit hier unten zu verbringen. Vorn gibt es, wenige Schritte vom Sandstrand, eine Terrasse, das wird mein Aufenthaltsort sein.

Ischia ist ein reiner Touristenort. Wie verbringt man die Zeit, wenn man Ferien macht, das ist die Frage, die den zahllosen Leuten in den Einkaufsgassen ins Gesicht geschrieben steht. Ich schlendere durch die Gassen und suche ein Lokal zum Nachtessen.

Draußen zu essen an diesem lauen Sommerabend, unter dem eindunkelnden Himmel, das ist verlockend. Ich trete ein. Drei Musiker richten sich ein. Kellner schwirren herum, zwischen den Palmen.

Mein Essen ist vorzüglich. Die Musik beginnt zahm und steigert sich mit jeder Nummer. (Denn das letzte werden die Zuhörer in Erinnerung behalten.) Chansons, aber auch Folklore, mit viel Gitarre begleitet. Jeder der drei steht abwechslungsweise als Solist im Zentrum.

74 Ischia

Heute will ich mir endlich einmal einen langgehegten Wunsch erfüllen und einen Roller mieten.

Zunächst aber hinab ans Meer, mit der Flöte, an den noch menschenleeren Strand.

Nach dem Frühstück gehe ich zu einem Geschäft, das sie mir im Hotel genannt haben. Es ist kein Problem, hier einen Scooter zu mieten, sie sind dafür eingerichtet. 25 € pro Tag, und dann Gas geben, abfahren. Aber passen Sie auf. Es gibt viele Unfälle von Leuten, die die Gefahr nicht richtig einschätzen.

Ich will die ganze Insel umrunden und fahre los. Nach einer Viertelstunde ist das Gefühl der Freiheit bereits abgeblasst. Mit einer Vespa, habe ich gedacht, kommst du überall durch, kannst sie irgendwo abstellen, bist du so ‚durchgängig’ wie zu Fuß, nur viel schneller. So ist es nicht. Ich bin an die Straße gebunden, und zwar an den rechten Rand, und selbst wenn ich einfach anhalten will, muss ich mich genau umsehen, wo ich aus der Straße hinaus komme. Zugegeben, mit einem Auto wäre ich noch weit mehr an die Fahrbahnen und an die vorhandenen Parkplätze gebunden. Und schnell bin ich auch nicht, alles braust an mir vorüber, und die sitzende Haltung ist überhaupt nicht animierend. Kurz, mir geht’s wie dem Hans im Glück, der seinen Goldklumpen gegen ein Pferd ausgetauscht hat. Jedenfalls die Vorstellung, mit der Vespa an ein einsames Plätzchen fahren zu können, dort die Füße ins Wasser baumeln zu lassen oder in einer Bucht ein paar Züge schwimmen zu können, die bleibt Illusion. Plätze am Ufer sind privat oder sind öffentlich organisierter Strand.

Einmal fahre ich in ein Hafendörfchen hinein, stelle mein Gefährt ab, ziehe meinen Helm aus und setze mich auf eine Terrasse am Meer. Lang hält es mich nicht. Ich fahre weiter, fahre auf der Hauptstraße an die westliche Seite der Insel, umfahre auf zunehmend kurvig werdender Straße die südwestliche Ecke und schraube mich dann in die Höhe hinauf.

Vom Ort Fontana aus soll es einen Fußweg auf den Epomeo geben. Ich finde das Schild, und ich will mit meinem Esel so weit hinauf reiten, wie es geht. Ich bin aber kein Italiener, der von klein auf Roller gefahren ist, und der steile, zerklüftete Weg ist für die kleinen Räder auch nicht die geeignetste Piste. Bald einmal geht es nicht mehr weiter. So suche ich einen Platz am Schatten, parkiere meinen Untersatz, und nun geht es zu Fuß, aber mit leichtem Gepäck, in die Höhe. Der Weg ist beschildert. Manchmal ist er schluchtartig zehn oder zwanzig Meter tief in den Tuff eingeschnitten. Ich vermute, dass die Karrenräder und die Gewitterregen zu gleichen Teilen die Erosion geleistet haben. Die senkrechten Wände zu beiden Seiten kommen sich gelegentlich so nahe, dass zwei Pferde nur mit Mühe dazwischen kreuzen könnten.

Von Zeit zu Zeit steht ein Haus am Weg, ein verlassenes meist, und auf kleinen terrassierten Äckerchen sind Tomaten, Mais, Reben oder Oliven angepflanzt. Weiter oben nur noch Wald. Der erdige Weg, gesäumt von dichtem, niederem Holz, führt stetig aufwärts.

Rundum sehe ich aufs blaue Meer hinaus. Weit unten die Stadt, die Häuser und Straßen. Draußen Schiffe. Hier oben Stille.

Auf dem Abstieg passiert es mir tatsächlich, dass ich den vorher begangenen Weg nicht mehr finde. Ich gerate zu anderen Oliven oder Tomaten als vorher, ich muss umkehren und suchen. Endlich komme ich zu meinem Parkplatz und fahre weiter auf meiner Rundreise. Am Nachmittag bin ich wieder in der Stadt und bin froh, dass ich die Vespa zurückbringen kann und sie los bin.

Posten (wie die übrigen Touristen), Siesta. Abends Essen im Hotel. Beim Eindunkeln nochmals Flöte spielen am Ufer. Um halb elf ins Bett und Wecker gestellt. Die Fähre geht früh.

75 Napoli Est

Wieder mit ganzem Gepäck schreite ich durch die noch schlafende Stadt und komme zum Hafengebäude. Billet, Caffè und Cornetti. Dann auf die Fähre.

Das Schiff macht diesmal einen Zwischenhalt bei der Insel Prócida. Während Ischia eine ausgedehnte Ansammlung von Häusern und Hotels ist, zeigt sich dieser Hafen malerisch. Oben auf dem Berg eine imposante Stadtburg, unten am Ufer zusammengedrängte Fassaden, eine Kuppelkirche, Wäsche auf den Balkonen. Dazwischen eine zerklüftete Steilküste.

Wenn ich mich für eine der beiden Inseln als Ferienort entscheiden müsste, es fiele mir leicht. Vielleicht gäbe es hier noch etwas von dem, was die Italienfahrer zu Goethes Zeit gerühmt und besungen haben. Wie wär’s einmal mit dem Versuch?

Es sind einige Leute zugestiegen, das Schiff fährt weiter, passiert die Halbinsel Posíllipo, und dann kommt Neapel in Sicht. Neapel sehen und sterben: meine Sache wäre das nicht. Das war vielleicht mal.

Die Großstadt mag ihre kulturellen Schätze bergen. Irgendwann in seiner Jugend hat hier Georg Friedrich Händel die ersten Triumphe gefeiert. Theater, Bibliotheken, Museen… Ich kann und will mich davon nicht aufhalten lassen.

Vom Hafen aus hinein in die Stadt. Die Hauptverkehrsadern: ein völliger Zusammenbruch des Individualverkehrs, und dennoch nehmen alle teil. Beidseits an den breiten Straßen zweispurig parkiert. Männer mit Trillerpfeifen – wie mir scheint aus privater Initiative und auf Trinkgeldbasis – organisieren das Chaos. Sie haben einen Klappstuhl hinaus gestellt und warten auf Kunden.

Am Rand einer Einfallstraße steht einer mit seinem Lieferwagen, der mit Raddeckeln behängt ist. Täglich wird er hier stehen und für jeden Wagentyp den passenden Deckel bereit halten. Raddeckel, nichts als Raddeckel. Ein Nischengeschäft.

Eine Seitenstraße, ein Markt. Ein Leibchen, für das ich in Ischia 50 € bezahlt hätte, hier erhalte ich es für 8. Drei Paar Socken erstehe ich für 5 €. Fertig Sockenwäsche, nur noch tragen und wegwerfen.

Der stundenlange Marsch durch die Vororte, hinaus gegen Osten, lohnt sich. Die ständige Veränderung der Quartiere, die wache Aufmerksamkeit der Verkehrsteilnehmer, die Läden und Buden und Werkstätten…

Der Zugang zum Meer ist verbaut. Dicke Mauern und Tore halten Lärm und Staub draußen. In seltenen Momenten wird durch eine offenes Tor ein schneller Zublick in einen schönen, begrünten Innenhof oder gar einen Blick hinaus aufs Meer gewährt.

Auch die andere Straßenseite ist zugemauert: riesige Wohnfestungen. Die Zugänge, die Einfahrten sind mit Schiebetoren versperrt. Das Schild heißt ‚Divieto di accesso alle persone non autorizzate’, oder auch anders. Wer hineinfahren will in diese geschützte, abgeschirmte Siedlung, drückt in die Tasten seinen Code ein, und das Tor rollt auf. Spielplätze, Schulen, ganze Quartiere bilden eine Burg. Sicurezza ist groß geschrieben, und Angst scheint zu herrschen. Wie ein Rückfall ins Mittelalter oder in den Wilden Westen kommt es mir vor.

Dort wo der Staat seine Aufgabe, die Bürger vor Delinquenten zu schützen, nicht mehr wahrnehmen kann oder will, müssen die Gesellschaften beginnen, sich selber abzusichern. Ein starker Staat, dem die Mittel für seine Aufgaben zugestanden werden: hier, wo er fehlt, sieht man seine Notwendigkeit.

Dort wo der Staat seine Aufgabe, die Wohlfahrt seiner Bürger zu betreiben, nicht mehr wahrnehmen kann oder will, nimmt die Delinquenz überhand. Was man mir vorenthält, nehme ich mir selber. Ein sozialer Staat wäre gefragt, dem die Mittel für seine Aufgaben zugestanden werden.

Der weite, offene Platz beim Bahnhof Pórtici ist eine Wohltat. Dort gibt es eine Bar und auf deren Dach eine luftige, mit Schilfmatten gedeckte Terrasse. Mir wird ein (mikrowellengewärmtes) Primo serviert. Über eine Stunde lang genieße ich den durchlufteten Platz, schaue aufs Meer hinaus, betrachte die fünf Musiker am Nachbartisch, die an ihren Gitarren züpfeln, und trinke meinen Quarto di rosso.

Eine Unumgänglichkeit auf dem weiteren Weg ist Ercolano bzw. HERCVLANVM, eine aus der Asche eines Vesuvausbruchs wieder herausgegrabene Römerstadt. Vor vielen Jahren waren wir in Pompei. Herculanum ist aufs Ganze gesehen kleiner, überschaubarer und wie mir scheint besser erhalten als Pompei. Jetzt, am frühen Nachmittag, liegt es vor mir, in der brütenden Hitze; die Touristenscharen halten sich in Grenzen. Da und dort kann ich ‚unter dem Hag durch fressen’, das heißt bei einer Führung mithören. Ich bekomme einen recht guten Eindruck vom Leben der besser gestellten Römer. Insbesondere die Atmosphäre in einem Atriumhaus wird mir zu einem starken Eindruck. Auch die große Bedeutung der Bäderkultur kommt zur Geltung.

Die Stadt liegt an einem leichten Abhang und ist heutzutage vom turbulenten Verkehr abgeschirmt. Ich finde ein schattiges Plätzchen unter einer Pinie und verschlafe ein Stündchen der größten Mittagshitze.

Bisher bin ich auf der alten Hauptstraße gegangen, die ununterbrochen durch städtisches Gebiet führt, durch Vororte von Neapel, die ihre kommunale Selbständigkeit betonen, z.B. indem der Stadtname auf jeder Hausnummer aufgeführt ist. Nun finde ich eine Seitenstraße, eine Via Marittima, die näher am Meer verläuft und einen kleineren, nur noch lokalen Verkehr hat. Von da aus habe ich immer wieder Ausblicke in die Weite. Aber auch der Gang durch die Welt der kleinen Leute ist interessant und mindestens so anregend wie der Marsch auf dem Trottoir des Boulevard.

Eine dieser stolzen Kommunen ist Torre del Greco. Sie manifestiert sich in einem luxuriös ausgebauten Quai, das sich während Kilometern dem Meer nach zieht.

Um halb acht bekomme ich in einem Restaurant am Weg ein gutes Essen. Im oberen Stock findet ein Kindergeburtstag statt. Mütter bringen ihre wohlgekleideten Früchtchen und geben sie unbesorgt ab. Torten werden hinaufgetragen. Es herrscht ohrenbetäubender Lärm. Folge der organisierten Vergiftung mit Zucker.

Noch vor dem Dunkeln mache ich mich hinter dem Restaurant in die Büsche. Niemandsland, Brachfeld, mannshohe Stauden. Ich suche einen etwas erhöhten Platz, von wo aus ich in der Ferne das Meer sehen kann, ebenso den Sonnenuntergang und voraussichtlich den Sonnenaufgang am andern Morgen.

76 Sorrento

Wecker auf halb sechs. Eine Stunde Hauptstraße. Sonnenaufgang zwischen halb sieben und sieben. Endlich eine Bar. Frühstück gut, alles gut. Dann wieder Quartierstraßen hinab ans Meer. Einer spricht vom Traghetto, das ist eine Fähre. Ich will es wissen: damit wäre mir der Entscheid abgenommen, ob ich die Halbinsel von Sorrent dem Meer nach umschreiten oder ob ich sie abkürzend durchqueren soll. Ich kann von da aus den Golf von Neapel überblicken: überall steil abfallende Küsten. Das bedeutet, ich bin auf die Küstenstraße angewiesen, bewege mich also ständig am Rand einer vielbefahrenen Autostraße.

Die besagte Fähre führt von Torre Annunziata hinüber nach Sorrento. Der Hafen ist an diesem Morgen ziemlich verschlafen. Einige Fischer halten ihre Schnur von der Mauer herab ins Wasser. Hie und da ein Kleinlastwagen. Der großzügig weite Platz, die ausgedehnte Abschlussmauer draußen gegen das Meer, die hohen Lagerhäuser, das alles weist darauf hin, dass es hier auch schon geschäftigere Zeiten gegeben hat.

Ja, es gibt eine Fähre. Sie kommt in zwei Stunden. Ich zeichne, ich lasse meinen Schlafsack austrocknen, ich lese, ich begebe mich ins Städtchen für einen Aperitif, ich lasse die Beine hängen.

Ich sitze vor dem Bistro an einer Kreuzung. Das Gespräch zweier Männer, mir gegenüber, vor dem Haushaltwarengeschäft, ist filmreif, könnte von Tati arrangiert sein. Gewiss eine halbe Stunde lang machen sie Anstalten, sich zu verabschieden, finden aber offenbar immer wieder einen Grund, noch nicht zu gehen.

Mir fällt auf – nicht nur bei diesen zwei Männern – hier im Süden ist mehr Hand-lung. Auch freundschaftliche Gebärde. Handgreiflichkeiten zwischen Männern, Berührung des Gesprächspartners mit der Hand. Wenn ich mit einem gesprochen habe, eine Auskunft bekommen habe, geben sie mir oft die Hand, manchmal auch die linke. Eine subtile Sprache, die auch gelernt sein müsste, vermute ich. Und wenn ich ‚piacere’ sage (es hat mich gefreut), so wird das von ihnen nicht als bloße Redensart aufgenommen.

Die Kommunikation der Auto- und Töfffahrer an dieser Kreuzung ist sehr aufmerksam, zügig, schnell, subtil. Es scheint zu klappen. Zwar gibt es viele verbeulte Karossen zu sehen, aber das dürfte eher mit dem Reparaturbewusstsein der Italiener zusammenhängen.

Pünktlich um 9:15 Uhr legt das Schnellboot an. Wir fahren hinaus. Die gegenüberliegende Küste liegt im Dunst des hellen Tages. Wir nähern uns der schönsten aller Städte, wie frühere Italienreisende geschwärmt haben. Hohe Felsen, darüber ist die Stadt postiert. Hotelkästen aus viktorianischer Zeit. Sind wir in Interlaken? Wie kommt man dort hinauf?

Zunächst etwas trinken, gleich bei der Anlegestelle. Souvenirs, mondäne Welt, Englisch, Preise wie in Florenz.

Was von weitem wie eine einzige Steilwand ausgesehen hat, ist hier durchaus zerklüftet. Es gibt sogar Platz für eine Straße hinauf in die Stadt. Busse. Aber ich mache den Aufstieg zu Fuß. Ein Treppenweg. Oben glanzvolle Stadt, herausgeputzt für die Fremden. Eine schöne Stadt. Großzügige Plätze, aber herausgewachsen aus dem Mittelalter. Nicht vom rechten Winkel bestimmt. Aussichtszinnen, Kirchen, Paläste.

Bei der Touristeninformation will ich versuchen, etwas über Wanderwege in Erfahrung zu bringen. Verena hat Reiseliteratur gefunden, in der über einen durch die ganze Halbinsel führenden Wanderweg berichtet wird. Hotelzimmer werden vermittelt, Autos werden vermietet, Schiffskurse werden angegeben, aber wie hätte es auch anders sein sollen: von Wanderwegen weiß niemand in diesem Büro etwas. Immerhin hängt eine große, bunte Karte an der Wand. Ich kann anhand der farbigen Schraffuren einigermaßen erahnen, wo es solche Wege haben könnte. Immerhin ist eine touristische Karte von der ganzen Halbinsel erhältlich, auf der wenigstens in einem etwas größeren Maßstab der Verlauf der Straßen und die Lage der Ortschaften ersichtlich ist.

Mittagessen unter Sonnenschirmen. Es ist Freitag. Wie wär’s mit Fisch? Der Kellner bringt mir ein Muster heraus, zur Besichtigung, roh. Nein nein, das ist mir zu groß, sage ich. Kein Problem, Sie können ihn auch kleiner haben. Zusammen mit Spaghetti und Frutte di mare wird er mir nach einer Viertelstunde vorgesetzt, und er ist vorzüglich. Dann suche ich mir in einer Pineta (einem Pinienwäldchen) ein stilles Plätzchen und schlafe ein, zwei Stündchen, schlafe wirklich.

Ich befinde mich im Bereich der mondänen Welt, also gibt es ein Internetcafé. In meinem Briefkasten aber nichts Neues. Wer mir schreibt, weiß ja, dass ich fort bin.

Was ich bisher nie gesehen habe in Italien: es gibt einen Waschsalon mit Selbstbedienung. Münz braucht’s und Sprachkenntnisse, entweder italienische oder englische. Es gelingt mir nur dank der Hilfe eines amerikanischen Studenten auf Kulturreise – und Sorrento steht auf seinem Programm: er erklärt mir das Waschprogramm. Die gewaschenen Kleider packe ich nass in meinen Rucksack und wandere weiter: zur Stadt hinaus und dann auf einem schmalen Sträßchen den Berg hinauf.

Ein Bauer, den ich zur Sicherheit nach dem Weg frage – zu oft schon habe ich erlebt, dass solche Sträßchen bei einem großen Gutsbetrieb enden – und um Wasser bitte, drängt mir eine Flasche Weißwein auf. Was soll ich mit einem Kilo Wein! Beim übernächsten Hauseingang ‚schenke’ ich sie weiter.

Ein schöner Aufstieg, zuletzt durch die Oliven hinauf auf einem Maultierpfad. Ich komme nach Colle di Fontanelle. Während ich in der Bar ein Gelate ‚de luxe’ genieße, trocknen die Kleider am Geländer. Panorama auf beide Seiten: zurück auf den Golf von Neapel und auf die andere Seite hinaus aufs tyrrhenische Meer. Das Dorf liegt auf dem Kamm der Halbinsel. Wenn ich nach Westen blicke, sehe ich hinter den letzten Hügeln die Insel Capri.

Übers Telefon erhalte ich von Verena jene Informationen, die mir in Sorrent niemand hat geben können – das heißt, es hat mich niemand an die richtige Person verweisen können, die mir hätte weiterhelfen können. Sie gibt mir recht genaue Angaben. Es wäre traumhaft, hier oben auf Wanderwegen weiterzukommen.

Zunächst aber muss ich ans Nachtlager denken. Die Sonne steht schon tief. Ich schreite durchs Dorf und komme an einer außerordentlichen Kirche vorbei. Das Äußere ist freudig-bunt bemalt. Formen des 17. Jahrhunderts. Ein Blick hinein – aber nur ein kurzer Blick, weil die Frauen gerade zum Vespergebet versammelt sind – zeigt einen schönen, ganz in Weiß gehaltenen, barocken Raum.

Am Straßenrand rotweiße Zeichen. Ich befinde mich auf dem Wanderweg. Wenn ich jetzt nur noch die Stelle finde, wo er von der Hauptstraße abzweigt.

Draußen vor dem Dorf ein großes Schild: Agriturismo ‚Il piccolo Paradiso’. Es klappt. Ich bekomme ein Zimmer, muss allerdings für zwei Personen zahlen.

Das Nachtessen ist gut: Nochmals Fisch. Dazu ‚Cozzo’, was immer das ist. Zuvor Ravioli, vorzüglich.

Frühstück ab halb neun. Sicher nicht. Ich verhandle, und sie macht mir eine Art Lunchpaket, damit ich am andern Morgen früh das Haus verlassen kann.

77 Alta Via Lattari

Die Wanderung führt mich heute in die Berge hinauf, in unbewohntes Gebiet, nehme ich an. Ich mache mich früh auf den Weg, um halb sechs, und wandere zunächst auf der Straße weiter. Vorläufig sind immer noch gelegentlich rotweiße Zeichen am Rand.

Genau diese fehlen nun bei der nächsten Kreuzung. Ich sehe aber vor mir den Berg mit dem Gipfelkreuz, gerade über dem Dorf. Ich frage einen Bauern. Beim Schloss, sagt er, ziemlich kurz angebunden. Das Schloss ist aber mit einer Mauer umgeben. Auf beiden Seiten führt ein Sträßchen weiter. Ich frage einen Autofahrer, den ich mit erhobenem Zeigefinger aufhalte. Er schickt mich nach links. Das Sträßchen geht aber stetig abwärts, und es findet sich keine Abzweigung gegen den Berg. Ich frage einen Bauern in seinem Zitronengarten. Und er schließlich kann mir den richtigen Weg nennen: Durch das Tor ins Schlossgelände und oben wieder hinaus.

Das Tor ist offen. Es ist noch früh am Tag. Noch niemand draußen. Ein ungutes Gefühl habe ich schon, durch den privaten herrschaftlichen Park und auf den Kieswegen am Schloss vorbei zu gehen. Der Diener im Frühstückszimmer sieht mich nicht. Ich wecke auch keine schlafenden Hunde. Tatsächlich: als ich hinter dem Hauptgebäude ins wilde Land hinaus trete, wo nur Steine, Geröll und hohes Gras wächst, beginnt ein Fußweg den Berg hinauf, und der ist sogar wieder mit rotweißen Zeichen versehen.

Vorn am Tor, wo ich am meisten auf diese Markierungen angewiesen gewesen wäre, fehlen sie. Aus verständlichen Gründen: der Besitzer will doch nicht auf seinem Privatgrundstück mit einem Wanderwegzeichen zum öffentlichen Eintritt einladen.

Nun steige ich den Berg hoch, in weiten Zickzackkehren. Weiter oben wird das Gras dichter und höher und der Weg schmaler, und gegen die Kuppe hinauf, wo das Gelände flacher wird, kann ich ihn oft fast nicht finden. Eine schmale Trampelspur muss immer wieder gesucht werden.

Oben auf der Höhe, in den Föhren, teilt sich der Weg. Der eine Ast führt in meiner gewünschten Richtung weiter, gegen Osten, der andere geht zum Gipfelkreuz hinauf, auf die entgegengesetzte Seite, noch einen halben Kilometer weit. Diesen Abstecher will ich mir nicht nehmen lassen. Schon lange bin ich diesem Kreuz entgegen gezogen. Schon der Wirt in Colle di Fontanelle hat mir diesen Punkt genannt und allerdings beigefügt, der Weg sei schwierig zu finden.

Der Ausblick hier vom Vico Alvano ist überwältigend. Auf drei Seiten das blaue Meer und gegen Osten das Gebirge der Halbinsel von Sorrent.

Zurück zur Abzweigung. Dort kommen mir zwei Hunde entgegen und kurz danach taucht die dazu gehörende Dame aus dem hohen Gras auf. Es kommt kaum vor, dass sich auf italienischem Boden, außerhalb des besiedelten Gebietes, Fußgänger begegnen, und so nehmen wir uns kurz Zeit, voneinander das Woher und Wohin zu erfahren. Die Frau ist blond und ist ursprünglich Schwedin, lebt aber schon seit Jahrzehnten hier. Sie ermutigt mich auf meinem Weg, den werde ich schon finden.

Es ist ein Traumweg, immer über die Kreten. Er steigt die Berghänge hinauf. Oben auf einer flachen Stelle treffe ich auf einem kleinen Äckerchen einen Bauern. Am Rand weidet ein Pferd. Kurzes Gespräch, Hinweise auf den Wegverlauf.

Weiter oben verliert sich der Weg im Gras. Schon längere Zeit keine Zeichen mehr gesehen, also zurück zum letzten. Falsch gegangen. Nochmals einer, ein junger Kerl, in seinem Acker. Bohnen mache er, sagt er. Auf der andern Seite des Tales ein Bauer am Heuen, auch wieder mit zwei Pferden. Bergheuet.

Ich steige weiter in die Höhe und nähere mich immer mehr dem Himmel. Geröll, Schotter, Ginster, dann wieder hohes Gras, eingezäunte Felder. Links und rechts Blick aufs Meer hinab, in der Ferne die Insel Capri. Der Berg mit der für mich so ungewöhnlichen Sicht heißt Monte Comune.

Dann geht der Weg steil in die Tiefe, auf einen Sattel hinunter, wo sich ein Kirchlein befindet, Santa Maria di Castello. Es ist in meiner Karte vermerkt; ich bin über jeden sicheren Anhaltspunkt froh, an dem ich mich orientieren kann.

Unten im Sattel ein Dorf, gar eine Bar, das Ristorante ‚Zii Pepe’, ein Ausflugsrestaurant mit riesigem Speisesaal. Die Straße führt über den Sattel. Ich bin aber der einzige Gast, obwohl es Samstag ist, und ich lasse mich ausgiebig verwöhnen.

Siesta unter einem Nussbaum, am Abhang gegen Positano hinab. Denn ich verlasse nun den Bergwanderweg, die Alta Via Latari. Nach dem Sattel gehen nämlich die Berge gewaltig in die Höhe. Mit meiner spärlichen Ausrüstung, auch in Ermangelung einer genauen Karte, könnte ich mir die Fortsetzung nicht zumuten. Zudem habe ich von Verena gehört, dass es nun einen berühmten Weg hinunter an die Amalfiküste gibt. Sie hat im Merian-Heft sogar Fotos davon gesehen.

Was nun kommt, ist etwas vom Schönsten, was ich an Wegen schon gesehen habe. Es ist ein mit Steinplatten gepflästerter Weg, der im Zickzack den steilen Hang hinab führt. Er ist so breit, dass bequem zwei Maultiere aneinander vorbeikommen können, und es scheint, dass er immer noch gepflegt und unterhalten wird. Auch wenn mir niemand begegnet auf dem stündigen Abstieg.

Unten ist das Dorf Positano regelrecht an den Felsen geklebt. Die Menschen bewegen sich auf Treppen. Etwas um die 2406 Treppenstufen sollen es sein vom oberen Rand des Dorfes bis hinab an den Strand.

Da unten, in den Gassen des Souvenirmarktes und der Speise- und Eislokale, wimmelt es von Volk, von müde in der Hitze torkelnden und englisch sprechenden Touristen. Dazwischen die Einheimischen, die sich in einem unverständlichen, arabisch klingenden Italienisch unterhalten.

Ich blicke zurück, den steilen Hang hinauf, wo ich her gekommen bin. Fast wie wenn man von Leukerbad aus zum Gemmipass hinauf schaut: man kann nicht glauben, von unten her, dass diese Wand zugänglich ist. Und doch war der Weg bequem begehbar.

Positano lebt von und für Touristen. Ich lebe am besten, wenn ich mich auch wie ein Tourist benehme. Ich sitze auf der Terrasse am Strand, unter dem Schattendach, lasse mich vom Kellner bedienen und schaue den Hunderten, die sich im Wasser tummeln, zu und den Tausenden, die im Sand liegen, um braun zu werden.

Dann geht’s weiter. Es gibt nichts anderes als die Straße, die sich kurvenreich im abfallenden Hang dem Meer nach zieht. Ich tue meine Schritte am Straßenrand, und die Autos ziehen an mir vorbei.

Zwischenhinein ein Bad täte wohl. Aber die Zugänge zum Ufer sind verbaut, die Wege sind Zufahrten zu Häusern, die abgesperrt sind wie Gefängnisse, mit Mauern und Drahtgeflechten und Gittertoren. Doch dann finde ich doch ein schmales Weglein, mit Treppen durch die Bäume hinab: bis zu einem verlassenen, verfallenen Haus. Dort muss ein Gatter umklettert werden, und dann führt der Pfad immer weiter hinab, bis zu den Felsen, die dem Ufer nach ins Meer abfallen. Es gibt etwas Kletterei über Klüfte, an Höhlen vorbei. Fischergerätschaften liegen herum. Aber an Baden ist nicht zu denken: die letzten zwei Meter fallen senkrecht ins Meer ab. Ein Sprung ins Wasser wäre keine Sache, aber heraussteigen unmöglich. Es wäre ein schöner Ort für die Nacht gewesen, etwas hart vielleicht auf dem grobkörnigen Gestein, aber ruhig und einsam. Nichts zu machen. Ich steige das Weglein wieder hinauf und auf die Straße zurück.

Im nächsten Ort Hotelsuche. Erniedrigend. Einer steht draußen und hält die unliebsamen Kunden dort schon ab. Che vuole?, sagt er. Wenn ich mit der Limousine angefahren käme, würde er andere Worte wählen.

Auf einer Hinweistafel steht die Telefonnummer einer Pension. Ich rufe an. Einer steht daneben und hört mich. Er sagt: Brauchst du ein Zimmer? Ich habe dir eins. So komme ich ins Haus von Gigi Italiano: Motocrossfahrer, Bankangestellter wie er sagt, Sohn von alten Eltern, in deren Haus er wohnt; aber heute Nacht hat er anderes vor: eine Maschine abholen, anschließend bei der Freundin übernachten; und da kann er gleich sein Bett vermieten und sich so einen Zusatz verdienen. Es ist sein Bett, sein überfülltes Zimmer, sein Balkon. Er führt mich auch den Weg hinab zum öffentlichen Strand des Dorfes, wo ich endlich schwimmen kann in diesem Wasser, das ich so lange schon von der Straße aus angeschaut habe. Welche Wohltat. Gigi entführt mich in die Bar, nur wenige Schritte von seinem Haus, aber wir nehmen den Roller; ich denke, er will mich seinen Bekannten zeigen. Dann aber muss er seinen Geschäften nach und verabschiedet sich.

Nach der Dusche Ausgang ins Dorf. Sie haben Kirchenfest heute und morgen. Das ganze Volk ist auf den Beinen, mit allen Kindern, und trifft sich auf dem großen Platz vor dem Dom.

78 Amalfi

Kurz nach sechs bin ich bereits auf der Straße. Sonntag Morgen, ich hoffe darauf, dass die Leute noch schlafen und die Straße noch leer ist. Ich marschiere Richtung Amalfi.

Die Amalfiküste gilt als etwas vom Schönsten, was es in Italien geben soll. Das kann ich verstehen. Die steilen Hänge, die scharfen Bergkuppen und unten das tiefblaue Meer. Die Straße schlängelt sich immer auf gleicher Höhe durch diese Schönheiten. Für einen Fußgänger aber, der sich gewohnt ist, seinen Weg selber zu wählen und der nun auf diese eindimensionale Linie gebannt ist, gibt es Schöneres.

Aber da ist ja noch jene Grotte, die man gesehen haben muss. Ich komme daran vorbei. Sie sei aber erst um neun geöffnet, steht auf der großen Tafel, bzw. um halb zehn, steht auf der kleinen, bzw. um zehn, sagt der Mann, der vor dem Hotel aufwischt. Ein Lift führt hinab, von der Straße aus zum Eingang der Grotte, unten am Ufer. Aber es gibt auch eine Treppe: ich muss ein Gittertor überklettern und gelange auf der breiten, gemauerten Treppe hinab. Es ist erst halb neun.

Da sitze ich nun endlich am Wasser und habe zwei Stunden Zeit, bis die ersten Menschen herab kommen. Der Eingang zur Grotte, mit einem Tor verschlossen, liegt in einer Felsenbucht. Der Platz ist gemauert. Vier Stufen führen hinab ins Wasser. Vorn kann ich mich in die Sonne setzen – der Tag ist noch nicht heiß – und hinten in der Bucht bin ich am Schatten. Einige Züge hinaus schwimmen, wieder trocknen lassen an der Sonne, lesen, schreiben, ein Versuch, Verena mit dem Handy zu erreichen – oder ist's noch zu früh am Sonntag Morgen?

Draußen auf einer Halbinsel steht eine Burg, der 'torre re di conca'. Sie haben eine lange Tradition im Festungsbau. Etwas aus der Sarazenenzeit oder den Jahrhunderten der Staufer.

Dann kommen sie herab mit dem Lift. Ich habe mich rechtzeitig wieder angezogen. Das Tor geht auf. Wir bezahlen den Eintrittspreis und kommen dann in ein Boot zu sitzen. Die Fahrt geht einige Meter hinaus. Wir sind in einem großen Felsensaal, und 'Smeralda' heißt die Grotte wegen der smaragdgrünen Farbe des Wassers, und die entsteht, weil das Sonnenlicht durch eine Höhle unter dem Wasser hereintritt und ihr einen zauberhaften Glanz verleiht. Der Führer macht seine Sache auf eine witzige Art. Man zeigt uns sogar eine Felsbildung, die nach Napoleon aussieht, und im Wasser eine versenkte Krippe mit dem Jesuskindlein und dem heiligen Josef.

In guter Laune und Verfassung – der Schwumm im Meer hat mir gut getan und die Stille und Einsamkeit an diesem Ort – wandere ich weiter auf der Küstenstraße. Unterdessen ist es mit der Sonntagmorgenruhe vorbei. Aber ich komme gut vorwärts und erreiche die Stadt Amalfi gegen Mittag. Wieder so eine Stadt, die an den ins Meer stürzenden Felsabhang geklebt ist. Treppen statt Gassen. Plätze und Plätzchen. Palazzi. Man feiert den Namenspatron Andreas. Auf dem Hauptplatz spielt eine Blasmusik, sehr gekonnt. Sie spielen unter anderem einen langen Satz aus Tschaikowskys Sechster.

Amalfi, eine Touristenstadt. Ich komme zu einer NZZ und lasse mir Zeit dafür. Es ist ja interessant, was die Schweizer, weit weg von mir, beschäftigt und umtreibt. Zur Zeit sind es die Bilateralen.

Der Dom. Einflüsse aus arabischen Welten. Auf einer hohen, breiten Treppe steigt man hoch zu einer Fassade, die mit viel Gold geschmückt ist. Machtentfaltung. Besonders der Kreuzgang mutet ganz maurisch an. Die parallel daran angebaute Kreuzigungskirche haben sie als Ausstellungsraum hergerichtet. Die Krypta. Der Dom. Barock, sehr schön zurechtgemacht. Das Ganze zeigt schönen Ernst.

Auch hier begebe ich mich in den Touristenstrom hinein, der sich an den Strand hinunter ergießt. Von weitem würde niemand vermuten, dass unten so viel Platz ist für Sand, für Liegeplätze und Badehäuschen. Salatteller mit Schinken. Ein sm-Kontakt mit der Gschwelltigesellschaft zu Hause, ein kurzes Bad im Meer. Dann weiter auf der Straße nach Ravello.

Die Villa Rufolo müsse man gesehen haben. Ich frage einen Taxifahrer und lasse mich dann hochfahren. Was ich auf der Karte nicht sehen kann, auf meiner großzügigen Süditalienkarte: dass diese Sehenswürdigkeit weit oben in der Höhe liegt. Das Taxi fährt und fährt, Kurve um Kurve. Wenn ich das gewusst hätte... Als wir ankommen, knöpft er mir 25 € ab. Ob sich das gelohnt hat? Ich bin verärgert, weil ich mir die Sache zu wenig überlegt habe.

Die Villa Rufolo enttäuscht mich, als Gebäude. Touristenvolk en masse. Die Gebäulichkeiten sind schnell gesehen. Es heißt, Wagner soll da oben beflügelt worden sein, der 'Magier'. Von ihm halte ich ohnehin nicht viel. Aber im Garten, auf der Seite gegen das Meer, ist eine Bühne und eine Zuschauertribüne, die meine Phantasie beflügelt. Hier ein Theater oder ein Konzert hören zu können, mit dem Blick aufs Meer hinaus, das sich weit unten ausbreitet, diese Vorstellung ist berauschend. Haben wir nicht in Südengland ein Theater besucht, das in eine Steilküste hinein gebettet liegt und den Blick aufs Wasser, während der Vorstellung, ermöglicht?

Im Touristenbüro komme ich zu einem Ortsplan, und mit dessen Hilfe finde ich Wege und Weglein wieder hinab ans Meer, abseits von der Straße. Während einer Stunde steige ich Treppen und steile Pfade hinab, 300 Meter in die Tiefe, hinunter nach Minori.

Auf der Küstenstraße könnte ich jetzt noch einen Tag lang marschieren, nochmals 25 Kilometer. Ich habe genug von der Amalfiküste und kaufe ein Busbillet nach Salerno. Dann geht es lang, bis der angekündigte Bus kommt, und es geht eine Weile, bis ich übereinstimmende Informationen bekomme, wo er halten werde, und ich schwebe in drückender Ungewissheit, ob nun der gedruckte und ausgehängte Fahrplan oder die mündliche Auskunft im Tabacco richtig sei. Aber schließlich kommt das blaue Ungetüm angefahren, ich steige zu und erwische sogar einen Sitzplatz, knapp hinter dem Fahrer. Alle Bangnis ist ausgelöscht und vergessen.

Die Fahrt auf der schmalen Küstenstraße ist ein Erlebnis für sich. Immer wieder wird es zu eng für den langen Riesen. Die andern müssen zurück fahren. Die Kreuzung erfolgt mit zentimetergenauer Knappheit. Niemand ärgert sich. Der Chauffeur scheint jedes Sondermanöver zu genießen. Hupen, zeigen, winken, Arme verschränken, abwarten. Bisher habe ich geglaubt, solche Fahrkünste mit Präzision seien den schweizerischen Alpenpostchauffeuren vorbehalten.

Ein Grund für die schnelle Fahrt nach Salerno ist auch der Bedarf an Bargeld. An der Amalfiküste gibt es keine Bancomaten, die meine ausländische Karte akzeptieren wollen.

Salerno, Großstadt. Gang zum Bahnhof. Hotels gibt es nicht im Überfluss. Gerade beim Bahnhof liegt eins. Sie haben nur Zweierzimmer, und der Preis ist mir zu hoch. Ich komme wieder, sage ich, falls ich nichts anderes finde.

Ich frage einen Schwarzen, der auf einem Bänklein sitzt. Er hat Verständnis dafür, dass ich weniger zahlen will. Er schickt mich ins Ostello und erklärt mir den Weg. Immer wieder frage ich, aber wenige wissen davon. Zuletzt finde ich das Haus: das Ostello del populo. Früher soll es eine Jugendherberge gewesen sein, heute ist es eine städtische Einrichtung für Obdachlose und für Leute, die sich kein Hotel leisten können. An der Réception werde ich von Mauro empfangen. Er ist von der Stadt angestellt, ein richtiger Sozialarbeiter. Er weist mir ein Bett zu und zieht die 16 € ein. Heller, großer Schlafsaal; gut eingerichtete Waschräume; Aufenthaltsraum.

Es hat sich gelohnt, dass ich mich mit dem ersten Hotel nicht gerade zufrieden gegeben habe. Auch wegen des Gesprächs mit Mauro.

79 Neuerdings der Küste entlang

Salerno als Stadt lasse ich aus. Nur immer weiter. Ich habe angefangen, auf der Karte abzuzählen, wie viele Tage ich bis zur Südspitze noch brauche.

Im August soll Josephine getauft werden. Als ich zu Hause losging, dachte ich, dies könne auch ohne meine wohllöbliche Anwesenheit vonstatten gehen. Unterdessen aber hat es sich herausgestellt, dass diese Taufe zu einem regelrechten Familienfest werden kann. Sebastiaans Eltern, die wir noch gar nie kennengelernt haben, und sie sind nun doch schon seit sechs Jahren Dorotheas Schwiegereltern, wollen dazu in die Schweiz kommen. So meine ich nun doch nicht fehlen zu können, und zuerst habe ich gedacht: dann reise ich eben dafür in die Schweiz und fahre nachher wieder an meinen Weg zurück. Aber als ich dann angefangen habe nachzuzählen, habe ich meine Meinung geändert. Es scheint mir durchaus denkbar, dass ich bis Anfang August in Messina ankommen könnte.

Vom Strand her, wie ich ihn nördlich von Neapel angetroffen habe, bin ich verwöhnt. Hier ist der Sand lange nicht immer so tragfähig, auch nicht so fein. Oft ist er unterbrochen, komme ich an Flüsse, die sich ins Meer ergießen, und muss auf langen Umwegen landeinwärts bis zur nächsten Brücke gehen. Auf der Straße ist es unerträglich heiß. Also wieder zum Lido.

Um die Mittagszeit miete ich einen Strandstuhl mit Sonnenschirm für eine Stunde (der Tarif dafür ist nicht vorgesehen, aber wir können uns auf einen vernünftigen Preis einigen), und ich schlafe zwei Stunden. Zwischenhinein einmal eine kühlende Abkühlung im Wasser. Dann gegen drei Uhr wieder weiter.

Die Wellen sind jeden Tag anders. Heute überschlagen sie sich mit weißen Schaumkronen. Jede ist eine Überraschung fürs Auge und fürs Ohr. Es braucht keine weitere Unterhaltung. Zudem ist auf der linken Seite wieder die Ausstellung schöner Menschen (und auf eine gewisse Art ist jeder schön) zu bewundern. Dennoch, auf die Länge kommt das Gefühl auf, vom wahren Italien nichts anderes mehr zu sehen, vom Leben in den Dörfern und den Städten, vom Klang der Stimmen, vom Rhythmus der Landschaft.

Die letzten Stunden verbringe ich auf einem neuangelegten Veloweg, parallel zur schnurgeraden Hauptstraße: eine Strada biancha. Da komme ich vorwärts, und wenn ich auf der Karte nachmesse, muss ich staunen, dass ich in den acht Stunden fast 25 km Luftlinie zurückgelegt habe.

Kurz vor der Brücke über den Fluss Sele ragt linkerhand der Torbogen zu einem großen Zeltplatz auf. Ich entschließe mich, für heute Feierabend zu machen und diesmal doch nicht am Meer, sondern hier, mit allen Annehmlichkeiten wie warmer Dusche, einem Waschraum und einem Restaurant, zu nächtigen. Ein Problem gibt es allerdings: sie haben im Tarif Wohnmobils, Bungalows und Zelte verschiedener Größe vorgesehen, aber keine Übernächtler im Freien. Also schlage ich vor, dass ich so viel zahle, wie wenn ich eine Canadienne hätte (das kleinste Zelt), und bitte um einen Platz weit hinten, möglichst entfernt vom Getriebe und von der Straße. Dort geben sie mir ein Wiesenstück unter den hochstämmigen, schlanken Bäumen. Dennoch finde ich mich ein wenig ausgestellt, so ohne Sichtschutz.

Der Zeltplatz trägt den Namen Paestum, demnach kann es nicht mehr weit sein bis zu dieser antiken Stätte. Am andern Tag werde ich dort vorbei kommen.

80 Paestum

Paestum muss verdient sein. Der Radweg gibt mir noch eine Zeitlang die Möglichkeit, schnell vorwärtszukommen. Aber dann hört er auf, es bleibt nur noch die Straße. Der Spinner da am Rand soll für sein unangemessenes Verhalten bestraft werden. Und wieder einmal ist das Rütlein in der rechten Hand notwendig.

Gegen das Meer hin dehnt sich hier ein breiter Schilfgürtel aus, ich muss also auf der Straße bleiben. Zudem soll ja bald Paestum kommen. So genau weiß ich es nicht. Vielleicht noch eine halbe Stunde, denke ich. Aber da habe ich mich getäuscht und hätte wohl besser die Karte einmal genau studiert.

Nach langer, langer Marschiererei endlich eine Abzweigung: ein Pfeil nach rechts weist zum einen Eingang des historischen Geländes, ein Pfeil nach links zum andern. Mir scheint, der nach rechts führe eher vom Durchgangsverkehr weg. Weit vorne sehe ich ein großes Gebäude, das könnte der Eingangsbereich sein. Die Straße verläuft längs einer antiken Mauer, die aus großen Quadern zusammengefügt ist, ähnlich wie jene Zyklopenmauern von Alatri.

Als ich beim besagten Haus bin, erweist es sich als ein Restaurant und erst noch ein zur Zeit geschlossenes. Die Straße macht eine Kurve und geht Richtung Süden weiter, immer noch entlang der alten Stadtmauer. Diese ist drei, vier Meter hoch, an manchen Stellen ist sie durchbrochen, dort sehe ich in ein freies Landwirtschaftsland hinein. Meine Straße kommt aber keineswegs zu einem Tor oder Portal, sondern macht nach weiteren zwei Kilometern erneut eine Kurve nach links, und dann bin ich endlich beim südlichen Eingang. Der Pfeil hat mich also um drei Seiten des Geländes herumgeführt. Aber erst jetzt, wo ich da bin, erkenne ich: Das Ausmaß des ganzen Areals und die Länge der Umfassungsmauer hätte ich ohne diesen Umweg gar nicht erfassen können.

Ich sehe schon vom Tor aus die zwei großen Tempel, blendend in der heißen Mittagssonne, inmitten der vielen Trümmer am Boden.

Zunächst mal etwas trinken. Ein Gelato essen. Dann hinein. Eine antike Straße. Das Wort 'Straße', lese ich, komme von der lateinischen ‚via strata’, des befestigten Weges.

Schnurgerade zieht sie sich durchs Gelände. Zwei Tempel ragen in die Höhe, in voller Größe und intakt. Weit hinten in der Ferne ist noch der dritte zu sehen. Die übrigen Gebäude der Stadt muss man sich denken, aufgrund der Fundamente und der herumliegenden Trümmer.

Paestum, das ursprünglich Poseidonia hieß, ist nicht von einem Vulkanausbruch zugedeckt und in moderner Zeit wieder ausgegraben worden. Seine Erhaltung – lese ich in meinem bebilderten Führer – verdankt es der Malaria. Wegen der forcierten Abholzung der Wälder in der Antike und der daraus erfolgten Erosion der Gebirge ist die Gegend um diese Stadt, das ganze Mündungsgebiet des Flusses Sele, versumpft. Die Malariafliege konnte überhand nehmen, die Krankheit veranlasste die Menschen, die einst blühende Stadt fluchtartig zu verlassen, nach tausend Jahren des Bestehens. Der Sumpf schloss das Gelände ein, fast wie die Dornenhecke das Dornröschenschloss; man vergaß, dass hier einmal eine Stadt gestanden hatte, und erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts, beim Bau einer Staatsstraße, entdeckte man das Ganze samt den immer noch aufrecht stehenden Tempeln.

Noch sind heute Mittag wenige Besucher gekommen. Es ist brütend heiß. Die Parkwächter, die das Gras zwischen den Steinen mit ihren Motorsensen mähen, machen Pause und sitzen auf den Blöcken im Schatten der Pinien. Auch ich suche mir einen stillen Platz unter einem Baum und lasse die Zeugen aus einer andern Welt von da aus auf mich wirken. Die Schritte draußen in der Sonne spart man sich. Wenn es einen gegenteiligen Begriff zur ‚klirrenden Kälte’ gäbe, hier wäre er angebracht. Doch vom Schattenplatz aus kann ich das gleißende Licht genießen.

Offenbar haben die Altertumsforscher lange darüber gerätselt, welche Gottheiten in den Tempeln verehrt wurden. Die Bauzeit liegt nur etwa fünfzig Jahre auseinander. Beim älteren handelt es sich um einen Zeus-Hera-Tempel, was sich in einer zweikammerigen Architektur zeigt, beim jüngeren um einen Hera-Tempel. Ich nehme an, dass sich in der kurzen Zeit von knapp zwei Generationen die Mode der Verehrung grundlegend gewandelt haben muss. Es musste ein neues Heiligtum her, und das alte war außer Mode geraten. Haben wir nicht auch heute, innerhalb von 50 Jahren, Wandlungen im Zeitgeist zu bewältigen, die für kommende Geschlechter erstaunlich scheinen werden. Ich denke z. B. an die schweizerische Bewertung der Aktivdienstzeit im Zweiten Weltkrieg. Ich denke an die sexuelle Revolution, die während der kurzen Zeit meines Lebens stattgefunden hat, und die heute zu beobachtende neue Prüderie in der amerikanischen Öffentlichkeit.

Der Bau eines solchen Tempels muss für eine Stadt eine ungeheure Kraftanstrengung bedeutet haben. Aber solche Aufbrüche in eine neue Epoche (nicht mehr Zeus und Hera, sondern allein Hera!) schaffen auch Zusammenhalt, bündeln die Kräfte, verleiten gar zu unmäßigen Aufwänden.

Eine ähnliche Kraft, meine ich, hatte im Mittelalter und weit darüber hinaus der Marienkult. Sogar Zwingli in Zürich, dem es gelang, so vieles umzustürzen, konnte es sich nicht leisten, die Verehrung der Muttergottes zu kritisieren. In einer Predigt, die im Buchdruck veröffentlicht wurde, verteidigte er sich gegen entsprechende Vorwürfe und bekannte sich ausdrücklich zur Marienverehrung. Alles andere wäre so undenkbar gewesen, wie wenn sich Elmar Ledergerber von den Grasshoppern distanzieren wollte.

Im Lauf des Nachmittags besuche ich auch das Museum, das dem Tempelbezirk angeschlossen ist. Aber ich komme nicht über den zweiten Saal hinaus. Die Wissensvermittlung interessiert mich zu wenig, als dass ich mir dafür die Füße in den Bauch stoßen lassen mag. Auch sind Kopf und Augen bereits zu voll von den Eindrücken.

Also nochmals zurück in den Schatten. Ein Schläfchen. Einkehr in der Bar, warten bis die größte Hitze vorbei ist, und dann Aufbruch.

Schon am Morgen habe ich in der Horizontlinie ausgemacht, welchen Sattel im Gebirge ich anpeilen wolle, und darauf gehe ich nun zu. Zunächst eine Stunde Asphalt, über die immer noch heiße Ebene, über die Hauptstraße SS18 hinweg, die hier als Autobahn ausgestaltet ist, dann auf Seitenstraßen und zuletzt quer durch die Olivenhänge hinauf nach Ogliastro. Von da aus kann ich sowohl rückwärts das ganze Land, durch das ich gekommen bin, wie auch vorwärts ins nächste Tal hinab blicken. Eine Höhenstraße führt mich weiter, ohne Verkehr, und ich wandere im warmen Abendlicht weiter.

Das empfohlene Restaurant im nächsten Dorf namens ‚Lady Mary’ kocht leider heute nicht. Die alten Männer im Circolo, die mir versichert haben, es sei geöffnet, bedauern es sehr, als ich zurückkomme, dass ich nicht bedient worden bin, und der Wirt legt sich ins Zeug und wärmt mir ein Panino auf. Ich speise und trinke und ziehe weiter. Männiglich stellt sich die Frage – aber niemand äußert sie – wo er wohl schläft, der Fußgänger. Denn ein Albergo ist weit und breit keins vorhanden.

Ich habe mir bereits einen Platz gemerkt. Die Kirche San Giugliano steht etwas abseits des Dorfes, und hinter ihr, unter einer Platane, verdeckt von einem Mäuerchen, finde ich ein gutes, eingefriedetes Plätzchen. Von der Kirchentreppe aus kann ich weit ins Land hinaus blicken, gegen die untergehende Sonne.

81 Cilento

Auf der großen alten Straße SS18 wandere ich weiter, jener Strada Statale, deren Kilometrierung bei Salerno anfängt und die bis an die Südspitze des Stiefels reicht. Für die Strecke da oben, auf den Höhen, haben sie aber unterdessen eine Variante gebaut, breiter und schneller und mit vielen Tunnels, unten im Tal, und so hat diese da oben ausgedient und wird in ihrer ganzen Breite nur noch vom Lokalverkehr benützt.

Nach einer Stunde – was sind schon Stunden in dieser Morgenfrühe, wo der ganze Tag noch vor mir liegt – komme ich zu meinem gewohnten, geliebten Kaffee-Cornetto-Frühstück. Auch die morgendliche Waschung möchte ich in der Bar vornehmen, aber die Tür ist verschlossen, und als ich an der Theke nach dem Schlüssel frage, heißt es ‚guasto’, kaputt. Kann ich sonst irgendwo meine Hände waschen?, frage ich. Da macht er den Schlüssel doch noch hervor, und nichts von ‚guasto’.

Von einer Nebenstraße verspreche ich mir einen kurzweiligeren, wenn auch weiteren Weg. Es geht hinauf in ein Dorf auf dem Berg. Dort oben ist es wieder Zeit für eine Stärkung, und die Batterie vom Handy muss nachgeladen werden. Ich merke aber: das Ladegerät ist nirgends. Ich muss es in Salerno, im Ostello, stecken gelassen haben. Stiller Ärger. Zunächst bei mir, kurz darauf am andern Ende der ‚Leitung’ bei Verena, weniger still. Kein Handy, das bedeutet: keine Verbindung mehr. Denn die öffentlichen Telefone sind seit meiner letzten Reise noch seltener geworden.

Meine Erkundigungen nach dem weiteren Weg werden mit vielen Worten gegeben. Sie verstehen es sogar, mein Bedürfnis nach Wegen abseits des Verkehrs. Einer will mich ein Stück mitnehmen, weil er dort oben ohnehin noch einen Ablauf reparieren muss. So lasse ich mich zwei Kilometer weit fahren, und dann kommt ein Feldweg über den Berg, wie er schöner nicht sein könnte. Weit unten im Tal verlaufen die Verkehrsstränge: Bahn, Autobahn, Straße, Fluss. Hoch oben in den Hügeln, auf den Terrassen, liegen die dicht ineinander gedrängten Häuser der Bergdörfer, und über allem ist der blaue Himmel gespannt.

Alles hat ein Ende. Ich komme hinab ins Tal und habe ein heißes Stück Straße vor mir. Gespräch mit einem Früchtebauern an seinem Stand am Straßenrand. Getränk in einem trostlos einsamen Lokal. Eine Stunde lang am linken Straßenrand. Dann breche ich aus und versuche einen Feldweg quer hinüber auf die andere Talseite. Das Fahrsträßchen stößt an den Fluss und führt auf der andern Seite weiter. Pause im Auenwald, baden im knietiefen, klaren Flüsschen, lesen, Flöte spielen. Einmal pflügt sich ein Jeep durchs Wasser. Niemand sonst.

Drüben führt der Weg zu einer Station. Die Ortschaft, die dem Bahnhof den Namen geliehen hat, ist 20 Kilometer weit entfernt. Aber hier haben sich einige Häuser angesammelt, sogar ein Restaurant ist da. Es ist Mittag, ein Uhr bereits. Ich kann ja nicht wissen, wie weit es geht, bis es wieder zu essen gibt. Ich lasse mich also ausnahmsweise auf ein Mittagessen ein, lasse mir Zeit, lasse das unbeaufsichtigt ablaufende Fernsehprogramm über mich ergehen, verzichte auch auf das Dessert nicht und lege mich dann, drüben im Pärklein auf der andern Straßenseite, ein wenig aufs Ohr.

Nach dem Erwachen geht’s gegen den späteren Nachmittag. Es ist immer noch heiß. Ich komme aus dem Dorf heraus und steige, nun wieder auf der alten SS18, die langgezogenen Kurven hinauf, immer jene Seite der Straße wählend, die von den Bäumen Schatten bekommt. Die Hexameter-Geschichten lassen mich die Zeit vergessen, ich sage alle auf von N bis Z. So erreiche ich, während kaum je ein Auto vorbeikommt, die Passhöhe und trotte weiter.

Abends um halb sieben ein Dorf: Pattano. Piazza bei der Bar. Die Männer sitzen um Tischchen und spielen Karten. Die verschiedenen Altersgruppen sind nicht gemischt. Die junge Frau von der Bar bringt Karten, wenn darnach gefragt wird. Zu trinken nimmt niemand. Ich kann mir nicht vorstellen, wie die Bar rentiert.

Wo sind die Frauen, abgesehen von dieser einen? Was tun sie um diese Zeit?

Gegenüber auf der andern Straßenseite ein Laden. Ich gehe hinein und poste frische Socken. Shorts hätten sie auch, für nur 10 €. Leider sind sie etwas zu knapp, Nummer 48.

Dann marschiere ich weiter. Nach einer Viertelstunde, am Ausgang des Dorfes, hält ein Auto neben mir: die Signorina vom Laden ist es. Sie hat mich eingeholt, weil sie doch noch eine Nummer 50 gefunden hat, dunkelblau, und bringt mir die Hose. Hinter einem großen Stein probiere ich sie an. Sie geht, und ich kaufe sie. Nun aber gibt es ein Problem, weil sie auf meine Fünfzigernote kein Herausgeld dabei hat. Sie geht über die Straße und ruft ins Haus hinein. Dort wohnt ihre Zia, die ihr mit den 40 € aushilft. Unser Geschäft kann abgewickelt werden.

Unterdessen gibt es Feierabendverkehr, und der Weg zieht sich in die Länge. Der große Ort, dem ich zustrebe und wo ich mir eine Unterkunft erhoffe, heißt Vallo – wie die Bahnstation, wo ich zur Mittagszeit war – Vallo delle Lucánia. Das Dorf liegt am Hang, ist sehr weitläufig, und die Informationen über die Hotels sind vielfältig und widersprüchlich. Zuletzt, oben in einer Bar, höre ich, dass das einzige Hotel sündhaft teuer sei, und es lohne sich, nach Novi Velia hinauf zu steigen, vielleicht zwanzig Minuten, und dort zahlst du 35 €.

Derartige Auskünfte von Leuten, die noch nie den Weg zu Fuß gemacht haben, kenne ich bestens. Ich rechne zum vornherein mit einer Stunde, und es ist unterdessen Abend, meine Füße sind müde. Aber dennoch nehme ich das Stück in Angriff und steige in das Städtchen hinauf, das ich schon von weit her auf dem Kamm habe thronen sehen.

Im Hotel Gelbison l’Ulivo finde ich ein Zimmer, und obwohl man unten von mehreren Hotels gesprochen hat, stelle ich fest, dass es das einzige ist, das um diese Jahreszeit geöffnet ist.

Die Frau an der Réception lässt mich merken, dass sie deutsch kann, dass sie sogar schweizerdeutsch versteht, und in solchen Fällen frage ich immer nach. Sie habe lange in der Schweiz gearbeitet, in Niederglatt. Ja, das kenne ich gut, sage ich, ich sei ganz in der Nähe aufgewachsen. Im Aïcchi habe sie gearbeitet, im Café dort. Plötzlich geht mir das Licht auf: im Altersheim ‚Eichi’ hat sie in der Cafeteria serviert, dort wo mein Vater die letzten sieben Jahre seines Lebens verbracht hat. Den Herrn Vogel, ja, sicher, den habe sie gut gekannt.

Zum zweiten Mal an diesem Tag sitze ich, geduscht und umgezogen, an einem Tisch und genieße das Nachtessen.

Anschließend will ich mich im Dorf noch etwas umsehen und vor allem nach dem weitern Weg umhören. Die Bar ist immer die beste Auskunftsquelle. In der Bar ist aber an diesem Abend kaum jemand bereit, sich mit einem Fremden über Wege und Pfade in den Gebirgswäldern zu unterhalten. Im großen Raum ist nämlich eine Leinwand aufgestellt, und sämtliche 80 Stühle sind besetzt. Es läuft das Halbfinalspiel Portugal gegen Holland. Also lasse ich meinen Bergweg bleiben, setze mich auch eine Weile dazu und erlebe sogar ein Tor von Holland, das einzige in dieser Partie, gar noch ein Eigengoal von Portugal. Italien ist zu diesem Zeitpunkt bereits ausgeschieden, sonst würden wohl die Emotionen noch viel höher gehen.

82 Passo Bella Beta

Auf meiner Straßenkarte 1:200'000 ist eine gestrichelte Linie über die Berge eingezeichnet, und damit könnte ich, abseits von aller Zivilisation und weitab vom Autoverkehr, einen großen Bogen direkt abschneiden. Aber wie finde ich diesen Weg? Wie finde ich vor allem seinen Anfang?

Nach dem hotelmäßigen zwiebäcklichen Frühstück begebe ich mich nochmals in die Bar von gestern Abend. Aber auch diesmal findet sich dort niemand, der etwas zu meiner Frage weiß, und so mache ich mich eben aufs Geratewohl auf den Weg. Schon lange habe ich gestern, zu oberst auf dem Berg, ein riesiges Kreuz gesehen, und dort hin weisen auch die Tafeln: zum Santuario Madonna di Novi Velia. Kurvenreich geht die Straße, die sonst kein anderes Ziel hat, den Berg hoch, und viele Stunden Aufstieg stehen mir bevor. Das Belastende ist, dass ich nicht weiß, ob ich nicht schließlich alles wieder herabsteigen muss. Eines der seltenen Fahrzeuge hält auf meinen Fingerzeig hin an. Ein junger Bursche kurbelt das Fenster herunter und erklärt, ja, er kenne den Weg, den ich suche. Er fordert mich auf, einzusteigen, und ich fahre mit ihm eine Viertelstunde hoch. Er heißt Nico. Auf halbem Weg zum Santuario gibt es einen großen Parkplatz, und dort führt er einen Kiosk und eine Veranda mit Tischchen. Vielleicht möchten die Leute, wenn sie nun schon die Fahrt auf den Gipfel gemacht haben und wieder herunter kommen, noch ein wenig hier in der Höhe verweilen, und das mag ihm dann etwas Kundschaft bringen. Im Moment sieht es aber ganz und gar nicht nach Publikum aus. Aber am Ende des leeren Parkplatzes, an einem grob gezimmerten Tisch, sitzen vier Männer: die solle ich nach meinem Weg fragen. Staatsarbeiter, Forstleute, die den Nationalpark hier betreuen und zur Zeit ausgiebig Znünipause machen. Leute, die es verstehen, der Arbeit Sorge zu tragen. Sie sind gerne bereit, mir zu helfen, und sie kennen den Weg, den ich suche. Ihre Beschreibung ist verständlich und einleuchtend. Und das Gespräch mit ihnen erleichtert mich.

Nach einer weiteren Stunde auf der Straße komme ich an die angegebene Kurve mit dem Kiesplatz nebenan. Ich schreite die Ränder ab, und tatsächlich finde ich einen Weg, mit Steinplatten gepflästert, der seitwärts hinab führt, in meiner Richtung. Das muss er sein. Und ich hätte mir nicht zu hoffen gewagt, dass er so deutlich erkennbar wäre. Schöner hätte ich es mir nicht denken können.

Aber schon nach zehn Minuten hört die Pflästerung auf, und die Fußwege verzweigen sich. Keinerlei Wegmarken. Wozu auch, wer den Weg begeht, wenn ihn noch jemand begeht, kennt ihn. Wiederum muss ich die beiden Abzweigungen ein Stück weit abschreiten und nachher entscheiden, welche ich für die wahrscheinlichere halte. Immerhin handelt es sich um einen Weg über eine längere Distanz, der sich doch von einem gewöhnlichen Weidepfad unterscheiden lassen sollte. Auf der Spur rechts stehen nach einigen Biegungen mitten auf dem Weg Ruten, da ist schon lange niemand mehr durchgekommen. Gut, ich entscheide mich und folge dem linken Pfad, der mich hinab führt, durch den Wald, manchmal mit einem Blick weit hinaus über die Hügel. Nirgends eine Behausung, ein Dorf. Einmal wieder ein Stück Pflästerung: das ist mir Bestätigung, dass ich mich an der letzten Abzweigung richtig entschieden haben. Dann verengt sich der Pfad, wird ein Kuhweglein, zwängt sich durch die Dornen – ich bin doch falsch. Ich kehre um und komme an eine Abzweigung, die ich übersehen habe, und da hängt an einem Baum an einer Schnur ein Plasticsack, wie wenn da jemand ein privates Wegzeichen aufgehängt hätte. Ich wäre also wieder auf meinem Weg.

Lange gehe ich durch den Wald abwärts und ich fühle mich immer wieder etwa durch eine eingesetzte Treppenstufe bestätigt: da ist Menschenhand am Werk gewesen. Ein alter Saumpfad. Dann geht’s über den Bach, und nachher zwänge ich mich zwischen Brennnesseln hindurch, komme auf eine offene Wiese hinaus und sehe unter mir ein Hüttchen, ein Hirtenunterstand. Zwei Hunde haben mich schon gehört und kläffen mich von weitem an. Gut, denke ich, da kann ich weiter fragen.

Die Hütte ist jedoch nur von den Hunden bewohnt. Kein Mensch weit und breit. Niemand zeigt sich. Aus einer Röhre kommt klares, kühles Wasser. Die Hunde tun wie wild. Ich setze mich an den Tisch unter dem Vordach und denke, irgendwann wird einer kommen, bei dem Lärm. Ich gehe um das ganze Anwesen herum. Ein Gärtchen, eine Einfriedung, um die Schafe zusammen zu treiben. Aber ich finde keine plausible Fortsetzung meines Weges. Ich komme zurück. Niemand.

Also folge ich dem ausgetretensten Kuhpfad, zwischen den hohen Farnbüschen. Das kann nicht mein Weg sein, aber einen anderen habe ich nicht gefunden. Und so komme ich dann aus dem Wald, stehe neben einem Eisenkreuz, schaue weit ins Land hinaus und stehe auf einer Fahrspur. Wenn sie da hinauf mit dem Jeep fahren können, so werde ich auch zu Fuß hinunter ins Tal kommen.

Von nun an ist es ein Leichtes, den zwei Geleisen und später dem Fahrweg zu folgen. Es geht stetig abwärts, ein oder zwei Stunden. Der Wald neben dem Weg wird dichter, wird später ein Kastanienwald, und schließlich kann ich zwischen den Bäumen hindurch Häuser sehen.

Im Dorf angelangt, frage ich, wo ich sei: San Menale heißt der Ort, und er ist auf meiner Karte verzeichnet. Ich erkundige mich nach einem Restaurant. Die Frau sagt, eben sei ein Auto hochgefahren, das sei der Wirt. Und als wieder ein Auto gefahren kommt, diesmal von oben, halte ich den Finger hoch. Der Fahrer hält an, und ich frage, wo da ein Restaurant sei. Er sei das Restaurant, sagt er, und er lässt mich mitfahren und führt mich zu seinem Lokal.

Es ist zwei Uhr nachmittags. Was wollen Sie essen? Mamma in der Küche wird es Ihnen zubereiten. Längere Beratung. Ich bin der einzige Gast in der grottoartigen Wirtsstube, und allgegenwärtig sind auch hier die drei Requisiten: der laufende Fernseher, das Kruzifix und an prominenter Stelle ein Bild vom Padre Pio.

Das Essen ist guter Durchschnitt, und ich muss sagen, so gut wie in der Emilia Romagna habe ich es seither kaum mehr angetroffen. Aber ich habe Hunger, und alle freuen sich über mein Wohlbehagen. Der Digestivo ist eine Gabe des Hauses, und der Preis für alles wird großzügig auf runde 10 € festgesetzt.

Eine Stunde habe ich da verbracht, und eine weitere knappe Stunde verliege ich draußen unter einem Nussbaum, schlafenderweise. Dann geht’s auf dem Sträßchen in den Hauptort hinunter, oder eher hinüber, denn auch dieses Städtchen liegt wieder auf einem Berg.

Eine alte Großmutter, die ich nach der Piazza frage, sagt nicht ‚giù’ für ‚hinab’, sondern ‚a bascia’, und als ich sie auf diese Tatsache anspreche, sagt sie: Jedes Land hat eben seine Sprache.

In der Bar spricht die Frau hinter der Theke französisch mit mir. Denn nach der ersten Frage wie immer (Di dove è?) setzt sie voraus, dass ich als Schweizer französisch kann. Und ich merke dabei tatsächlich, dass es mir leichter fällt als das Italienische und dass ich mich differenzierter ausdrücken kann. Sie ist Französin, née au Maroque, aufgewachsen im Loire-Tal, nun aber schon lange hier verheiratet, und sie kann nur dialetto und nicht italienisch. Und was hat Sie nach Italien geführt? Ja, eben l’amour. Ich schaue den Wirt an, ihren Mann. Stimmt, ein rassiger Mann. Was macht wohl die ‚amour’ heute?

Der Ort heißt Rofrano, und ich zweifle, ob ich am Vormittag die Abzweigung und den Pfad gefunden hätte, der mich auf so schönen Spuren durch die einsamen Waldtäler geführt hat, wenn jene vier Parkarbeiter, wenn Nico nicht gewesen wäre.

Weiter geht’s, nun wieder auf der Straße, aber nur selten kommt ein Fahrzeug. Das Abendlicht beleuchtet mit warmen Farben eine weite Landschaft, die Hitze hat nachgelassen und der Weg führt abwärts. Es ist ein schönes Gehen, auch hier auf der Straße.

Einmal versuche ich, eine der langweiligen Spitzkehren abzuschneiden. Eine Fahrspur führt in ein Olivenfeld hinein. Auf dem weichen, umgepflügten Boden zwischen den Stämmen steige ich hinab und kann unten bereits wieder die Fahrbahn sehen. Aber die letzten zwei Meter sind unüberwindbar. Zu dick und zu stachlig ist die Dornenhecke. Ich muss wieder hochsteigen und kann nur auf dieser einzigen Zufahrt aus dem Feld herauskommen. Es gibt nichts anderes: jede Kurve muss begangen werden.

Und dann stößt meine Straße auf eine größere, und es ist wieder einmal die bekannte SS18. Aber auch hier: selten ein Fahrzeug. Der Verkehr gegen Süden ist von einer unterdessen neuerstellten Fernstraße SS18a übernommen worden.

Noch wären es drei Stunden bis zur nächsten größeren Ortschaft, doch da taucht ein Schild auf: ein Hotel steht nicht weit von der Straße auf dem Hügel: il Centauro. Meine Beine haben die nötige Schwere, dass mir der Entschluss leicht fällt. Die Dusche ist eine Wohltat, ebenso das kühle Bier. Auf das Nachtessen kann ich verzichten.

Hier gibt’s auch ein Telefon, und ich erfahre von Verena, dass die Taufe von Josephine auf den 8. August festgesetzt ist und dass Pfarrer Fritschi dafür zugesagt hat.

Noch am Abend zahle ich das Zimmer, denn am Morgen wollen sie im Hotel lange schlafen, und Frühstück solls erst ab halb neun geben.

Vor mir liegt als großer Brocken, quer im breiten Talboden, der Monte Bulghena und verdeckt den Blick aufs Meer. Aber morgen werde ich schon um die Mittagszeit wieder am Strand sein und habe dann die vorspringende Ecke, die Warze über dem Rist, abgeschnitten.

83 Sapri

Eine Stunde Weg. Schöne Straße, heller Morgen. „Dir ists als zög die Liebste des Weges nebenher.“ Dann Frühstück mitten unter Leuten in einem Café mit Bäckerei in Castelruggiero. Eine Stunde später zweigt eine Strada bianca ab. Ich wag’s. Wegweiser fehlen, und meine Karte ist viel zu pauschal. Ich komme an den Fluss. Einer auf dem Trax stellt seinen Motor ab, um mir Auskunft zu geben. Ja, der kleinere Weg ‚lungo fiume’. Einige Kilometer geht’s wirklich auf Wald- und Wiesenpfaden dem reißenden Fluss nach, dem Fiume Bussento. Eine schöne, wilde Landschaft. Bei einem Zeltplatz komme ich dann wieder auf die SS18 zurück.

Eine der seltenen Begegnungen: Da kommt mir einer zu Fuß entgegen. Turnschuhe, gut aussehender Mann in meinem Alter, in sportlicher Kleidung. Wir nehmen uns Zeit, stellen uns in den Schatten eines Baumes und berichten von uns. Er ist ein pensionierter Militärpilot, der hier unten sein Haus gebaut hat. Mit der Frau ist er heute an den Strand gefahren – sie liegt jetzt dort unter dem Sonnenschirm, und er marschiert heimzu, um so seine tägliche Portion Bewegung zu bekommen. Ja, die Schweiz kenne er von Aviatik-Veranstaltungen her. Er ist extra einmal hingefahren, um den FA 18 sehen zu können.

Nur noch 2 km bis zum Meer. Dann bin ich dort. Sanftes Blau. Ich gehe wieder einmal auf dem Sandstreifen, die Füße von den Wellen rhythmisch überspült. Hier aber nicht ganz so paradiesisch wie am Strand vor Neapel. Stellenweise gibt es Kies statt Sand, manchmal sind Umwege nötig. Von Zeit zu Zeit immer wieder ein Bad im Meer. Das kühlt ab.

Zu trinken gibt’s genug: alle halben Kilometer steht eine dieser Getränkebuden. Sitzen unter dem Sonnendach und hinausschauen aufs tiefblaue Meer, fast wie in Griechenland.

Zehn Kilometer sind es noch bis Sapri, und um vier Uhr komme ich dort an. Die Stadt liegt in einer Bucht. Sie ist von den blauen Hügeln umgeben, und wenn ich zurück blicke, kann ich in weiter Ferne sogar das Kreuz auf dem Gipfel des Monte Sacro (oder Monte Gelbison genannt) erkennen.

Vorerst habe ich nur ein einziges Bedürfnis: wieder zu einem Ladegerät für mein Handy zu kommen. Im Moment schläft die Stadt, das Geschäft öffnet nach der Siesta, und das bedeutet um fünf. Ich verbringe die Wartezeit in einer Bar, die einen Hinterhof hat, einen Garten mit Zitronen- und Orangenbäumen. Die Bar Pepita. Ich kann auch mein Gepäck hier zurücklassen und unbeschwert durch die Stadt schlendern. Eine Bar, wie ich so viele kennen gelernt habe, wo sie mir ohne Herablassung jede Bitte erfüllen und jede Auskunft erteilen. Ein intelligenter Mann, der mit mir ein klares, deutliches Italienisch spricht, aber ohne herablassende Simplifizierung.

Nach meinem Einkauf (für nur 12 € gibt es das neue Ladegerät) komme ich in die Bar zurück, sitze weiterhin im Garten, warte auf das Aufladen an der Steckdose und warte darauf, dass es halb acht wird, weil erst dann die Restaurants zum Essen öffnen.

Der Kellner ist etwas überfordert von meinen speziellen Wünschen und meiner Ausdrucksweise. Aber der Fisch ist vorzüglich. Das ‚contorno alla stagione’ erweist sich als gekochtes, aber kaltes Gemüse; etwas gewöhnungsbedürftig, aber nicht schlecht.

Dann geht’s im Abendlicht zur Stadt hinaus, etwa zwei Kilometer weit. Die Straße folgt dem Fuß des Gebirges, dem Meer nach, und ist in den Steilhang eingebaut. Ich finde eine Stelle, wo ich durch die Ginsterbüsche und über das Geröll hinunter zum Meer steigen kann, und suche mir einen Platz für die Nacht. Die Sonne geht hinter dem Monte Bulgheria unter. Auf der Meeresfläche zieht ein Fischerkutter vorbei und überquert den spiegelnden Lichtstreifen. Scharf geschnitten zeichnet sich die Horizontlinie vom Himmel ab.

Ich steige ganz hinab ans Wasser und tauche zum letzten Mal an diesem Tag hinein und spüre das Salz auf der Zunge. Dann wieder zurück über die aufgewärmten Felsplatten zu meinem Schlafplatz. An das harte Lager muss ich mich noch gewöhnen, so schnell schlafe ich da nicht ein, und so sehe ich den Himmel dunkelblau und schwarz werden und sehe die Sterne nach und nach aufscheinen.

84 Maratea

Die Straße – nach wie vor die SS18 – ist das einzige begehbare Stück Erde hier. Links steigt der karge Fels steil auf, rechts fällt das Gelände ab ins Meer, das manchmal 50 und dann wieder 300 Meter unter mir liegt und blau glänzt im Sonnenlicht. Die Straße schlängelt sich in vielen Kurven dem Berg nach, schlüpft in alle Täler hinein und wagt sich dann wieder auf die vorspringenden Kreten hinaus. Ein gewaltiges Bauwerk. Man versteht die Menschen früherer Zeiten, dass sie sich lieber bequem auf dem Wasser fortbewegt haben. Unterdessen ist ja alles auf Achse und wäre dieser Weg zu kurvenreich; die Autostrada del sole verläuft im Landesinneren, und das Bahngeleise fast ausschließlich im Tunnel.

Heimatschutz entdecke ich auf einer der Baustellen längs der Straße. Zum Schutz gegen Abstürze über den Straßenrand hinaus gibt es eine Mauer, schön aus Steinen gefügt. Jedenfalls so sieht es aus. Dort aber, wo sie neu erstellt wird, kann ich den Aufbau erkennen: es ist ein Band aus gegossenem Eisenbeton, das mit zwei Zentimeter dicken Fertigelementen überklebt ist, die aussehen wie Mauerwerk. Fournier.

Nach zwei Stunden das erste Dorf: Aquafredda. Schon habe ich es durchschritten und muss befürchten: keine Bar. Aber da schickt mich einer zurück, ich finde das Lokal und bekomme frische und noch warme Cornetti, über die Theke gereicht von einer alten, verbrauchten Frau ohne Blick im Gesicht.

Noch 9 km bis Maratea.

Der Verkehr hat nun zugenommen, zum Singen ist’s nicht mehr. Ein Platz zum Ausruhen ist schwierig zu finden. Aber der Blick aufs Meer entschädigt für alles.

Hoch oben auf einem Gipfel thront der Cristo, eine 22 Meter hohe Statue aus Beton, ein Christus mit ausgebreiteten Armen, größer-schöner-besser. Aber den habe ich jetzt bereits hinter mir gelassen. Und in Marateo Marittima mache ich den Abstecher auf einer Nebenstraße, hinunter zum Meer, zum Strand, miete mir für zwei Stunden einen Sonnenschirm mit Liegestuhl, kaufe mir am Kiosk eine Fertigpizza und viel, viel Wasser, und dann tue ich es den andern Strandgästen gleich: schlafen, den Bauch ins Meer tauchen, schlafen, dösen, die heiße Mittagszeit vergehen lassen.

Um halb vier bin ich wieder auf der Piste. Wunderschönes Panorama. Dem Ufer vorgelagert kleinere, felsige Inselchen. Und zusammen mit dem ‚Fingerhütchen’ lasse ich die Blicke schweifen.

Das Gedicht von Meyer habe ich einmal auswendig gewusst, und während des Gehens versuche ich es aus meinem Gedächtnis hervorzuklauben. Ein Zusammensetzspiel, das mich die Autos vergessen lässt. Fast schaffe ich’s. Ein letztes Zeilenpaar will mir einfach nicht in den Sinn kommen. Zu Hause wär’s ein Leichtes; ein Griff ins Büchergestell.

Mir geht auf einmal auf, wie das Gedicht streng architektonisch aufgebaut ist. 14 Strophen sind es, und jede hat 2 mal 4 plus 2 mittlere Verse, das macht insgesamt 140 Verse. Die Geschichte ist verteilt auf

3 Strophen Vorgeschichte,
1 Strophe reale Erzählung einer Rast am Wiesenbord,
3 Strophen Wahrnehmung des feenartigen Gesangs,
3 Strophen märchenhaftes Geschehen,
3 Strophen reale Erzählung des nächtlichen Schlummers,
1 Strophe Abgesang und Schluss

also 7 plus 7 Strophen, wobei die mittleren 3+3 das irreale Geschehen schildern.

Mein Handy kommt mir zuletzt zu Hilfe. Ich bitte Verena per sm, mir die beiden fehlenden Zeilen nachzuschlagen, und fünf Minuten später kann ich sie auf dem Display lesen: „Selig preist er Nacht und Stunde, da er sang im Geisterbunde.“

Ich glaube, es handelt sich um ein Schlüsselgedicht von Meyer. Er, der sich mit seiner Vertracktheit wie ein Krüppel vorgekommen sein mag, darf dank seinem Gesang mit den passenden Worten, dank dem ‚Reim’, die Heilung, die Zurechtbiegung über sich ergehen lassen. Den Seinen geben’s die Götter im Schlafe.

Unter solchen Überlegungen bin ich ans Tal des Castrocucco gekommen. Die Felsenstraße ist vorbei. Von weit oben schaue ich auf das Flussdelta und auf die Stadt in der Ebene hinunter. Am liebsten möchte ich quer den Abhang hinab steigen, aber wer sagt mir, ob nicht irgendwelche von hier aus unsichtbare Hindernisse das Durchkommen behinderten; ich bleibe auf der Straße.

Unten am Strand die Hotelsuche. Eine Absage nach der andern. Da kommt mir Hermes entgegen, in der Gestalt einer Polizia comunale: die Polizei, dein Freund und Helfer. Sie raten mir, beim Campeggio, 300 Meter weiter vorn, zu fragen. Das ist die Idee. Nur meinen Nischenplatz bekomme ich diesmal nicht. Mitten in der Zeltstadt weisen sie mir ein Plätzchen an. Da hänge ich meine Sachen an die Einzäunung, lege meinen Schlafsack aus, nütze die sanitarischen Möglichkeiten weidlich aus, genieße den Sonnenuntergang vom Restaurant aus und genehmige ein gutes Nachtessen.

Ich rechne aus, dass ich diesen Tag rund neun Stunden marschiert bin; gemäß Karte habe ich knapp 30 Kilometer zurückgelegt, in der Luftlinie 22 Kilometer. Das ist viel und ist nur möglich, weil ich den ganzen Tag Straße unter den Füßen gehabt habe.

Die Nacht wird die unangenehmste aller bisherigen. Unweit von meinem Platz findet die Disco im Freien statt. An die laute Musik könnte ich mich vielleicht noch gewöhnen, aber sie bricht immer wieder abrupt ab, dann dröhnt eine Ansagerstimme gegen den Himmel, Applaus brandet auf, Musik stampft wieder los. Dazu kommt das Schwitzbad im Schlafsack, und wenn ich heraus krieche, bin ich ein Fraß für die Schnaken. Um Mitternacht sei’s fertig, lasse ich mir sagen, es wird dann halb eins, bis sie endlich abstellen, und von nun an hört man, was vorher übertönt worden ist, nämlich die Disco vom benachbarten Zeltplatz, und die dauert bis um vier. Hinter dem Zeltplatz brausen zudem die Schnellzüge vorbei, neben meinem Schlafsack, gleich hinter der Abschrankung, fahren neu eintreffende Gäste mit dem Auto herein oder fahren andere in den Ausgang. Zwischenhinein stehe ich einmal auf und begebe mich noch einmal unter die Dusche. So geht wenigstens die Zeit vorbei.

85 Diamante

Es lohnt sich nicht, noch länger liegen zu bleiben. Zwar ist es unterdessen nun ruhig geworden. Aber kaum wird es hell, packe ich meine Sachen zusammen und ziehe los. Hinauf zur Hauptstraße, die schwingt sich in schwindelerregender Höhe mit einem Viadukt über ein tief eingeschnittenes Seitental. Sonntag Morgen. Aber die Fahrzeuge brausen in rasanter Geschwindigkeit an mir vorbei. Eine Stunde Mühseligkeit.

Nach dem Viadukt zweige ich ins Dorf ab. Eine Bar mit missmutiger Lady. Nicht einmal das Handy lässt sie mich aufladen. Ein Gast fährt mich an die Straße zurück und zeigt, wo ich auf den Bus warten soll. Am Sonntag fahre kein Bus, hat die Lady behauptet, und er behauptet das Gegenteil. Ich stehe und warte. Die Lady hat recht. Dann bringt mich eine kleinere Nebenstraße vom Verkehrsgewühle etwas weg.

In Scalea (mit Betonung auf der ersten Silbe), nach einigen Umwegen übers Hinterland und durch Vorortsquartiere, kann ich meinen Studien über die Frage nachgehen, wie es eine Stadt am besten fertig bringt, den Menschen das Fußgängerwesen auszutreiben. Hier ein Dutzend gut gemeinte Ratschläge:

Je weiter ich gegen Süden komme, desto effizienter werden diese Maßnahmen durchgesetzt.

Als ich klein war, sagte man dem Gemeindearbeiter Wegknecht. Mit dem Hackbeil schlug er am Straßenrand die Böschungen weg, die auf den Teer hinaus wuchsen, und führte die Wiesenpöschen in einer Karette weg.

Ich denke über ein Entwicklungsprojekt nach, wie man alte Saumpfade und Wanderwege wieder instand stellen und unter Schutz stellen könnte, genau wie die andern Kulturgüter.

In Scalea, in der Nähe des Bahnhofs, komme ich an einem Schuhladen vorbei, der geöffnet ist. Ich kaufe mir neue Schuhe und lasse die alten, stinkigen gleich im Laden zur Entsorgung. Ein erstes Paar Turnschuhe in Parma, nachdem die Wanderschuhe von zu Hause arg dreingesehen haben. Mit diesen neuen war ich sogar in der Oper. Ein Paar in Subiaco. Nun wieder eins hier. Neu sind sie jeweils weich und elastisch, es geht sich wunderbar damit auf dem Asphalt. Aber schon nach wenigen Tagen sind sie so abgelaufen, dass von der Federung nichts übrig bleibt.

Auf Nebenstraßen durch ein sonniges Land mit großen alten Eichen und einer dunklen Erde. Siesta am Waldrand. Berge in der Ferne wie im Salinas Valley von Steinbeck. Hier in der Ebene Kulturen und am Fluss viel Schilf.

Die Hitze ist drückend. Ich bin bereit, bei der nächsten Bahnstation auf einen Zug zu warten. Das erübrigt sich aber. Die Station existiert nur noch als Gebäude. Sie sagen mir, dass werktags ein einziger Zug am Morgen anhalte, für die Schüler. Aber eine Bar gibt es, und dort komme ich ins Gespräch mit dem Barkeeper und mit einem Gast. Zuletzt bringt er mich mit seinem Pickup einige Kilometer über die heiße Ebene, wieder hinab ans Meer.

Er stammt von Perugia, aber seine Frau ist von hier, und auf dem ‚terreno’ von seinem Schwiegervater hat er sich ein Haus gebaut. Er arbeitet auf dem Zeltplatz, und er sagt, der Haupterwerb dieser Leute hier sei der Tourismus. Er wohnt im Winter jeweils einen Monat in Perugia, redet aber begeistert von Kalabrien.

Beim Vorbeifahren weist er mich auf einige Ruinen hin, die oben auf der Bergkuppe stehen. Das sei das alte Cirella. Auf meiner Karte ist es auch vermerkt als ein historischer Ort. Er gibt aber, von da unten, nichts anderes zu sehen als ein paar Reste von Türmen und Mauern. Die Stadt sei im 16. Jahrhundert von einem französischen Admiral vom Meer aus zusammengebombt worden, aus dem einzigen Grund, weil besagtem Offizier in Sizilien ein Wein von Cirella vorgesetzt worden sei, der ihm nicht gemundet habe.

Die letzte Stunde bin ich wieder auf der SS18 unterwegs. Im Hotel Diamante gibt’s für mich ein Zimmer. Eine Absteige für ältere Feriengäste. Leute, die sich eine Ferienwoche am Meer leisten. Im Speisesaal nehme ich an der Cena teil. Im Eiltempo wird an den vielen Tischen 200 oder mehr Gästen das Menü (wobei es noch Varianten gibt) hingetätscht.

Am Meer nehme ich am Sonnenuntergang teil und schaue zu, wie die rote Scheibe ins Wasser taucht.

Johannes ruft an. Er interessiert sich dafür, einige Tage mich zu begleiten. Ich würde mich freuen und überlege, ob vielleicht der Ätna ein gemeinsames Ziel sein könnte.

Das Hotelzimmer ist bequem und sauber und modern, kurz es ist ein 0815-Zimmer. Es schläft sich gut im weißen Bett. Und still ist es.

Ich habe mich entschlossen, nicht mehr weiter dem Meer nach zu gehen. Strand, Sand, Menschenleiber, Imbissbuden und Sonnenschirme habe ich nun schon zur Genüge gesehen, und mir kommt es vor, ich verpasse das eigentliche Italien. Aber gegen das Landesinnere erheben sich hohe Gebirgsketten, und ich bin auch nicht mehr bereit, meine Reise durch Umwege noch in die Länge zu ziehen. Deshalb will ich mit einem Bus ostwärts auf diese Hochebene fahren und dann, mehr oder weniger auf gleicher geographischer Breite, meine Wanderung gegen Süden fortsetzen. Auf der Karte ist eine kurvenreiche Straße eingezeichnet, die von Belvedere aus durch einen großen Naturschutzpark in die Höhe führt.

86 San Donato

Ich fahre mit dem Bus die paar Kilometer nach Belvedere. Ich frage während der Fahrt den Chauffeur nach dem Anschluss Richtung San Donato. Er hat keine Ahnung. Fragen Sie in der Bar. Gibt es überhaupt einen Bus? Fragen Sie in der andern Bar… das ist dort, wo ich ausgestiegen bin. Dort heißt es, um Viertel vor eins, Abfahrt gleich hier vor dem Haus. Also habe ich 4 ½ Stunden Zeit. Was mache ich?

Ich bin sicher, es gibt hunderte von Leuten in diesem Ort, die keine Arbeit, aber ein Auto haben und glücklich wären, mich für 30 € dort hinauf zu führen; wenn ich nur mit einem von ihnen zusammen kommen könnte. Ein Hauptproblem des Marktes: die Kommunikation.

Ich rufe ein Taxi an. Er will 80 €, und das ist mir wiederum zu viel. Soll ich versuchen, Autostopp zu machen?

Schließlich gehe ich an den Strand hinunter. Ich will warten. Was sind schon die vier Stunden! Wenn ich nur wenigstens sicher wäre, dass die Information über den Busfahrplan stimmt. Angeschlagen ist nichts. Wozu auch, wer fährt schon Bus, und die, welche ihn brauchen, wissen den Fahrplan.

Ich nehme unten am Lido einen Strandstuhl mit Sonnenschirm bis Mittag, ich lese, übersetze, kühle mich dazwischen im Wasser ab, genieße die kleinen Wellen, die ans Ufer schlagen. Das Buch von Camilleri ist sehr schwierig für mich. Der Buchhändler hat ja auch den Kopf geschüttelt, als ich mich dafür entschloss. Aber so viel bekomme ich mit: es schildert ein Stück typische Welt von Sizilien, mit seinen unverrückbaren Gesellschaftsschichten und seinen brüchigen Fassaden.

Um 12 packe ich zusammen. Ich will rechtzeitig dort sein. Ich frage nochmals nach, in der selben Bar. Es ist unterdessen ein anderer da, aber der bestätigt mir: Viertel vor eins.

Punkt 12:45 Uhr kommt der Bus, aber er ist anders angeschrieben, ich lasse ihn abfahren. Dann aber kommt mir plötzlich der Gedanke: Der fährt zum Bahnhof, und von dort fährt dann mein Bus nach San Donato. Nun ist er weg, und ich kann bis am Abend oder gar bis morgen Mittag auf den nächsten warten. Zum Bahnhof sei es 15 Minuten weit, sagt eine Frau. Ich renne, mit meinem Rucksack beschwert. Bei der nächsten Station hole ich den Bus ein, den ich vorher abfahren ließ. Nein, sagt der Chauffeur, er fahre nicht zum Bahnhof. Also zu Fuß weiter, im Laufschritt. Dort steht tatsächlich der Bus nach Castelvillani bereit, ich steige ein, und er fährt los. 5 vor eins. Die Kraftübung hat sich gelohnt. Es ist der einzige Bus im Tag auf dieser Strecke. Kein Kunststück, einen solchen Fahrplan im Kopf zu behalten, für die, die es nötig haben.

Die Fahrt ist kurzweilig. Zuerst geht es nach Belvedere hinauf. Was ich bisher gesehen habe, ist bloß der neue Ort unten am Meer. Hier oben auf dem Hügel, weit sichtbar von hoher See aus, steht die alte Stadt. Auf dem Hauptplatz dreht der Bus. Die Wartezeit bis zur Weiterfahrt reicht, dass einige ihre Wasserflasche am Brunnen auffüllen, aber sie reicht nicht zu einem Stadtrundgang.

Dann geht’s wieder hinunter und auf die genannte kurvenreiche Straße, hinauf auf den Passo dello Scalone, hinüber nach Sant’Agata, weiter nach San Sosti. Die Orte sind eine halbe Fahrstunde voneinander entfernt, und dazwischen gibt es nichts als eine weite, menschenleere, gebirgige Waldgegend.

San Donato habe ich mir zum Ziel ausgesucht, weil es der höchstgelegene Ort ist. Der Bus setzt mich nach zweistündiger Fahrt unten am Fuß des Hügels ab. Es ist drei Uhr, also Zeit, zunächst Siesta zu machen. Im Schatten ist die Hitze angenehm. Camilleri weiter und Flötenspiel. Pan hält sich bedeckt.

Ich finde die alte Straße, die von hinten her in die Stadt hinauf führt, und komme nach einer halben Stunde auf die Piazza. Den Rucksack lasse ich eingestellt in der Bar, wandere durchs Dorf hinauf, immer höher, und komme zu oberst zur Kirche, die leider geschlossen ist. Vor der Fassade ein großer Platz mit eindrücklicher Weitsicht.

Erkundigungen nach dem Kirchenschlüssel führen zu Gesprächen. Drei Leute berichten, sie seien in der Schweiz gewesen, hätten in der Bally gearbeitet. Das Bedauern, dass es diese Weltfirma nicht mehr gebe, schwingt bei ihnen durch.

Zum Essen wird mir die Pizzeria, etwas außerhalb des Ortes, empfohlen. Als ich komme, ist kein Gast sonst da. Ich sei noch zu früh. Aber ich tue kund, warten zu wollen, bis es Zeit sei, und bestelle einen Aperitif. Da machen sie denn doch vorwärts, bringen mir die Karte. Der Wirt ist zunächst zugeknöpft, taut dann aber auf, freut sich, als er hört, dass ich sogar in Belvedere von seinem Lokal gehört hätte. Was allerdings faustdick übertrieben ist.

Ich sitze draußen unter den Sonnenschirmen und blicke hinaus ins Land. Rund um mich viel Wald, viele gelbe und braune Felder, Olivenhaine und Ginsterbüsche. Eine sommerliche Weite.

Das Essen ist vorzüglich. Vom Wein gibt es nur teure Flaschen, das ist das einzige, was mich stört.

Nach dem Essen Abstieg, diesmal auf einem anderen Fußweg, zum Bivio, wo ich vor einigen Stunden aus dem Bus gestiegen bin. Dann eine Seitenstraße. Nach einem halben Kilometer linkerhand ein verfallenes Haus mit Zufahrt. Ich finde einen abgeschirmten Platz, wo ich mich zwischen dem Gebüsch schlafen lege.

87 San Marco

Wecker Viertel vor sechs und weg. Ruhiger Weg, aber breite Piste, Oliven, Ginster, vielleicht sogar eine Nachtigall. Kulturen in der Ebene.

Im ersten Dorf kaufe ich im Lebensmittelladen ein. Die beiden, er und sie, sprechen beide deutsch, haben zwölf Jahre in Stuttgart gearbeitet, sich dort kennen gelernt, geheiratet, gespart neben den Kindern was nur geht, und haben sich nun da auf dem elterlichen Grundstück das große Haus gebaut und ihr Negozio eingerichtet. Eine Beispielkarriere. Nur zweifle ich am nötigen Umsatz. Wo sollen denn die Kunden für den großen Laden herkommen? Jedenfalls jetzt am frühen Morgen bin ich der einzige und mit dem einzigen Joghurt auch nicht gerade ein Kunde, der den Umsatz anregt.

Weiter geht’s. Ein großer Parkplatz am Weg, ein Betonstreifen hinunter zu einer Ausgrabung. Römische Villa. Die Orientierungstafeln sind beschädigt, die ausgegrabenen Fundamente wieder überwachsen. Der Run auf das historische Gelände ist offenbar ausgeblieben.

Die Straße macht einen großen Bogen um einen Stausee herum. Alles sehr abgeriegelt. Ich werde an das Atomkraftwerkgelände erinnert, das ich einmal unbefugterweise betreten habe, oben im Apennin. Später höre ich, dass dieses Stauseeprojekt hier unterdessen 15 oder 20 Jahre alt sei, aber das Geld sei im Lauf der Bauzeit ausgegangen, und bisher sei noch keine einzige Kilowattstunde erzeugt worden.

Eigentlich hatte ich im Sinn, einen als gestrichelte Linie eingezeichneten Weg zu benützen, der das Gebiet überquert, aber daraus ist nichts geworden. Ich habe den Weg nicht gefunden – vielleicht ist er im Stausee versunken – und bleibe auf der Autostraße.

Endlich wieder ein Dorf, eine Bar, etwas für den Durst. Kommt ein Pickup gefahren, steigt einer aus: Giuseppe, der vom Dorfladen. Ich möchte ihn nach Wanderwegen ausfragen, aber er sagt: Komm, ich nehme dich ein Stück mit, zur Station San Marco. Ich bin überrumpelt und steige ein. Dort, wo er mich absetzt, geht aber eine Schnellstraße weiter. Es braust einer hinter dem andern her.

Ich finde einen Feldweg, parallel zur Straße, zwischen abgeernteten Getreidefeldern, von einem Bauernhof zum andern, eine Strada bianca, da lässt es sich, trotz brennender Hitze, gut gehen. Gerne hätte ich gewusst, um was für Getreide es sich handelt, aber da fehlen wieder die Sachbegriffe. Was für ein ‚tipo di granno’? ‚Granno generale’, ist die Antwort. Ja, für Brot.

Am Weg reife Feigen. Dann quer über die abgeernteten Äcker.

Immer mehr fällt mir dieser Padre-Pio-Kult auf. In jeder Bar ein Kleber ‚Padre Pio beschütze uns’, und sogar der fahrende Gemüsehändler schreibt sein Gefährt vorne groß an mit ‚Padre Pio’. In jeder Ortschaft steht im Zentrum an einer Ecke so eine Plastikstatue von diesem braungekutteten bärtigen Mönch mit seiner leicht vornübergebeugten Gestalt und seinem doofen Lächeln. Ein großer Mann, sagt der in der Bar zu mir, als ich ihn ironisch frage, ob das der neue Jesus sei.

Es geht wieder aufwärts, und um fünf komme ich in San Marco an. Gleich zu Beginn setzt mich eine Studentin ins Bild über die Bedeutung der Stadt. Sie studiert alte Sprachen, und sie legt mir die Kathedrale mit der normannischen Krypta ans Herz.

Ich gehe in die Stadt hinein. Sie ist schön gebaut und schön gelegen, am Rand einer weiten Ebene, und es geht ein frisches Windlein. Das Haus am Platz hat vier Sterne und wird mir (wohl auf Grund meines pilgerartigen Aussehens) abgeraten: particolare, prezzo alto.

Die Kathedrale ist groß und ist nichts Besonderes, aber die Krypta mit ihren vielen Spitzbögen ist wirklich außergewöhnlich. Wer kommt mir da entgegen: wieder die Studentin, Elena Caparello, mit ihrer Freundin aus Japan, und sie freut sich, dass ich mich tatsächlich für ihre Kirche interessiere.

Das andere Baudenkmal wäre der normannische Turm aus dem 11. Jahrhundert. Er ist noch ganz intakt, ich verzichte dennoch darauf, mich um eine Besichtigung zu bemühen. Es ist noch zu früh zum Bleiben, der Abend hat noch zwei oder drei kühle Stunden bereit. Also weiter.

Es gibt einen langen und mühsamen Weg hinaus zur Stadt und dem Hang nach, auf und ab, südwärts. Weit vorn sehe ich Mongrassano, bis dorthin möchte ich heute noch kommen und mir dann einen Platz zum Schlafen suchen. Es ist Abend, und die Straße mit den vielen Kurven, dem Abhang folgend, zieht sich beträchtlich in die Länge.

Endlich bin ich im Dorf. Schon am Eingang, bei einem Brunnen, sehe ich mich um nach einem abgeschirmten Platz, wo ich liegen könnte. Ich wasche mich und suche dann die Piazza auf. Mit einem Aperitif setze ich mich ans Trottoirtischchen und schaue ins Getriebe all dieser Männer, die sich das Stelldichein geben, bevor sie sich nach Hause an die Cena begeben.

Neben mir ein junger Mensch. Er spricht mich an. Im Gegensatz zu all den andern, die diese Frage nur im Kopf bewegen: Von wo sind Sie? Mit meinem großen Rucksack, in dem sich alles befindet, was ich habe, bin ich überall eine Attraktion.

Er ist Student in Cosenza, der Hauptstadt dieser Provinz, und zwar Student der Philosophie. Sogleich sind wir in einem angeregten Gespräch. Es gibt Leute, mit denen bleibt die Unterhaltung im Small talk stecken, und das mag ja durchaus auch angenehm sein, denn unabhängig vom Inhaltlichen kann sich auch über den Klang der Sprache Sympathie übermitteln. Daneben aber gibt es Leute, da bist du gleich nach den ersten Sätzen mitten in den Fragen, die interessant sind.

Nach einige Zeit sagt Antonio: Der Abend ist lang; soll ich Ihnen das Dorf zeigen. Das lasse ich mir nicht zweimal vorschlagen. Wir spazieren durch die Gassen, über die Plätze und Plätzchen, und er weist mich auf Bauelemente hin, Verzierungen über dem Türgericht, Inschriften, und spricht von der Ansiedelung dieser Leute im 17. Jahrhundert, die aus Albanien nach Italien herüber gekommen sind und denen von einem Bischof dieser Gebirgshang als neues Siedlungsgebiet zugewiesen worden ist. Wir sind ein griechisches Volk, sagt er, und die Solidarität und die Gastfreundschaft ist immer noch lebendig. Diese Plätze sind ein Ausdruck davon. Wer hier sein Haus hat, versteht sich als Teil des Ganzen.

Wir kommen auf die Piazza zurück. Antonio sagt: Der dort ist ein Deutscher. Er hat da im Dorf ein Haus. Er stellt mich ihm vor. Er heißt Franco, und er ist überhaupt kein Deutscher, auch wenn er mit mir akzentfrei deutsch spricht. Seine Frau, die auch dabei steht, sie allerdings ist Deutsche, auch deren Freundin. Franco ist hier aufgewachsen und ist mit 16 nach Deutschland ausgewandert. Wo schlafen Sie denn?, fragt er mich. Ich weiß es noch nicht. Gut, dann schlafen Sie bei uns. Sie packen mich in seinen Fiat Uno und fahren zum Dorf hinaus. Dort, in der Nähe des Friedhofs – den hatte ich mir, als ich mich dem Dorf annäherte, als möglichen Ort zur Übernachtung ins Auge gefasst – dort steht sein Haus. Er hat im oberen Stock eine ganze Wohnung eingebaut, wo ich mich installieren kann. Die Frau fragt, ob ich ihr eine Waschmaschine voll Kleider geben wolle. Bis am andern Morgen sei das ohne weiteres wieder trocken. Noch so gerne.

Wir essen miteinander. Es gibt Zusammengewürfeltes, es gibt genug Wein, und die beiden Gastgeber bestreiten das Gespräch.

Draußen auf der Terrasse, wo wir sitzen und essen, steht eine überlebensgroße Figur aus Blech und Draht, ein Radfahrer. Ich frage Franco, was er beruflich mache. Offenbar alles Mögliche, auch Kunst, aber im Moment sei er arbeitslos und in seinem Alter kaum mehr vermittelbar. Seine Frau arbeitet im Altersheim (oder wie man in Deutschland sagt im ‚Altenheim’), und die Freundin ist eine gute Wohnungsnachbarin von Münster-Westfalen, wo sie sonst wohnen.

Franco erzählt mir die Geschichte von seinem Hausbau, als ein Beispiel, wie mafios hier die Behörden seien. Er wollte sich auf dem Platz hier, den er vom Vater geerbt hatte, ein Haus bauen. Das Geld dazu hatte er in Deutschland zusammengespart. Aber der Sindaco machte ihm klar, dass dies unmöglich sei, weil der Platz nicht in der Bauzone und erst noch zu nahe am Friedhof liege. Franco habe ihm zu verstehen gegeben, dass er ihm, falls er ihm Schwierigkeiten machen wolle, seine Machenschaften beim Bau der Familiengruft, mitten im Friedhof, auftischen werde, und habe ihm geraten, an einem bestimmten Tag im Juni vom Dorf abwesend zu sein. Auf diesen Tag bestellte Franco seine Freunde und Bekannten mit sämtlichen Baumaschinen, die sie auftreiben konnten, und als der Sindaco am Abend zurückkam, war der Bauplatz ausgeebnet und waren die Fundamente im Boden. Dieses Fait accompli – und der Sindaco hatte nicht rechtzeitig eingreifen können, weil er ja nicht zu Hause war – konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden. Der Bau wurde fertiggestellt. Daraufhin wurde das Baugesuch nachgereicht, dem wurde auch, mit einer Buße von rund 10'000 €, entsprochen, und nun ist das Haus legal. Alle haben profitiert von diesem System: Franco hat sein Haus, der Staat hat eine bemerkenswerte Einnahme, der Sindaco… gut, davon spricht man nicht. Nur das Gesetz hat Schaden genommen.

Francos Vater hatte damals nach dem Krieg, aus dem er einarmig zurückkam, über zehn Jahre auf eine Entschädigung warten müssen, bis er sie erhielt, und unterdessen waren so viele Bewohner des Dorfes nach Amerika emigriert, dass er mit dem Geld ein großes Gebiet, einen Streifen Land vom Dorf bis hinunter ins Tal, billig aufkaufen konnte, so groß, dass selbst der Drittel, den Franco geerbt hat, noch beachtlich ist. Das Land liegt heute aber weitgehend brach. Franco lebt ja vorwiegend in Deutschland.

Waltraud ist schon daran, meine nasse Wäsche aufzuhängen, und Franco will mich nochmals ins Dorf entführen. Da bleibe ich aber standhaft und verspüre gar keine Luft auf eine Sauftour, wie ich sie schon bei andern solchen flüchtigen Reisebekanntschaften mitmachen musste.

So zieht er allein los, und ich ziehe mich bald in den oberen Stock zurück. Die Beine sind müde, und die Ruhe ist süß.

88 Catena Costiera

Das ganze langgezogene Gebirge, die Catena Costiera, die zwischen dem Meer und der großen Ebene um Cosenza liegt, ist ein riesiges, bewaldetes Naturschutzgebiet. Der Wald reicht genau bis zur Höhenstraße hinunter, auf der ich südwärts wandere, und dürfte sich einst weiter hinab bis an den Fiume Crati ausgedehnt haben. Alle Dörfer, die an meiner Straße liegen, sind Gründungen jener Albaner, die von ihrer Heimat geflohen sind – die andern, die zurückblieben, wurden von den Türken niedergemetzelt, sagt man mir. Ein Bischof habe den willkommenen Ansiedlern diesen von ihm als fruchtbar erkannten Abhang zugewiesen, und so reihen sich nun die Dörfer, wie eine Perlenkette an einer Schnur, aneinander. Steil fällt das Land ab bis zum Fluss, acht oder zehn Kilometer weit, und von Dorf zu Dorf ist es zu Fuß jeweils etwa eine Stunde. In diesen Dörfern sprechen die Leute noch heute albanisch, dreihundert Jahre später, und in einigen Dörfern wird Albanisch sogar als Freifach in den Schulen unterrichtet.

Einmal, als ich vor meinem Glas sitze und mich mit zwei alten Männern unterhalte, entschuldigt sich der eine bei mir, dass sie eben untereinander eine andere Sprache redeten. Gut, ich hätte es kaum bemerkt, denn das Calabrese verstehe ich genau so wenig.

In einem der Dörfer spricht mich beim Vorbeigehen einer an, ich setze mich zu ihm in den Schatten, und bald habe ich seine Lebensgeschichte in breve gehört. Ein Ruf hinauf zum offenen Fenster, und nach einer kurzen Weile kommt seine Frau herunter und offeriert mir selbstgebackene Küchlein mit Ricotta-Käse. Den Likör schlage ich nur deshalb aus, damit er nicht seine Alte nochmals in den zweiten Stock hinauf bemühen muss.

Antonio hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass in Kalabrien beim Erdbeben von 1783 ganze Städte dem Erdboden gleich gemacht worden sind. Vielerorts sind aus diesem Grund keine historischen Bauten vom Mittelalter mehr vorhanden. Kurz danach war Goethe in Rom und hat meines Wissens auch Süditalien bereist. Übrigens zu Goethe: Ich frage Antonio, wie weit die deutsche Literatur in Italien bekannt sei. Er antwortet mir: Sicher kann man nur von den gebildeten Italienern eine solche Kenntnis voraussetzen. Aber als er mir die hier bekannten Autoren nennt, muss ich gestehen, dass man bei uns weit weniger italienische Dichter als bekannt voraussetzen könnte.

Einmal gelingt mein Versuch, einen parallelen Weg zu finden, etwas weiter oben am Hang. Und nach langem höre ich wieder einmal eine Nachtigall. (Ich habe gemeint, da im Süden sei es ihnen zu heiß.)

Mein Weg auf dieser kurvigen Straße, immer auf der Hinterseite des Küstengebirges, ist angenehm. Der Verkehr hält sich in Grenzen, und hinter jeder Kurve öffnet sich Neues.

Am frühen Abend liegt am Weg, weitab von einem Dorf, eine Pizzeria, gerade zur günstigen Zeit. Die Speiselokale sind hierzulande nicht so häufig wie anderswo. Ich überlege also nicht lange und kehre ein. Der Wirt spricht deutsch. Er hat in Stuttgart jahrelang eine gut gehende Pizzeria geführt, sagt er, aber vor einem Jahr musste er schließen. Seit der Einführung des Euro sei sein Geschäft nicht mehr rentabel gewesen. Vorher habe er seine Grundstoffe billig von Italien eingeführt, jetzt seien die Preise durch die europäische Vereinheitlichung angestiegen. Und die Schwaben, sagt er, schauen aufs Geld.

Mein Nachtessen ist sehr gut und preiswert. Und als ich ihn frage, ob er nicht auch gleich noch Übernachtung anbiete, telefoniert er seinem Kollegen im übernächsten Dorf und bringt mich mit seinem Auto gleich noch hin.

Mein Unternehmen, zu Fuß durch Italien zu gehen, stößt hier im Süden, scheint es mir, weniger auf Unverständnis, und zwar darum, weil sie selber Kalabrien für das schönste aller Länder halten. Und es ist ihnen klar, dass man dieser Schönheit nicht anders gerecht werden kann. Allenfalls noch mit dem Bici.

89 Carolei

Ohne Hotelfrühstück auf die Straße dem Hang nach, die vorn auf einem Kamm endet, nach einer guten Stunde, in San Fili. Reichen die Heiligen aus, frage ich mich, für all die vielen Städtchen, oder gibt es umgekehrt genug Städtchen für all die Heiligen?

Auf der andern Seite des Hügelkamms fällt es mir schwer, mich zu entscheiden. Das Gebiet ist unstrukturiert, Sträßchen überziehen mein Kartenblatt, alles scheint überbaut. Zunächst muss ich ein tiefes Tal überqueren, und dazu finde ich, dank der Auskunft eines Holzarbeiters, einen schmalen Fußweg. Auf der andern Seite des Tals gibt es wieder ein langweiliges Straßenstück in zunehmender Hitze.

Immer wieder versuche ich, vom Autoverkehr loszukommen. Quer durch die Felder und die Wildnis, manchmal gelingt’s, aber das Fortkommen ist mühsam, und die Straßen sind nun mal so gebaut worden, dass sie einen effizienten Verlauf nehmen.

Siesta in einem stillen Tal, an einem Flüsschen, in dem ich mich alle halben Stunden einmal abkühle, um dann im Schatten angenehm weiter zu dösen oder zu lesen.

Ein Sträßchen, genau in meiner Richtung, endet an einem Bauernhof. Fünf Hunde kommen wütend auf mich zugerannt und umbellen mich lautstark. Ich stehe still. Es ist ihr Job, das Territorium zu verteidigen, ich weiß. Ich stehe und warte. Für die Leute hier ist immer noch Siestazeit. Aber bei diesem Lärm muss doch jemand erwachen. Endlich erscheint oben auf der Terrasse ein Bub und fragt, was ich wolle. Nein, da gehe der Weg nicht weiter, spagliato. Nein, es sei unmöglich. Ich bin sicher, dass sich irgendwo zur Überquerung des Tobels ein versteckter Fußpfad befindet. Die Leute wollen doch selber auch auf die andere Talseite hinüber. Er aber sagt einfach: Zurück.

Ich gehe also zurück, aber nicht weit, und finde dann tatsächlich eine Wegspur. Sogar das Gras ist weggeschnitten. Die Spur führt an den Bach: aha, da wird Wasser zur Bewässerung gefasst. Am andern Ufer geht aber eine senkrechte Wand hoch, etwa zehn Meter. Es ist kein Fels, nur dunkle Erde. Dornen versperren den Weg, Eschen wachsen und geben Handgriffe. Ich suche mir eine Stelle, wo ich glaube hochklettern zu können, krieche unter Lianen durch, ziehe mich wie ein rucksackbeschwerter Tarzan hoch, kann aber nach dem nächsten Bäumlein nicht greifen, weil es zu weit oben ist, kann mich am Boden nicht halten, weil er zu bröcklig ist, kann an der andern Stelle nicht hochkommen, weil die Dornenranken zu dicht stehen. Nun bin ich so weit gekommen, und es fehlen noch einige Meter, das werde ich doch schaffen können. Zuletzt muss ich aufgeben. Erdverschmiert, nass vom Schweiß und zerkratzt an Armen und Beinen trete ich schmachvoll den Rückzug an. Alles zurück.

Wenigstens sind die Feigen reif. Sie sind gut gegen den Durst.

Dann wieder bin ich auf der Straße. Oben auf dem Berg die Ortschaft Carolei. Fünf Paar Socken für 5 €. Weiter gegen Süden. Hinten im Tal eine hohe, abschließende Bergkette. Da werde ich morgen darüber steigen müssen.

An der Straße ein Milchlädeli. Gern würde ich all die Käsesorten probieren und kaufen. Sie sagen mir, weiter hinten gebe es ein Agriturismo. Dorthin lenke ich also die Schritte.

Auf dem Schild steht ‚al gallo chi canta’. Eine Zufahrt, ein Kilometer weit. Gepflegte Einfahrt, Parkplatz. Draußen ein junger Mann, der Besitzer. Sie hätten telefonieren sollen, sagt er. Aber er kann mir ein Zimmer richten, das heute frei geworden ist, wenn ich so lange warten will.

Ich esse gut, ich schlafe gut, und es ist ein schöner und ruhiger Ort.

90 Ein harter Tag

Im nächsten Dorf namens Domenico ist leider die Bar noch geschlossen, auch wenn’s nicht Sonntag ist. So beginnt der lange Aufstieg ohne Frühstück. Hoch oben sehe ich, am waldigen Abhang, eine Autostraße. Auf der Karte ist die Straße mit vielen langweiligen weiten Kehren eingezeichnet. Der Wald neben der Straße ist mir zu steil, als dass ich es quer hinauf versuchen möchte. Ich nehme die paar Stunden Asphalt auf mich. Verkehr gibt es kaum. Die Füße gehen ihren Tramp, die Gedanken können sich anderem hingeben.

Drei Stunden später bin ich auf dem Pass. Ein paar Häuser geben vor, eine Ortschaft sein zu wollen, sind aber nichts als leere Ferienbehausungen. Eine Bar ist da, aber die Kaffeemaschine außer Betrieb. Meine Nahrung ein Gelato.

Dann eine Abzweigung, und gleich geht’s nochmals aufwärts. Ich habe gemeint, ich sei oben. Und nun komme ich an die Stelle, die ich frühmorgens von unten her gesehen habe. Einmal ein schwerer Lastwagen mit Kies schleppt sich mühsam hoch und rollt dann sorgfältig über die tiefen Schlaglöcher in der Straße auf der andern Seite die Kehren hinunter.

Um die Mittagszeit bin ich endlich unten, hinter dem großen Gebirge. An der Kreuzung mit der Überlandstraße steht ein Haus mit Tankstelle, Restaurant, Laden. Wunderbar, ich komme gerade recht zum Mittagessen. Noch nichts gegessen heute als jenes Glacé zu oberst auf dem Berg. Aber das Restaurant ist geschlossen. Dafür ist der Lädeler sehr freundlich. Er stellt mir einen Stuhl auf die Verenda hinaus, wo ich am Schatten mein Eingekauftes verzehre. Leider gibt es den Wein nur in großen Flaschen zu haben oder aber in Kartonverpackungen zu 2 dl, was aber billigste Ware für die Küche ist.

Nach dem Essen lege ich mich hinten im Schatten neben dem Sportplatz hin und versuche, die herumliegenden Kartonbecher und Glacéverpackungen zu ignorieren. Es ist wirklich die einzige Möglichkeit, die Mittagshitze zu überleben: Schatten und schlafen.

Ich habe aber noch viel vor, und ich bin so unmerklich in ein Endspurt-Fieber hinein geraten. Ich möchte weiter und möchte jeden Tag ein möglichst großes Stück Karte ‚erledigen’. Deshalb habe ich auch nicht mehr die Geduld und Ausdauer, nach alternativen Wegen zu suchen. Möglicherweise gäbe es sie auch hier in Kalabrien.

Etwa um vier Uhr mache ich mich auf und begebe mich auf die Straße. Andere gehen ja auch in die Sauna, freiwillig, zahlen gar noch Eintritt dafür. Diesmal ist es eine Schnellstraße, und bis zur nächsten Ortschaft gibt es nichts sonst. Das breite Betonband ist in den Abhang hinein gefräst. Unten und oben ist Wald, dichter Wald, unwegsam.

Eine knappe Stunde später bin ich in Grimaldi und steuere auf die Bar zu. Die Männer hier mustern mich nicht stumm, sondern stellen mich gerade zur Rede: Woher, wohin, wozu, aha. Der Vorlauteste, einer mit großem Schnauz, behauptet, die Schweizer hätten die Italiener gar nicht gern. Worauf ich entgegne, wie er darauf komme? Wir seien doch die guten Freunde der Italiener. (Ich muss es wissen. Schon vor fünfzig Jahren hatten wir süditalienische Landarbeiter auf unserem Bauernhof, und mein Vater hatte aus diesem Grund gar einen Sprachkurs besucht. Meine ersten Fremdsprachkenntnisse überhaupt sind Infinitive wie ‚mangiare, lavorare, dormire’.) Der Mann aber weiß von einem Geschäft in Lugano, an dessen Türe ein Schild hange mit der Anzeige ‚Ingresso vietato per cani e Italiani’. Gut, sage ich, das ist wirklich böse. (Ich hätte auch sagen können: Hören Sie, das ist doch ein Reim, mehr nicht, was wollen Sie. Aber ich glaube, in diesem Fall war es besser, mich klar von dieser ‚schweizerischen’ Äußerung zu distanzieren.)

Meine Frage nach Abkürzungen, Wanderwegen, alten Saumpfaden führt zu einer angeregten Diskussion der Männer, von der ich nicht viel verstehe. Dann raten sie mir, die Straße zu nehmen, das sei das beste und das kürzeste. Was die schon wissen, denke ich.

Der mit dem Schnauz lädt mich ein, auf seine Ranch zu kommen und seine Pferde anzuschauen. Der Offroader steht neben uns am Trottoir. Ich denke, eine Übernachtung in seinem Haus läge drin. Aber irgend ein Gefühl in mir ist ablehnend; vielleicht habe ich genug von neuen Bekanntschaften; vielleicht fehlt mir zu diesem bestimmten Typen die Sympathie. Ich gehe nicht darauf ein.

Dann sagt er, es gäbe schon einen andern Weg, aber ich könne dort nicht durchkommen. Ich lasse ihn mir aber genau beschreiben und möchte selber entscheiden, ob ich mir zutraue, den Weg zu finden. Ich zeige ihm meine verstochenen Arme und gebe ihm zu verstehen, dass ich schon viele Wege gefunden habe.

Die Beschreibung ist gut. Die Abzweigung von der Straße trifft mit den genannten Kennzeichen zusammen. Ein schmales, asphaltiertes Sträßchen führt direkt ins Tal hinab, ohne die weiten Kehren der Hauptstraße. Dann kommt ein letztes Haus, und das Sträßchen geht ungeteert weiter. Dann kommt ein Draht quer über den Weg – auch davon hat er gesprochen, und ich steige darüber. Dann wird der Weg schmaler und von beiden Seiten her hängen die Brombeerruten in das Leere hinein. Auch das stimmt mit seinen Aussagen überein. Dann wird der Weg steiler und ist in der Mitte von den Gewitterregen ausgespült, immer tiefer, je weiter ich ins Tal hinab komme. Zuletzt ist der Bachgraben mitten im Weg zwei Meter tief, und ich balanciere mich auf dem schmalen, verbleibenden Wegstück zwischen den Dornen hindurch. Es ist beeindruckend, wie es diese beiden Pflanzen, die Brennnesseln und die Brombeeren, verstehen, sich Respekt zu verschaffen. Aber dann bin ich unten im Tal. Der Weg ist nicht ausgegangen, wie ich befürchtet habe. Wenn ich daran denke, wie das gewesen wäre: all das wieder hinauf auf den Berg!

Ich stoße auf andere Sträßchen, und die führen mich zu einer Schnellstraße mit Tankstelle. Da gibt’s Wasser zu kaufen, und da fängt eine kleine Provinzstraße an: von der haben sie oben im Dorf auch gesprochen, und einer hat gesagt, darauf könne ich gehen bis zum Meer. Ich kann’s fast nicht glauben, aber weil bis jetzt alles so genau übereingestimmt hat mit der Beschreibung, wage ich’s und folge dieser Nebenstraße, die dem Fluss nach zu führen scheint. Gemäß meiner Karte sind alle Ortschaften oben auf den Höhen. Hier unten am Fluss ist die nächsten 12 Kilometer nichts als die Autobahn, die ich allerdings sehe und höre, hoch oben über meinem Kopf, auf Stelzen.

Es war ein strenger Tag. Die Straße führt in eine Flussauenlandschaft hinein. Nach kurzer Zeit entschließe ich mich, hier in den Büschen, neben dem Bächlein, meinen Platz zur Übernachtung zu suchen, einfach so weit von der Straße weg, dass ich von einem allfälligen Fahrzeug aus nicht gesehen werde.

Ich bin eingerichtet, ich habe im Bach gebadet, ich sitze an einen Baum gelehnt und sehe zwischen den Stämmen hindurch das warme Licht der untergehenden Sonne.

Da nähert sich ein Gebimmel. Eine Herde Ziegen auf ihrem Weg zur Weide trippelt durch den lichten Wald. Wie bei uns im Mittelalter: Weidegang im Forst. Hundert oder zweihundert Tiere. Jetzt haben mich die vier oder fünf Hunde entdeckt und kommen auf mich los und bellen mich an. Ich bleibe sitzen und bin gespannt, was der Hirte, wenn er hinter der Herde her kommt, sagt oder tut. Aber es kommt kein Hirte. Die Hunde sind die Hirten. Und ihnen kann ich mit meinem besten Italienisch nicht beibringen, dass ich nichts und auch gar nichts gegen ihre Ziegen im Sinn habe. Sie bellen und bellen und hätten noch lange gebellt, wenn nicht die Herde unbeirrt weiter gezogen wären und ihre Meister weiter vorn im Heerzug gebraucht worden wären.

Dann ist es wieder ruhig. Abgesehen vom Lärm der Autobahn, von der ich aber etwas entfernt bin. Die Sonne ist untergegangen. Bald einmal schlüpfe ich in den Schlafsack und kuschele mich auf dem Waldboden zurecht.

91 Fiume Savuto

Diese fünfzehn Kilometer Luftlinie bis ans Meer liegen mir auf dem Magen. Ich bin frühmorgens auf und davon, noch bevor die Geißen mit ihren Chefs wieder zurückgekommen sind, und gehe auf meiner Straße dahin, und neben mir läuft der Fluss und fließt die Autobahn.

Doch dann dreht die Straße ab und steigt hoch, hinauf zu einem Dorf, das am Abhang klebt. Ich steige hinauf und gehe an den Häusern vorbei. Noch ist niemand auf, außer die wild bellenden Hunde. Als ich das Dorf durchschritten habe, muss ich feststellen, dass die Straße nach den letzten Häusern weiter in die Höhe steigt, und das kann’s ja nicht sein. Ich kehre um. Es ist skandalös, wie ich mich von den Kläffern verbellen lassen muss. Der einzige Mensch, der mir entgegenkommt, ist ein Schwachsinniger, und von dem ist keine Information zu erwarten. Immerhin kann er das Wort ‚spagliato!’ aussprechen. Hab ich selber gemerkt. Ein paar Häuser weiter treffe ich dann doch noch einen Mann, der schon an der Arbeit ist neben seiner Haustür, und dieser beschreibt mir, vage genug, wo ich hätte abzweigen sollen. Die Sicherheit, dass der Weg durchgehend sei bis ans Meer, vermittelt er mir nicht.

Ich gehe also zurück und finde tatsächlich einen Feldweg, sogar mit Fahrspuren. In der Hoffnung, es sei der rechte, folge ich ihm. Doch schon bald wieder ein Bivio: wir haben kein deutsches Wort für den Ausdruck, der doch eigentlich ‚Zweiweg’ heißen muss, d.h. mein Weg spaltet sich in zwei Wege. Auch wenn ich zwei Beine habe, kann ich nur einen wählen, und der führt mich an den Fluss hinunter und endet schließlich im Geröll des Bachbettes. Eine im Werden begriffene Flusslandschaft: es könnte ja sein, dass sich das Wasser beim letzten Wintergewitter ein neues Bett gesucht hat und demzufolge mein Weg weiter unten wieder zu finden wäre. Nach einigem Suchen gehe ich dennoch zurück und probiere bei der Abzweigung den andern Weg.

Eigentlich eine ideale Wandergegend. Eine Strada bianca, eine Urlandschaft, abgesehen von der nahen Autobahn eine unberührte Gegend, und überall riecht’s nach Pfefferminz. Aber ich habe den Koller. Die Ungewissheit liegt mir auf dem Magen. Ich kann nicht ausbrechen. Links und rechts geht es steinig-steil in die Höhe. Die Autobahn wäre auch kein Fluchtweg. Und wenn ich all das wieder zurück müsste, und auf gewundenen Bergstraßen… Zudem ist der Himmel grau, vielleicht gibt’s gar noch Regen.

Endlich stoße ich, als ich durch eine kleinbürgerliche Gärtchenlandschaft komme, auf zwei Leute, die dort Reben aufbinden, und die bestätigen mir: Gehen Sie nur weiter. Und wenn dann wieder einmal der Weg aufhört, weiß ich nun: es lohnt sich zu suchen.

Nach vier oder fünf Stunden endlich trifft mein Weg auf eine Straße, die von einem andern Bergdorf hinunter kommt, und eine weitere Stunde später sehe ich vor mir das Meer.

Am Strand gibt’s Volk, gibt’s Tourismus, gibt’s zu essen. Ich bin wieder unter Leuten. Ein Paar, das eben vom Sandstrand zurückkommt mit dem Sonnenschirm unter dem Arm, frage ich nach dem besten Restaurant. Es sind Franzosen, die jeden Sommer hier dieselbe Wohnung mieten, très gentils… ja, man ist dankbar für jede Zuwendung, nach den langen Stunden des Alleinseins.

Zuwendung schenkt auch der Kellner auf der Terrasse des Restaurants. Mit Blick aufs blaue Meer – der Himmel hat wieder aufgetan – genieße ich das samstägliche Mittagessen, bis zum digestivo, und dann suche ich mir unter den Pinien ein Plätzchen und muss nicht lange auf den Schlaf warten.

Ein Telefongespräch mit Johannes. Mir scheint es doch nicht so sinnvoll, dass er nur für drei Tage die lange Reise macht, möglicherweise mit dem Flugzeug in dieses Süditalien kommt, das so gar nicht für Fußgänger eingerichtet zu sein scheint.

Nun bin ich also wieder einmal am tyrrhenischen Meer angelangt und gehe dem Strand nach, immer diesen schmalen Sandstreifen suchend, der trägt und von den Wellen nur ganz wenig überspült wird.

Manchmal liegen als Wellenbrecher riesige Steinblöcke am Ufer, dann muss ich einen Umweg machen. Einmal frage ich einen Angestellten am Lido, wie es nach den Steinen weiter gehe, und es lässt sich in ein langes Gespräch mit mir ein. Er heißt Mohammed und kommt aus Tunesien. Gefällt dir diese Arbeit?, frage ich ihn, und treffe den Punkt. Eigentlich ist er Jurist und hat mit höchster Auszeichnung abgeschlossen. Aber da er keine Arbeit gefunden hat, ist er nach Italien gekommen und schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, sich und seine Familie. Denn seit 50 Tagen hat seine junge italienische Frau ein Kind: Jasmine. Tagsüber ist er hier am Lido angestellt, und abends hilft er einem Kollegen in einem Party-Service. Seine Wohnung ist ein einziges Zimmer. Und er rechnet mir vor, wie knapp er verdient, so dass es kaum für die Wohnung reicht.

Ich frage, ob ich bei ihm übernachten könne, ich würde ihm 50 € zahlen. Denn ich denke, das Geld wäre bei ihm besser angelegt als im nächsten Hotel, und ich brauchte ja nichts als einen Quadratmeter Boden für meinen Schlafsack und fünf Minuten Dusche-Benützung. Aber meine Frage stürzt ihn, wie ich sehe, in große Verlegenheit. Ich vermute, es sei für ihn als Muslim völlig unziemlich, dass ich, ein Mann, zusammen mit seiner Familie, also mit seiner Frau, im gleichen Zimmer die Nacht verbringe. Er bietet mir eine Alternative an, bei Freunden, also bei Männern. Das wiederum will mir nicht behagen. Ich weiß nicht, wie ich meinen Faux-pas korrigieren kann, und als er kurz weggeht, um sich seinen Aufträgen zu widmen, fliehe ich, ohne mich von ihm zu verabschieden.

Der Strand ist unterbrochen, ich bin, wieder einmal, auf der SS18. Der Abend ist noch früh, aber ich habe genug für heute, und ich habe den Wolf.

Hotels am Strand gibt es einige. Im ersten hätten sie mir ein Zimmer für 45 €, aber ohne ein einziges Fenster aufs Meer hinaus, nein danke.

Beim zweiten zahle ich auch zu viel, aber es ist mir sympathisch: Das Motel ‚Old America sul Mare’. Ich habe ein einzelnes Häuschen, wirklich wie in einem der alten amerikanischen Motels. Ich kann die Treppenstufen hinab steigen und im Meer schwimmen. Ich bekomme ein gutes Essen auf einer Veranda mit Blick auf den Sonnenuntergang, während alle andern Gäste vorn heraus, gegen die Straße, bei sprudelnden Lautsprechern, tafeln.

Den Abend verbringe ich an diesem Tischchen und versuche mit Hilfe des Dictionnaire im Camilleri weiterzukommen.

92 Golf von S. Euphémia

Sonntag Morgen. Ich gehe früh weg. 11 km auf der SS18. Es geht mir gut, trotz Straße und Autos. Sie können mir. Dort wo es möglich ist, gehe ich dem Strand nach.

Am Abend jeweils spüre ich es stärker, das schmerzliche Empfinden dieser schleichenden Revolution der letzten fünfzig Jahre. Vorher waren es einige Pioniere, anfangs noch mit der Lederkappe um die Frisur und der Staubbrille vor den Augen. Und als wir um 1950 unseren Jeep anschafften, leisteten wir uns einmal eine Schweizerreise en famille. Während fünf Tagen fuhren wir über die Alpenpässe, den Brünig und die Grimsel, das Wallis hinunter, ins Welschland, das war eine rechte Unternehmung. Dann wieder zurück, und dort hat es bereits angefangen: auf der Hauptstraße Nummer 1, die vom Genfersee zum Bodensee führt, herrschte Kolonnenverkehr. Da war es schon vorbei mit der freien Fahrt für den zahlungskräftigen Automobilisten. Aber das war erst der Anfang. So wie damals noch Nachbarn in unser Haus kamen und darum baten, ein Telefongespräch machen zu können (welches zu Einheiten von drei Minuten verrechnet wurde), so fragte auch etwa einer, ob wir ihn zu seinem Schwager fahren würden. Er zahle dann das Benzin; denn die Fahrt an solches, dachte er, sei ja im übrigen ein Vergnügen auch für uns. Doch dann wurden die Autos erschwinglich, und was Henry Ford mit seinem T-Modell in Amerika geschafft hatte, die Verbreitung des Automobils in alle Haushaltungen, das erreichten die Volkswagen- und Renault-Betriebe in den Fünfziger- und Sechzigerjahren bei uns. Noch 1958 konnten wir uns, durchaus im Rahmen der Legalität, Wettrennen mit den Kollegen auf der Straße liefern, selbst quer durch das Dorf Embrach, bevor dann die Geschwindigkeitsbeschränkungen innerorts und später auch außerorts kamen, und heute bist du am Steuer fast so fremdbestimmt wie ein Lokführer, der vollständig nach Signalen fahren muss.

Diese Revolution, die Verbreitung des individuellen Motorfahrzeugverkehrs, hat eine völlige Umkrempelung der Welt bewirkt. Das ganze Leben ist aufs Auto ausgerichtet. Quartierläden rentieren nicht mehr, die Feinverteilung wird hinfällig. Bahnhöfe werden geschlossen. Wege werden nicht mehr begangen und Esel oder Maultiere sind selbst in Süditalien nicht mehr anzutreffen.

Lasst uns davon sprechen! Zeigen wir, wo diese einseitige Ausrichtung hinführt. Unterstützen wir die Gegenbewegungen, stärken wir sie politisch!

Solchen Gedanken nachhängend komme ich am Straßenrand rasch voran und bin kurz vor zehn beim Bahnhof Lamezia Terme. Falerna, wo ich heute Morgen losmarschiert bin, hätte früher auch einen Bahnhof gehabt, aber dieser ist vor einigen Jahren weggespart worden.

Ich habe mich entschlossen, von Lamezia aus ein Stück weit, nämlich über die Ebene, die Piano Sant’Euphemia, mit dem Zug zurückzulegen. Ich löse ein Billet nach Vibo Marina. Ich sitze auf einem Mäuerchen und warte auf den Zug, der in anderthalb Stunden fahren soll.

Mein Handy läutet. Es ist Franz. Endlich, sagt er, habe er meine neue Handynummer bekommen. Er hat Ferien, und Edith ist am Segeln auf Kos. Ich habe ihm die Überarbeitung meiner Geschichte vom Ysop zugeschickt. Er sagt, ich hätte seine Anmerkung überbewertet. Jedenfalls bin ich der Meinung, die Geschichte sei nun besser geworden, obwohl auch jetzt noch nicht viel kürzer als vorher.

Ich telefoniere auch mit Verena. Sie leidet unter einer unüberlegten Bemerkung von Manuela. Und sie leidet unter dem grauen Wetter in der Schweiz. Und sie hat sich mit dem Aufräumen in der Scheune etwas viel aufgeladen.

Der Zug fährt um halb zwölf und ist in wenigen Minuten dort. Eine Strecke, für die ich einen ganzen Tag auf heißer Straße marschiert wäre, quer durch schachbrettartig eingeteilte und mit Zäunen eingefriedete Plantagen. Nun bin ich wiederum an einem Badeort. Vibo heißt eigentlich die Provinzhauptstadt in der Höhe, Vibo Valencia, und dies ist nur der Ableger unten am Meer. Die Frage bleibt unbeantwortet: Warum sind die Städte durchwegs auf den Bergkuppen und nicht unten am Meer? Denken wir doch nur an die Mühe, die es kostet, die Handelswaren hinauf zu befördern. Könnte es sein, dass eine gewisse Distanz zum Meer und zu den Seefahrern auch Vorteile brachte?

Bevor ich mich wieder vom Meer entferne, will ich es nochmals spüren und erleben und suche daher den Strand auf, um mir einen Sonnenschirm und einen Liegestuhl zu mieten, mitten im Getümmel der Sommerferienjugend und umstampft von Techno-Musik. Schon um halb drei, trotz Hitze, mache ich mich auf den Weg, hinauf gegen die Hauptstadt. Aufs Geratewohl nehme ich ein Sträßchen, das unter der Autobahn durch bergwärts führt, in der Hoffnung, es höre nicht einfach beim obersten Wohnquartier auf. Zu meinem Glück kommt mir wieder einmal Hermes entgegen, in der Gestalt eines jungen Rollerfahrers: ihn halte ich an, und er sagt: Si, esce a Vibo, 5 km. Ich steige weiter in die Höhe. Der Weg erweist sich als einer der schönsten, den ich hier in Kalabrien bisher angetroffen habe. Vermutlich ist es der alte Weg hinauf in die Stadt. An gewissen Stellen ist gar noch eine alte Pflästerung auszumachen. Immer höher komme ich hinauf, mal durch lichten Wald, dann wieder zwischen Oliven- und Rebbergen. Immer weiter unten liegt das Meer. Unter meinen Füßen ist rotbraune, dunkle Erde. Und der Weg ‚kommt heraus’ (esce) auf die SS18 (schon wieder), 100 m unterhalb der Kläranlage von Vibo.

In einer Pineta (einem mit Pinien bepflanzten Grundstück) ist eine Gruppe Männer am Bocciaspielen. Es ist Sonntag Nachmittag. Der Gelände ist leicht abfallend, der Boden sehr uneben, und so spielt das Glück eine beachtliche Rolle für den Verlauf der Kugel. Ich setze mich in den Schatten und schaue zu. Ein Schauspiel für sich ist nicht nur die Kunstfertigkeit der spielenden Männer, es scheint, dass auch die Diskussion darüber, welche Kugel jetzt am nächsten beim Boccia liege, mindestens so sehr zum Spiel gehört. Manchmal genügt der schnelle Blick mit den Augen, oft wird mit Gänsefüßchen abgezählt, und wenn es ganz knapp ist, bricht einer einen Grashalm und schneidet ihn auf die Distanz der einen Kugel zurecht, um dann mit der Distanz der andern zu vergleichen. Große Spannung, lautstarke Auseinandersetzung, dann plötzliche Beruhigung und neues Spiel. Etwa ein Dutzend Männer sind am Spiel beteiligt, einige weitere sind nur Zuschauer, und einer, das bin ich, bleibt Zaungast und sitzt am Wiesenbord. Nicht lange, da ruft mir einer zu, ich solle auch kommen und mitspielen. Ich winke ab. Ich wüsste ja nicht einmal, wer jetzt zum Werfen an die Reihe kommt.

Dann begebe ich mich in die Stadt hinein. Nach einigem Suchen finde ich das Zentrum. Die Piazza ist menschenleer. Es seien alle noch am Meer, sagt mir ein alter Mann. Eine Burg und eine Kathedrale stehen auf dem Hügel. Ein Hotel habe ich bisher noch nirgends gesehen. Eine eigentliche Altstadt kann ich nicht ausmachen. Irgendwie fehlt mir die Entschlossenheit, darnach zu fragen oder ein Hotel zu suchen, und fehlt mir die Geduld zu einer weiteren Stadtbesichtigung. Mein Pensum hätte ich für heute erfüllt, aber der bevorstehende kühlere Abend spricht auch dafür, noch eine oder zwei Stunden weiter zu gehen. Dieser letzte Impuls gewinnt dann die Oberhand. Ich gehe zur Stadt hinaus, Richtung Südwest. Ich bewege mich jetzt eindeutig auf der großen Zehe des italienischen Stiefels, und die verbleibenden Etappen lassen sich an einer Hand abzählen.

Um halb acht esse ich in einer Pizzeria am Weg ein herkömmliches Abendessen, nachdem ich mich gründlich in der Toilette gewaschen habe, gehe dann noch ein kurzes Stück weiter und suche bald nach der Kilometertafel 444 (ich erinnere mich noch gut an die Tafel 222 zwischen Sapri und Maratea) einen Platz im Freien zum Übernachten.

Die ganze Gegend längs der Ausfallstraße ist ein einziges Bauentwicklungsgebiet. Ich kann nicht glauben, dass die Bevölkerung den Boom mit ihrer Kaufkraft stützen kann. Vor mir ist ein Gebiet von einer Hektare Fläche, das ausgeebnet wird, offensichtlich um darauf ein Einkaufszentrum im großen Stil zu errichten. Das vorher leicht geneigte Gelände endet nun an einer zehn Meter hohen, senkrechten Kieswand. Die Hälfte eines Grundstücks mit alten Olivenbäumen ist dafür draufgegangen. Im hintern Teil, oben, wo die Bäume noch stehen, richte ich mich zum Schlafen ein. Weil der Himmel möglicherweise noch Regen für die Nacht bereithält, habe ich mich auch nach einem Quartier unter Dach umgesehen und neben dem Baumgarten ein Gartenhaus mit gedecktem Platz gefunden. Nur für alle Fälle.

93 Feigen und Orangen

Um halb fünf weckt mich ein starkes Rauschen in den Zweigen über mir. Ich weiß, wie schnell ein Gewitter losbrechen kann, und so stehe ich auf, raffe meine Sachen zusammen und trage sie hinüber unter das Dach des Gartenhauses. Es ist noch dunkel, und doch frage ich mich, ob es sich lohnt – da auf dem Betonboden – mich nochmals in den Schlafsack zu wickeln. Wach bin ich unterdessen, und in einer Stunde wäre ich ohnehin losgezogen.

Also packe ich die Sachen sorgfältig ein, lasse den Schirm zu oberst im Rucksack und steige dann die Traxspur hinunter. Die weiche Erde auf diesem Gelände tut mir leid. Ich bin fast sicher: nach einigen Jahren steht hier die Ruine irgendwelcher staatlich gestützten Bauspekulation. Eurogeld!

Dann also auf der Straße. Aber schon nach wenigen Schritten ist auf der andern Straßenseite bereits eine Bar offen. Die Cornetti sind warm und frisch. In der Toilette gibt es warmes Wasser und Seife. Ich setze mich an ein Tischchen und genieße den Allerweltsort. Ein Kommen und Gehen von Lastwagenchauffeuren. Man kennt sich. Ab drei Uhr frühmorgens habe diese Bar offen.

Draußen die vorbeifahrenden Autos haben ihre Scheibenwischer an. Also lasse ich mir Zeit.

Als ich weiter ziehe, regnet es nicht mehr. Bei der nächsten Abzweigung verlasse ich die SS18 und komme durch einsames Bauernland. Ein Dorf. Noch niemand draußen. Meine allgemeine Richtung wäre mir klar. Ein Bauer sagt, die Straße höre auf, man komme nicht weiter. Eigentlich hätte ich es versuchen sollen. Aber da vorn ist ein tiefes Tal. Ich kehre um.

Das andere Sträßchen führt auch hinab ins Flusstal. Wo ich es überschauen kann, kürze ich ab und nehme meinen Weg querfeldein. Oben auf dem Plateau, auf der andern Seite, wieder diese SS18. Ich entkomme ihr nicht.

Ein weiterer Ausbruchversuch. Lange gehe ich auf einem Feldweg, überquere eine Furt, steige zwischen riesigen Plantagen, wo sich sogar einmal eine reife Orange ab Baum pflücken lässt, auf die andere Talseite und komme dann in ein langgezogenes Dorf hinauf, eine Ortschaft ohne Gesicht, ohne Wasserhahn, und die Bars sind heute Montag auch alle geschlossen.

Zwischen den Dörfern finde ich an einer Wegbiegung, mitten im Land, einen Lebensmittelladen. Da kaufe ich mir ein Picknick ein. Dann ziehe ich auf der ruhigen Straße weiter. Unter einem mächtigen Baum verbringe ich die Siestazeit, schlafe ein bisschen, schaue in die sonnige Weite und versuche die gesichteten Städte am Horizont mit meiner Karte in Deckung zu bringen.

Das nächste Dorf heißt Calimera. Ich frage mich, ob es mit dem griechischen kalimera etwas zu tun haben könnte. Wir sind ja in Großgriechenland. Endlich wieder einmal eine Bar.

Der Wirt und zwei Männer sind am Kartenspielen. Die Frage wie immer: Di dove sei? Der jüngere ist auch einmal in der Schweiz gewesen, sogar im Kittchen, wie ich bald vernehme. Er kennt demnach ein Stück Schweiz, das mir unbekannt ist. Wir unterhalten uns angenehm, aber nach seinem Delikt wage ich nicht zu fragen, und meine Erkundigung, wie sie ihn behandelt hätten, versteht er irgendwie nicht. Aber er zahlt mir ein Bier, und der Wirt will auch nicht zurückstehen und offeriert mir den Kaffee. Griechische Gastfreundschaft. Es ist richtig: so bald werden sie nicht wieder Gelegenheit haben, einen Schweizer in ihren Gemäuern begrüßen zu können.

Ich wandere weiter durch dunkelschwere Grüntöne. Beidseits Kulturen mit Orangen und Zitronen, kilometerweit. Meine Straße geht hinab ins Flusstal, dort zweigt ein Sträßchen ab, dem Tal entlang. Alles ist bepflanzt mit diesen Bäumen. Alte Bewässerungsanlagen, wie ich sie in ganz Italien seit der Poebene immer wieder gesehen habe: Kanäle vorfabriziert aus Beton, auf Stelzen, in denen das Wasser auf die Felder fließen kann. Hier sind sie auch noch vorhanden, aber mehrheitlich am Zusammenbrechen. Sie sind ersetzt mit Sprinkleranlagen, wie man sie bei uns kennt. Auch in diesem Fall wird ein System, das die Schwerkraft ausnützt, dem Verfall überlassen und durch ein anderes ersetzt, das Motoren benötigt und Fremdenergie verbraucht.

Die Stadt auf dem Berg, die ich von weitem gesehen habe, ist Rosarno. Mein Sträßchen stößt auf die SS18, und in dem Moment, da ich in den Verkehr dieser Hauptstraße einmünde, bricht das Gewitter los. Schwere Tropfen fallen, und Wind kommt auf. Ich packe meinen Regenschutz aus, zum ersten und einzigen Mal, den zusammengelegten Plastic-Notregenschutz. Aber ich war zu schnell. Das Ereignis ist bereits wieder vorbei, bevor es richtig losgegangen ist. Ärgerlich, denn zu einem so kleinen Päckchen lässt sich die Haut nicht mehr zusammenfalten.

Der Einmarsch zieht sich in die Länge. Die Straße hier in den Vororten hat ein Asphaltband für die Autos und einen auslaufenden Sandstreifen, der von den parkierten Fahrzeugen gebraucht wird. Fußgänger sind gar nicht vorgesehen.

Erst gegen das Zentrum hin beginnen die bekannten Auf- und Ab-Trottoirs, die aber auch hier vom ‚ruhenden Verkehr’ versperrt sind. Anderseits ist die Toleranz der Autofahrer mir gegenüber, wenn ich in der Fahrbahn gehe, groß. Nie brauche ich Angst zu haben, dass mich einer übersähe.

Meine Erkundigungen nach einem Hotel führen mich immer näher ans Zentrum. Die Bauten links und rechts neben der Straße übertreffen alles, was ich an Hässlichem bisher gesehen habe. Herabgewirtschaftete Basteleien aus Beton in größenwahnsinnigen Ausmaßen. Es sieht darnach aus, dass jedem alles erlaubt ist: aufzustellen, wieder verfallen zu lassen, zu flicken oder nicht zu flicken.

Das erste Hotel, bei dem ich um ein Zimmer frage, erweist sich dann auch als das einzige, das es in Rosarno gibt, und sie haben kein freies Zimmer. Aber für diese Fälle gebe es noch das Haus nebenan, das Albergo Rizzo, das auch zum Hotel gehöre, aber nicht den erforderlichen Standard aufweise. Dort sei sicher noch ein Zimmer zu haben. Wenn ich mich damit zufrieden geben könne…

Ich brauche keinen Standard, ich brauche eine Dusche und ein Bett. Als ich ins Rizzo eintrete und frage, drückt mir eine alte Frau einen schweren Schlüssel in die Hand und sagt: 4˚ piano. Hinten in der Ecke geht ein rumpelnder Lift hoch, ich gelange in einen Korridor mit abblätternder Tapete, öffne meine wacklige Zimmertür und stehe im letzten Loch. Kasten, Tisch, Stuhl, Bett, ein Badezimmer mit fließendem Wasser, die Dusche ist auf dem Gang. Die Bettwäsche ist sauber. Was will ich mehr. Hier bleibe ich einen Tag länger. Denn im vornehmen Hotel haben sie mir einen Prospekt von der Stadt in die Hand gedrückt, und ich kann lesen, dass Rosarno, so unansehnlich es sich auf den ersten Blick gibt, die einstige griechische Hauptstadt der ganzen Region ist. In einem Museum könne man die Stücke von Ausgrabungen besichtigen, und in einem antiken Park seien die Ausgrabungen selber zu sehen.

Das Essen im Speisesaal ist alte Schule durch und durch. Ein alter Kellner, der besser weiß als ich, was ich an diesem Abend gern essen möchte – aber ich setze mich gegen ihn durch und beharre auf meinen eigenen Wünschen. Die bereits erwähnte alte Frau, die in ihrem Kontor hockt und sich als die Herrin des Etablissements erweist, Tochter des Hoteliers auf den Photos an der Wand aus jenen Zeiten, da noch Kutschen hier beim ersten Haus der Stadt vorfuhren, und Enkelin des Hotelgründers. Ach, und wie ist der einstige Glanz verblasst, sind die Polster zerschlissen und die Decken verraucht und die Wände mit Flecken übersät. Ja, und die Gebärde mag nun auch nicht mehr richtig gelingen, wenn man von der neuerbauten Konkurrenz nebenan aufgekauft und gnädigst mit Überfälligen beliefert wird. Zugegeben, die Tischtücher sind weiß, das Essen ist gut, auch der Wein – denn ich habe den gewöhnlichen zurückgewiesen und eine Marke bestellt – und vor allem: das Ganze ist preiswert.

Nach dem Essen ist es dunkel draußen. Ich steige in die Stadt hinauf und gelange auf die Piazza, die voll ist von Menschen, bewegten, fröhlichen Menschen, viel junges Volk tummelt sich. An einer Ecke spielen sie auf künstlichem Sandfeld Beach Volleyball. Natürlich dominieren auch hier die glänzenden Roller und die schmachtenden Mädchen das Bild. Der Platz und die benachbarte Straßen sind beleuchtet, auch der Dom und der originelle Zeitturm. Alles wirkt sauber und gepflegt, wie aus dem Trücklein. Sonntagsstube.

Auf dem Rückweg verlaufe ich mich, habe die Richtung vom Hügel hinunter um ein Weniges verpasst und komme an einen ganz andern Ort. Ich muss mich durchfragen und habe zuletzt an diesem Tag noch ein paar Schritte gemacht, die nicht nötig gewesen wären.

94 Medma

In der Antike hieß die Stadt Medma, und ihre Gründung soll ins 7. Jahrhundert vor Christus zurückgehen. Immer alles laut Prospekt. Sie war die Heimat von Filippo, einem Schüler Platons und dessen Sekretär. Erstmals stoße ich hier auf den Namen von Paolo Orsi, dem berühmten Archäologen des 19. Jahrhunderts, der hier 86 Gräber ausgehoben hat (ob sie es ihm heute noch danken?) und dabei Terracotta und Metallgegenstände aus dem 6. und 5. vorchristlichen Jahrhundert an den Tag gebracht hat. Solches zu besichtigen im Parco archeologico und im Museo civico ist heute meine Absicht.

Kommt hinzu, dass Verena zusammen mit drei Nymphen verreist ist und im Berner Oberland den Thunerseekirchen nachreist. Bei meinen täglichen Telefongesprächen kann ich feststellen, dass sie diese Reise sehr beglückt, und andererseits kann sie sich nicht vorstellen, nicht zu Hause bereitzustehen, wenn ich anrücke. Ich darf mich also nicht allzu sehr beeilen, und weil ich in den letzten Tagen so unaufhaltsam gegen die Stiefelspitze vorgedrungen bin – fast wie jener Kunde in der Bar vor Crema, der mit seinen trippelnden Füßen nicht mehr dem eigenen Drang nach vorn folgen konnte und auf den Boden kippte – deswegen muss ich nun dringend die Bremse anziehen und kommt mir ein Ruhetag hier im antiken Zentrum der Region gerade recht.

Ich bin viel zu früh aufgestanden. Oder will mir jemand ein Museum in Italien zeigen, das seine Tore vor neun Uhr aufmacht?

Unten im Bahnhof, an der Bar, gibt es gute, frische Cornetti und den dazu gehörigen Kaffee. Der Bahnhof gibt mir auch, mit seinen an der Wand angeschlagenen Fahrplänen, ein Gefühl für baldige Heimreise. Ja, hier werde ich in einigen Tagen vorbeifahren.

Dann hinauf in die Altstadt. Dort will ich mich nach dem Museo civico durchfragen. Zunächst noch ein wenig lesen im Caffè Duomo. Stutzig machen mich aber die widersprüchlichen Auskünfte, als ich mich nach dem Museum durchfrage. Die Menschen scheinen nicht sehr kulturbeflissen zu sein. Niemand weiß so recht, was ich suche, und man schickt mich an verschiedene Auskunftsstellen. Ich durchwandere die Stadt mehrmals von vorn bis hinten, dorthin, wo sie mich schicken. Endlich finde ich das Haus, ich trete ein, und der Mann, der fragt: Was wünschen Sie?, klärt mich auf. Ein Museo civico, das ist ein Projekt, es existiert erst auf dem Prospekt, davon hat man einmal eine Zeitlang gesprochen, da ist noch lange kein Geld dafür vorhanden, da hat sich überhaupt unterdessen die Meinung durchgesetzt, dass man die Sachen in Reggio Calabria lassen soll, dort wo sie jetzt sind. Einige Vitrinen stehen da im Haus mit aufgeschlagenen Büchern. Diese zeigt er mir. Und einige Fotos könne ich ansehen, die hingen gleich nebenan im Stadthaus. Nein, die Ausgrabungen seien längst wieder zugedeckt. Die Sachen blieben am besten geschützt unter der Erde.

Die Fotos lasse ich mir nicht entgehen, wenn ich schon einen Tag eingeschaltet habe für die griechische Antike. Sie hängen in Wechselrahmen in den langen Korridoren vor den städtischen Büros. Schöne Farbfotos.

Immerhin habe ich bei der Sucherei die verschiedensten Aspekte von Rosarno kennen gelernt. Weitere Sehenswürdigkeiten kann ich nicht ausmachen. Nun, Ruhetag ist Ruhetag. Ich will flanieren und herumlungern und den ganzen Tag in unverschwitzten Kleidern herumgehen.

An meinen Shorts ist der Knopf am Hosenbund abgesprungen. Sie werden nur noch vom Gürtel gehalten. Seit Tagen versuche ich, irgendwo eine Sicherheitsnadel (eine Schließgufe) aufzutreiben. Sogar auf einem Sanitätsposten habe ich mich eingefunden, und weil ich das Wort für die Sache nirgends fand, habe ich eine Zeichnung gemacht, worauf sie mir eine Büronadel ausgehändigt haben. Seither hält diese meine Hose zusammen.

In einem Kleidergeschäft nun hier in Rosarno finde ich eine ganz winzige Sicherheitsnadel. Die Preisschilder sind damit an den ausgestellten Stücken befestigt. Ich schaue mich eigentlich nach einem Shirt um und kann mich dann auch zu einem Kauf entschließen, einem rostroten, kurzärmligen Baumwollteil. Bei dieser Gelegenheit markte ich ihr die Nadel ab.

Am Nachmittag schlafe ich auf meinem Zimmer. Dann steige ich noch die letzte, die fünfte Treppe hoch. Mit einem Wellblech ist der Ausgang hinaus auf die Dachterrasse vermacht, nur mit Draht an einer Schraube festgebunden. Ich mache das Ding weg und steige auf das Flachdach hinauf. Die Sicht über die weiten, grünen Plantagenfelder, hinweg über den eigenartigen, steilaufragenden Hügel vor der Stadt und hinaus aufs Meer ist überwältigend. Feste müsste man da oben bauen, nächtliche Tanzpartys, nach der abflauenden Hitze des Tages.

Etwas früher als gestern begebe ich mich wieder hinauf in die Stadt. Vorn an der Kante des Hügels haben sie eine große Terrasse gebaut, die Bella Vista. Ein junger Mann steht am Geländer. Ihn frage ich nach den Namen der Inseln, die man ganz blass am Horizont aus dem Meer ragen sieht. Die gleichmäßige Pyramide sei Stromboli. Und während wir miteinander reden, schaue ich zu, wie die Sonne untergeht. Vor allem möchte ich von ihm wissen, ob es sich beim Landstück linkerhand bereits um Sizilien handelt, was er aber verneint.

Rasch führt das Gespräch auch darauf, was er beruflich mache, und er erzählt mir, dass er ein Ingenieurbüro habe, das sich mit Alternativenergien befasse. Fotovoltaik ist ein großes Thema hier im Süden (während sie in der Schweiz als unbedeutend eingestuft wird, im Gegensatz zu Sonnenkollektoren). Ich erzähle ihm von der in unserer Gemeinde geplanten Biogasanlage und den Heizungen mittels Erdsonde. Hier schneit es nie, sagt er. Das einfallende Sonnenlicht würde, zusammen mit der entsprechenden Isolation, genügen, die Häuser zu heizen.

Nun trifft aber seine Freundin ein, auf die er offenbar hier gewartet hat, und ich ziehe mich zurück.

95 Der Golf von Gioia

Am Morgen zwei Stunden auf der SS18. Um acht bin ich in Gioia. Ein Dom. Ich spiele Flöte. Da kommt tatsächlich einer daher, Sigrist oder dergleichen, und bedeutet mir, damit aufzuhören. Er hat offenbar keine Ahnung, wozu Kirchenräume dienen. Ich streife den Staub von den Schuhen.

In der Nähe des Bahnhofs komme ich an einem offenen Tor vorbei: eine Garage, die Werkstatt eines Schneiders. Er sitzt an seiner mit dem Pedal getretenen Singer-Nähmaschine und arbeitet an einem Kittel. An der Wand hängen fertige schwarze Herrenanzüge.

Ich bleibe stehen. Was wünschen Sie? Ich habe ein Problem, sage ich und zeige ihm meinen Hosenbund mit dem fehlenden Knopf. Können Sie mir da einen Knopf annähen. Da müssen Sie schon Ihre Hose ausziehen, sagt er. Kein Problem, ich habe noch eine andere im Rucksack.

Zunächst aber weist er auf den Besucherstuhl, wo ich mich setzen soll. Er arbeitet weiter und unterhält sich dabei mit einem Passanten, der eine Weile bei ihm stehen geblieben ist.

Jetzt bin ich dran. Ich will mich aus der Hose schälen. Nein, nein, da gibt es Damen auf der Straße. Hinten in der Ecke der Garage befindet sich eine Umkleidekabine, gleich neben dem Bügeltisch.

Der Knopf ist bald angenäht. Wir kommen auf seine bevorstehende Pensionierung zu sprechen, in drei Jahren ist er 65. Mir scheint, ihm ist es hier, hart am Trottoir, im Getriebe der Menschen und selber betriebsam, behaglicher als dannzumal, wenn ihm das Arbeiten untersagt sein wird. Von der Schwarzarbeit sprechen wir. Ein enormes Problem, sagt er. Seine beiden Söhne, 23 und 27, haben beide keine feste Anstellung und sind in der Schwarzarbeit tätig.

Geld will er keins von mir für seinen Dienst. Gute Reise!

Auf Feldwegen gelange ich ans Meer hinunter und folge dann wieder dem Ufer. Einmal ein Flüsschen, der Fiume Retrace. Ich erspare mir einen weiten Umweg, indem ich meine Kleider auf den Rucksack packe, die wichtigsten Dinge in die oberste Tasche versorge und dann das Wasser durchwate. Es ist tiefer als ich angenommen habe und reicht mir fast bis zum Hals, und nur mit Mühe kann ich meine Sachen trocken hinüber bringen.

Es ist ein gewöhnlicher Mittwoch. Die Strandgäste sitzen nicht dicht gedrängt, sondern verteilt im Sand. Mit einem Ehepaar aus Palmi komme ich ins Gespräch. Ihren Zuruf habe ich als Einladung aufgefasst, mich ihnen mit einigen Schritten zu nähern und stehen zu bleiben. Von ihnen höre ich zum zweiten Mal vom Museo nazionale in Reggio Calabria: das müsse ich unbedingt besuchen, vor allem wegen der ‚bronze’.

Wieder frage ich, ob das Landstück, das man linkerhand aus dem Meer aufragen sieht, schon Sizilien sei, was sie mir bestätigen. Wie kann einer wie der Ingenieur von gestern, der hier wohnt und aufgewachsen ist, dies nicht wissen?

Eine Stunde später ist es leider vorbei mit dem Strandspaziergang. Die Felsen steigen senkrecht aus dem Meer auf. Ich kann keine Wege feststellen, die weiter dem Ufer folgen. Ich steige einen Olivenhain hinauf und komme dann auf eine Straße, die nach Palmi hinauf führt. Mitten in der Stadt, auf dem Hauptplatz, der zu einer Terrasse ausgebaut ist, von wo aus der Blick hinaus aufs Meer geht, über die Hausdächer hinweg, stehen hohe Palmen und machen dem Namen der Stadt alle Ehre. Ein Bänklein im Schatten. Siesta.

Über der Stadt thront der Berg Sant’Elia, und dahinter muss gemäß Karte meine SS18 verlaufen. Gibt es auf den Berg hinauf (den ich ohnehin überqueren muss) einen Fußweg? Ich habe es aufgegeben, diese Frage den Vorbeikommenden zu stellen. Denn wer es wüsste, kommt meistens nicht gerade vorbei. Nein, ich vertraue lieber auf meinen sechsten Sinn. Ich steige über ein heruntergerissenes Mäuerchen, ich trampe über Gärtchen, ich folge einem Feldweg, und tatsächlich entdecke ich ein schmales, abzweigendes Fußweglein, das im Zickzack, mit Holzgeländer versehen, den Wald hinauf führt. Immer höher. Bei jeder Biegung ein Blick auf den weiten Wasserspiegel hinab oder hinaus. Eine halbe Stunde später stehe ich auf dem Gipfel, der von der andern Seite mit Autos zu erreichen ist. Die Entdeckung dieses Weges hat mich so beglückt, dass ich wieder bereit bin, zwei Stunden Straße ohne Missmut auf mich zu nehmen.

Meine wichtigsten Wertgegenstände habe ich an zwei Orten versorgt, einerseits im Portmonee, das ich immer in Griffweite habe, anderseits in einem Plasticmäppchen, das ich in einer Innentasche des Rucksacks verwahrt halte. Nun stelle ich plötzlich fest, dass ich dieses Plasticmäppchen nicht mehr habe. Ich packe den ganzen Rucksack aus, drehe alles um, nichts. Was ist dabei: etwas Geld, eine Postomatkarte, die korrigierte Fassung der abc-Geschichten, zwei Fotos, eine davon das Bild von meinen heruntergekommenen Wanderschuhen. Im Weitergehen durchlaufe ich alle Stationen des ganzen Tages. Am Morgen habe ich das Mäppchen noch benützt. Es gibt keine Gelegenheit für einen Dieb. Ich muss es bei einer Rast am Straßenrand auf einem Mäuerchen liegengelassen haben. Wegen der Postomatkarte telefoniere ich sogleich mit Johannes, und er verspricht mir, die Karte sperren zu lassen. Das andere ist verloren. Die 20 Kilometer gehe ich deswegen nicht zurück.

Unterdessen habe ich wieder einmal die SS18 erreicht. Unsichtbar und unhörbar, einige Kilometer entfernt, muss es eine Autobahn geben. Dank ihr ist meine Straße wenig befahren. Der Tag neigt sich dem Abend zu. Das Licht ist nicht mehr gleißend hell, sondern gewinnt eine sanfte Wärme. Die Füße tun ohne Aufbegehren ihren Dienst, und der Kopf bleibt frei für ungezügeltes Schweifen.

Ein Park am Weg, ein Eingangstor, ein Schild. Ich kehre ein, wende mich zwei alten Herren zu, die an einem Tischchen sitzen, und frage, um was es sich bei diesem Anwesen handle. Die beiden sind aus der Gegend gebürtig, wohnen aber in Norditalien (Mailand und Parma) und machen zur Zeit in ihrer alten Heimat Ferien. Das Pärklein ist aus einem Legat entstanden, das ein Gutsbesitzer der Kirche gemacht hat, mit der Auflage, hier für die Jugend einen Begegnungsort zu schaffen. Für mich ist es zu einem Moment der Pause und der kurzen Rekreation geworden, und ich ziehe weiter.

Ich will noch bis Bagnara kommen, einer größeren Ortschaft wieder unten am Meer. Nach einiger Zeit komme ich auf eine Kante hinaus und sehe vor mir die Straße, die in vielen Kehren den Steilhang hinab führt. Unten liegt die Stadt. Gibt es wirklich keine Abkürzung? Muss ich tatsächlich all die Kilometer abschreiten?

Es ist ein aufwendiges Bauwerk, diese Hauptstraße, die vielleicht in den Siebzigerjahren so großzügig ausgebaut worden ist. Und oben am Berghang ist, hoch auf Stelzen, die Autobahn sichtbar, mit der dieses Werk obsolet geworden ist. Wo aber ist nun der alte Weg, den es zu Maultiers Zeiten ganz sicher einmal gegeben haben muss?

Als ich die ersten Häuser erreiche, finde ich einen Treppenweg, der mir noch einige Kehren erspart und abkürzt, und nach und nach komme ich hinunter. Vor der Kirche hat sich viel Volk eingefunden, und im Hinuntersteigen frage ich zwei alte Frauen, was für ein Fest denn da gefeiert worden sei. Morgen, sagen sie, ist Santa Maria Carmine, heute Abend war das Vorfest. Unsere Kirche müssen Sie unbedingt besichtigen.

Im Hotel della Rosa finde ich ein schönes Zimmer, sogar mit Blick aufs Meer hinaus. Wolken sind aufgezogen, schwarz im Abendhimmel liegen sie auf dem Meer. Nachts ein Gewitter.

96 Dem Ziel entgegen

Nach dem Hotelfrühstück hinauf zur Kirche. Großes Gedränge. Ich finde einen einzelnen Sitzplatz. Draußen auf dem Platz besammelt sich die Dorfmusik. Der Kirchenraum edler Barock. Gottesdienst nach einem besonderen Büchlein. Viel Gesang. Nach einer Weile stehe ich auf und schleiche hinaus. Die Blasmusik hat sich bereits auf den Weg durch die Gassen gemacht, hinab in die Stadt, einen Marsch nach dem andern blasend.

Um Viertel vor acht fort vom Hotel, hinaus aus Bagnara. Die Straße folgt nun, neben der Bahnlinie, dem steinigen Ufer. Wenig Verkehr. Einmal steige ich hinab, mache einige Züge im tiefblauen Meer und lasse mich auf den Steinen trocknen. Ich bin ganz allein.

Dann wieder auf die Straße. Der nächste Halt in Scilla. Der Ort steht auf einem Felssporn, aber heute ist diese Skilla mit vielen Kirchenbauten gezähmt. Gegenüber liegt das sizilianische Festland, aber nicht ganz so nah, wie man es sich bei den Schilderungen Homers vorstellen würde.

Noch die letzten sieben Kilometer bis Villa San Giovanni, wo die Fähre hinüber nach Messina abgeht. Dieses Stück unter der prallen Mittagssonne zieht sich in die Länge. Besonders die Wege durch die Stadt von den ersten Häusern bis zum Imbarco wollen nicht enden.

Dann aber bin ich dort. Ich stelle mich vorn an, an der Spitze der Auto- und Lastwagenkolonne, und betrete als erster die heruntergelassene Rampe. Wo löst man das Billet?, frage ich. Kein Billet, gratis, für Fußgänger.

Um Viertel vor eins stößt das Ungetüm ab und bin ich auf Überfahrt. Ich sende allen meinen Familienmitgliedern eine shortmessage: „arrivo! von der fähre nach messina grüßt dich am 96. reisetag, die füße hochgelagert, a.v.“

Nachtrag

Messina hält mich nicht lang. Noch am selben Abend überquere ich das Meer wieder, schräg hinüber nach Reggio Calabria. Hotel Continental. Nachtessen als einziger Gast im großen Hotelrestaurant. Ein Koch nur für mich. Ganz vorzüglich. Der Kellner spricht schweizerdeutsch mit mir.

Anderntags am Vormittag das Museo Nazionale. Die beiden lebensgroßen antiken Bronzefiguren und die zwei Köpfe (Bärtiger Mann und Kopf des Philosophen) lohnen eine Reise. Ich werde mit Verena nochmals vorbeikommen.

Vor einigen Jahren sind diese ‚Bronzen’ von Hobbytauchern auf dem Meeresboden entdeckt worden. Schon in der Antike soll es vorgekommen sein, dass Schiffe untergegangen sind, auch solche, die mit Kunstwerken beladen waren.

Die beiden nackten Krieger hätten große Chancen bei einer Mister-World-Wahl. Jeder Muskel stimmt.

Interessant sind für mich nun auch die in Rosarno vermissten und hier ausgestellten Fundstücke. Der Name Paolo Orsi ist hier unübersehbar.

Am frühen Nachmittag fährt mein Zug, der mich vorerst nach Rom und nach Arezzo bringt. Tags darauf treffe ich Johannes, der mir bis Florenz entgegengereist kommt, und von dort aus gehen wir zusammen während drei Tagen nach Volterra hinauf. Es ist mir gelungen, für uns das Zimmer No. 18 im Hotel Etruria zu reservieren, das Zimmer nämlich auf der Dachterrasse.

Am darauffolgenden Mittwoch komme ich heim und werde von Verena aus dem Hinterhalt (wie sie meint) fotografiert. Der glückliche Heimkehrer. Am Abend kommen Klaus und Conny mit ihrem Valentin. Und am Tag darauf kommen Kaspar und Monika mit Lukas, Darius und Priska.

Zwei Wochen nach meiner Heimkehr kommen Dorothea und Sebastiaan mit ihrer Josephine von London an, und am Sonntag darauf ist das große Familienfest, Josephines Taufe in Wülflingen.